Rassismus als System: Historisch tief verwoben

System zur Privilegierung weißer Menschen: Anders als gelegentlich behauptet gibt es „umgekehrten Rassismus“ logisch und historisch nicht.

Menschen auf einer Demonstration

Antirassistischer Protest der Black-Lives-Matter-Bewegung in Berlin Foto: reuters

Schwarze Menschen und People of Color schreiben über den strukturellen Rassismus, der ihre Familiengeschichten geprägt hat, ihre Lebensläufe formt und ihren Alltag beherrscht. Und dennoch kommen immer wieder – in letzter Zeit verstärkt auch in linken Kreisen und Medien – grundlegende Fragen auf: Was ist Rassismus? Und wie unterscheidet er sich von möglichen Diskriminierungsformen gegen Weiße? Da es diese große Nachfrage nach Begriffsklärungen gibt, folgt an dieser Stelle eine erneute Auseinandersetzung mit den Wörtern Rassismus und Diskriminierung.

Rassismus ist eine Ideologie, die besagt, dass Menschen mit bestimmten äußerlichen Merkmalen weniger wert seien als andere. Rassismus geschieht zugleich ganz konkret, nebenbei, unbewusst, gedankenlos. Ohne nachzudenken, beurteilen wir Menschen nach Name, Muttersprache, Herkunft, (sichtbarer) Religionszugehörigkeit oder Hautfarbe. Moment – wer ist mit diesem „wir“ eigentlich gemeint? Alle Menschen. Niemand ist vor rassistischen Denkmustern gefeit. Denn Rassismus wird erlernt und an die nächste Generation weitergegeben – in Form von Sprache, Kulturpraktiken, Kunst, Berichterstattung oder allgemein über jahrhundertelang gewachsenem „Wissen“. Niemand ist frei von rassistischer Sozialisation. Benachteiligt werden durch sie aber nur all jene, die als Nichtweiße gelesen werden. Das ist gut erforscht.

Ein weiterer wichtiger Aspekt ist der strukturelle Charakter dieses Phänomens. Bei Rassismus geht es durchaus um Mikroaggressionen im Alltag: Schimpfwörter, dumme Witze, Gesten oder schräge Blicke, die nichtweiße Körper stets und überall treffen. Die bittere Realität ist aber auch: mit der „falschen“ Hautfarbe, dem „falschen“ Namen oder der „falschen“ Herkunft oder Religion hat man schlechtere Karten auf dem Wohnungs-, Bildungs-, Arbeits- oder Dating-Markt.

Als nichtweiße Person wird man von der Polizei strukturell anders behandelt. In Anwesenheit der „Hüter*innen des Rechtsstaats“ fühlt man als Schwarzer Mensch oder Person of Color oft nicht etwa in Sicherheit, sondern unsicher, aufbauend auf den Erfahrungswerten, dass man als BPoC durch Polizeibeamt*innen oft mit willkürlicher Gewalt konfrontiert wird. Racial Profiling ist in dieser Hinsicht bloß eine von vielen greifbaren Ausformungen von rassistischen Strukturen, hier in Polizeibehörden.

Unterschiedliche Voraussetzungen

Rassistische Ideologien gipfeln aber auch in menschenfeindlichen Texten, faschistischen Parteien, rechtsextremen Terrorgruppen. Die Basis für diese Gefahr für Leib und Leben nichtweißer Menschen legen aber die weit verbreiteten rassistischen Muster und Vorurteile in unseren Köpfen und Institu­tionen.

Rassismus ist also tief in die Kolonialgeschichte, staatliche Strukturen, Kulturlandschaften oder in die Wirtschaftssysteme weißer Mehrheitsgesellschaften verwoben. Das hat zur Folge, dass Nichtweiße im Vergleich zu Weißen nicht dieselben Voraussetzungen im Leben haben. Antirassismus möchte an dieser Stelle etwas ändern und Gleichberechtigung herstellen. Eine mühsame Aufgabe, die Genera­tionen beschäftigen wird.

Weiße können dagegen diskriminiert werden, aber Rassismus erfahren sie nicht. Ein Beispiel: Eine weiße Frau kann durch den herrschenden Gender-Pay-Gap einen objektiv messbaren Nachteil auf dem Arbeitsmarkt erleben, sie wird dort aber niemals strukturell wegen ihrer Hautfarbe benachteiligt. Anderes Beispiel: Ein schwuler weißer Mann kann Queerfeindlichkeit ausgesetzt sein, egal ob in Deutschland oder in einer anderen Gesellschaft, er wird aber nicht strukturell wegen seiner Hautfarbe unterdrückt. Diese Herangehensweise nennt sich: Intersektionalität. Das ist ein simples Konzept, das versucht, jedes Individuum in all seinen Aspekten zu betrachten: Herkunft, Gender, sexuelle Orientierung, sozialer Status, finanzielle Lage, körperliche und seelische Verfassung, Wohnungssituation oder Obdachlosigkeit, Staatsangehörigkeit – um nur einige relevante Aspekte zu nennen.

Wissen ist Macht

Was ist Rassismus? Warum schreibt man oft „trans“ klein, aber „Schwarz“ groß? Was meinen die Gender Studies genau, wenn sie sagen „Geschlecht ist konstruiert“? Es ist unabdingbar, Grundlagen der kritischen Gesellschaftswissenschaften zu kennen, wenn man über antirassistische und queerfeministische Politiken diskutiert.

Von vorn erklärt

In dieser Reihe mit dem Titel „Zurück zu den Grundlagen“ erscheint ab sofort jede Woche ein erklärender Text zu einem oder mehreren Begriffen aus dem Bereich Feminismus und Antirassismus. Kommende Woche folgt: „Schwarz, weiß, PoC, BPoC“ – antirassistische Bezeichnungen und ihre Hintergründe.

Intersektionalität beschreibt auch die Verschränkung verschiedener Formen von Diskriminierung: Klassismus, Queerfeindlichkeit, Sexismus oder Ableismus. Das bedeutet im Umkehrschluss: Eine von Rassismus betroffene Person kann auch zusätzlich in anderen Kategorien benachteiligt werden. Deswegen ist es so wichtig (vor allem im Journalismus), sich auf Erzählungen und Geschichten einzulassen. Jeder Fall ist einzigartig. Und den von verschiedenen Formen der Benachteiligung betroffenen Menschen zuzuhören hilft, die Hintergründe zur strukturellen Benachteiligung besser zu verstehen. Nur über ein aufmerksames Zuhören kann ein Diskurs funktionieren.

Nun wird von einigen Weißen behauptet, sie hätten – meist im Urlaub – in anderen Ländern mit nichtweißer Mehrheitsbevölkerung negative Vorurteile erlebt. Wurden also aufgrund ihrer weißen Hautfarbe anders gemacht, so wie es Nichtweiße in europäischen oder nordamerikanischen Gesellschaften aus ihrer Lebenserfahrung heraus berichten. Diese Weißen sagen demnach, dass sie von vietnamesischen Gastgeber*innen auf ihre Haarfarbe oder -struktur angesprochen wurden, sie haben vielleicht schlechte Erfahrungen im Anden-Urlaub gemacht, oder ihnen wurde als Ausländer in Kairo ein höherer Preis berechnet – im Taxi oder Restaurant.

Nur: Wenn jemand aus Deutschland all the way nach Ägypten, Vietnam oder Peru fliegt, kann er*sie sich ein paar Cents mehr für ein Mittagessen eben auch leisten. Außerdem fliegt man dorthin mit seinen weißen Privilegien im Rucksack. Eine punktuelle Benachteiligung, zum Beispiel auf der Straße als Tourist*in beschimpft zu werden, ist keine strukturelle Diskriminierung und schon gar kein Rassismus. Diese unangenehme Situation wird spätestens mit dem Boarding zurück nach Frankfurt aufgehoben. Zur Not ruft man als weiße Person die Tourismuspolizei des Landes an und die Täter*innen wandern direkt ins Gefängnis. Neben der Hautfarbe ist hier auch die Passfarbe wichtig. Als EU-Staatsbürger*innen kann man in vielen Gesellschaften des Globalen Südens, besonders in Urlaubsdestinationen, mehr oder weniger machen, was man will.

Die Kehrseite von Rassismus sind also weiße Privilegien. Sie gelten überall auf der Welt. Denn der Kolonialismus und die postkoloniale Weltordnung danach haben eine konstruierte Hautfarbenskala global etabliert: weiß = privilegiert, nichtweiß = weniger oder gar nicht privilegiert. Deswegen versuchen viele Nichtweiße, Weißsein zu performen. Zum Beispiel beim antischwarzen Rassismus in nordafrikanischen Gesellschaften, die sich angesichts Schwarzer Geflüchteter als „weißer“ konstruieren.

Keine Zeitreise

Keine weiße Person kann individuell für diese historisch gewachsene Bevorzugung verantwortlich gemacht werden, strukturell betrachtet braucht es aber einen gesellschaftlichen Diskurs, um ebendiese Privilegien umzuverteilen. Nur so kann Antirassismus funktio­nieren. Diese Erkenntnis ist essenziell, um zu verstehen, warum es Rassismus gegen Weiße historisch und logisch betrachtet nicht geben kann. Das Gegenteil von Rassismus ist nicht „umgekehrter Rassismus“, sondern: weißes Privileg.

Viele Aktivist*innen und Autor*innen of Color haben mit einem Gedankenspiel versucht, die aktuelle Lage für Weiße zu erklären: Rassismus gegen Weiße wäre möglich, aber nur, wenn die Menschheit zurück in die Vergangenheit reisen könnte. Nichtweiße Gesellschaften müssten dann nachhaltig weiße Gesellschaften kolonialisieren, die Ressourcen über Jahrhunderte ausbeuten und ein postkoloniales System eines Süd-Nord-Gefälles hinterlassen, das Finanz- und Migrationsströme zum Vorteil nichtweißer Mehrheitsgesellschaft lenkt. Weil das alles aber bekanntlich anders passiert ist, gelten die – bisher auch in linken Kreisen und Medien breit rezipierten – Erkenntnisse jahrzehntelanger Rassismusforschung und Privilegienkritik.

Mohamed Amjahid ist Autor des Buchs „Unter Weißen: Was es heißt, privilegiert zu sein“, erschienen bei Hanser 2017.

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