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Prozess gegen frühere KZ-SekretärinSie will nichts gewusst haben

In Itzehoe wird die Anklage gegen eine frühere Sekretärin des KZ Stutthof vorgetragen. Am Gerichtsgebäude tauchen auch vereinzelt Rechtsextreme auf.

Sieht keine „persönliche Schuld“: Irmgard Furchner am Dienstag vor Gericht in Itzehoe Foto: Christian Charisius/Pool/reuters

Itzehoe taz | Sie war da. Am Dienstagmorgen nahm Irmgard Furchner, ehemalige Sekretärin des Kommandanten des KZ Stutthof, in der provisorischen Halle des Landgerichts Itzehoe auf der Anklagebank ihren Platz ein. Allerdings saß sie auf einem Krankentransportstuhl. Und erst als die Kameras weg waren, nahm sie ihr Kopftuch ab, sah mit ausdrucksstarkem Gesicht und wachen Augen auf die Prozessbeteiligten.

Zum ersten Gerichtstermin vor knapp drei Wochen war die 96-Jährige zu dem Verfahren wegen Beihilfe zum Mord in 11.380 Fällen zwischen 1943 und 1945 in dem KZ bei Danzig nicht erschienen. Per Taxi und zu Fuß hatte sie einen Fluchtversuch gestartet. Denn, so die Angeklagte in der Vernehmung, sie „habe ein reines Gewissen“ und die Ermittlungen seinen „lächerlich“. In der rechtsextremen Szene wurde die resolute Rentnerin prompt als „Rebellin von Itzehoe“ gefeiert.

Vor dem Gelände des China Logistic Center, wo das Gericht wegen der vielen Verfahrensteilnehmenden tagen muss, tauchten an diesem Verhandlungstag dann tatsächlich vereinzelt Rechtsextreme auf. Einer von ihnen mit Mütze, auf der die „Schwarze Sonne“ prangte – ein Symbol der SS. Trotz massiver Kontrollen durfte der Mann mit der Mütze in Begleitung Gleich­ge­sin­n­ter in die Verhandlung.

In der Halle machte Verteidiger Wolf Molkentin in seiner Eröffnungserklärung deutlich, dass seine Mandantin mit dieser Szene nichts zu tun habe. In Anspielung auf die notorische Holocaust-Leugnerin Ursula Haverbeck, die tief in dem Spektrum verankert sei, betonte er: Frau Furchner sei nicht Frau Haverbeck. Sie leugne nicht die Verbrechen des Nationalsozialismus. Sie sage nur, dass sie trotz ihrer Tätigkeit in der Kommandantur von den „furchtbaren Mordgeschehen“ nicht gewusst hätte, sie erkenne für sich keine „persönliche Schuld“.

Nebenklage wird Statement verweigert

Molkentin wies auch darauf hin, dass Personen, die direkt an den Tötungen beteiligt waren, nicht im selben Maße angeklagt worden waren wie seine Mandantin. Sie werde weder Aussagen noch Fragen beantworten, sagt er für seine Mandantin, die mit einer elektronischen Handfessel da saß – wohl wegen des Fluchtversuches. Das jetzige Verfahren habe „sicherlich eine herausgehobene Bedeutung“, nicht zuletzt für „die Überlebenden, die hier noch einmal Zeugnis ablegen werden“ so der Verteidiger: „Aus Sicht der Angeklagten überwiegt im Moment der Aspekt der Zumutung“.

Staatsanwältin Maxi Wantzen hatte zuvor erklärt, dass die Angeklagte als Stenotypistin und Schreibkraft den Verantwortlichen des Lagers bei der systematischen Tötung von Gefangenen Hilfe geleistet habe. Aufgrund ihrer Tätigkeit sei sie über alle Vorgänge der systematisch praktizierten Mordmethoden „bis ins Detail“ informiert gewesen. Sie habe durch ihre Arbeit „die reibungslose Funktionsfähigkeit des Lagers“ gesichert.

Im KZ Stutthof und den Nebenlagern sowie auf den sogenannten Todesmärschen starben nach Angaben der für die Aufklärung von NS-Verbrechen zuständigen Zentralstelle in Ludwigsburg etwa 65.000 Menschen.

Am Ende des Verhandlungstages führte der Wunsch des Rechtsanwalts Onur Özata, der drei Holocaust-Überlebende als Nebenkläger vertritt, ebenfalls ein Eröffnungsstatement halten zu wollen, zum Eklat. Der vorsitzende Richter wehrte das Begehren ab, das bei vorherigen Verfahren zu Verbrechen des Nationalsozialismus zugelassen wurde.

Mehmet Daimagüler, weiterer Nebenklagevertreter, polterte, dass dem Gericht die historische Bedeutung nicht bewusst sei, es ginge nicht um Verkehrsdelikte. Für das Verfahren sind Verhandlungstermine bis ins kommende Jahr geplant.

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19 Kommentare

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  • "Sie habe durch ihre Arbeit „die reibungslose Funktionsfähigkeit des Lagers“ gesichert." Gesichert? Das ist vielleicht etwas weit hergeholt. Den Mördern war es bestimmt einerlei ob die Schreibstube besetzt war oder nicht. Mit dazubeigetragen hat sie.



    Die Aussage, dass sie nichts davon mitbekommen hätte ist allerdings auch sehr weit hergeholt. So ignorant kann niemand in unmittelbarer Nähe zum Geschehen gewesen sein.

  • Ohne jegliche Anwandlung zur Relativierung von Schuld wird man wohl zu dem Schluss kommen müssen, dass die Haltung zur Verleugnung nur aus den speziellen Umständen der Biografie ausreichend erklärbar werden kann, wenn sie auch nicht entschuldbar werden darf. Zum Thema der Prokrastination der bundesdeutschen Justiz und zur mangelnden Aufklärung durch Recherche oder per Amtshilfeersuchen, z.B. in Ostberlin etc., gibt es genügend Beiträge von Historiker:innen. Der entscheidende Punkt wird sein: Warum das Offensichtliche nicht erkennen können? Waren 12 Jahre Nazi-Terror ausreichend für eine irreversible Gehirnwäsche? Für die Erklärung der verspäteten Anklagen sind die Strafverfolgungsbehörden verantwortlich. Wer über die verbrecherischen Drahtzieher:innen mehr wissen will, lese die Nürnberger Protokolle oder bei Dörner, Mitscherlich u.v.m. NIE WIEDER!!! Das ist der Auftrag für uns, die glücklicheren Nachgeborenen.

  • Mich interessieren an diesem Prozess Umstände, die ich bisher in den Medien nicht erfahre: wie kam die Angeklagte zu dieser Arbeit?

    Hätte sie, gesetzt den Fall, sie hätte sich angesichts der Verbrechen, die sie bezeugte, ihre Stelle kündigen können?

    Vielleicht sind meine Fragen naiv, aber es würde mich interessieren, wie speziell in diesem hochgradig verbrecherischen, todbringenden System zwischen 43 und 45 in einem Konzentrationslager man sich ohne Gefährdung der eigenen Person aus dieser Stelle hätte herausmanövrieren können, so man dies gewollt hätte.

    Vielleicht gibt es hier HistorikerInnen, die mir die Frage beantworten können.

    Danke.

  • Warum erst jetzt?



    Seit Jahrzehnten weiß man, wer wo in welchem KZ gearbeitet hat, Jahrzehnte hat man sie nicht angeklagt, warum eigentlich?

  • Man muss bedenken, dass die damals junge Frau nach alter Rechtsauffassung noch nicht einmal volljährig war. Das entbindet natürlich nicht von der moralischen Pflicht, ehrlich beantworten zu müssen, ob und was sie während ihrer Arbeit in der Kommandantur des KZ gesehen, erlebt und gelesen haben muss: Sie war zu einem früheren Zeitpunkt Zeugin in einem Prozess gegen KZ-Verbrecher.



    Fraglich ist, wie man jetzt, in diesem Jahrzehnt noch eine Schuld feststellen will. Ich bezweifle ernsthaft, dass ein Urteil für die Angehörigen von Opfern und Überlebenden noch den Rechtsfrieden bringen kann, den sie verdient hätten: Da hat die Nachkriegsjustiz definitiv fast auf ganzer Linie versagt, weil der Apparat von NS-"Juristen" beherrscht wurde, die die Strafverfolgung hintertrieben haben. Der verspätete Prozess wird eher wieder das moralische Versagen der früheren Justiz dokumentieren.

    • @denkmalmeckermalmensch:

      Die Versäumnisse der Vergangenheit wiedergutzumachen, ist sicher nicht möglich. Immerhin aber kann die Justiz von HEUTE demonstrieren, dass sie NICHT vergisst, NICHT sagt "Schwamm drüber, jetzt ist auch mal gut.". Ich würde meinen, dass das die beste Einstellung ist, die der Staat heute an den Tag legen kann.

      Heute auch die Augen zuschließen, nur weil es die Tätergeneration vor 50 Jahren getan hat, ist dagegen der falsche Weg. Und ja - warum NICHT das moralische Versagen der früheren Justiz dokumentieren? Dieses Versagen gehört irgendwo auch zum Verbrechen - in dem Fall gegen die Überlebenden und auch gegen die möglichen Opfer zukünftiger Untaten.

    • @denkmalmeckermalmensch:

      Tatsächlich. Die Angeklage wurde 1925 geboren.

      Bin gespannt, ob letztlich eine 96 Jährige zu Jugendstrafe verurteilt wird.

      Auf der anderen Seite galt damals das Alter von 14 als Grenze zur Strafmündigkeit.

      Vermutlich wird es darauf hinauslaufen so lange zu verhandeln bis der Prozess durch natürliche Umstände endet.

  • Prinzipiell ist die Anklage richtig und auch konsequent. Besser spät als nie.

    Allerdings empfinde ich die Berichterstattung über den Prozess insgesamt als selbstgerecht und unreflektiert. Damit ist nicht die taz gemeint, sondern die Gesamtheit der Medien. Beipiel DLF: die Polizei habe die 96 jährige Angklagte "gefasst": aha, hat ein Sondereinsatzkomando die Seniorin in ihrem Fluchtwagen gestellt, hat sie Widerstand geleistet?

    Aber das ist nur Nebensache. Störender finde ich die fehlende Zuordnung der Täterin zu ihrer Altersgruppe und/oder ihrer sozialen Schicht. Zum Kriegsende war die Angeklagte 20 oder 21 Jahre alt, also zum Tatzeitpunkt auch nach heutigem Recht noch eine "Heranwachsende". Das entschuldigt nichts. Aber wie auch schon von anderen Kommentatoren angemerkt: die wirklich verantwortlichen Täter entstammten einer anderen Altersguppe und gesellschaftlichen Schicht, haben in der BRD in Justiz, Politik usw. Karriere gemacht und wurden faktisch nie belangt.

    Meinen Letzten Punkt kann man als Veschwörungstheorie abtun, aber so empfinde ich das: indem jetzt "die kleinen Leute" anklagt werden, können die für den Aufstieg der Nationalsozialisten in der Hauptsache verantwortlichen Gesellschaftsschichten - nämlich Industrielle, Bürgerliche, Militär, Adel und Kirchen - wunderbar von Ihrem Versagen ablenken und auf die willfährige Masse der kleinen Leute zeigen, die allein für das ganze deutsche Elend verantwortlich sei.

    • @Newjoerg:

      Grundsätzlich richtig. Die eigentlich Verantwortlichen allerding, hat längst das Zeitliche ereilt. Und ja, leider ohne vorherigen Prozess - dafür haben derengleichen schon gesorgt.

  • Der Anwalt der Frau hat Recht. Menschen, die viel mehr schuld hatten und viel mehr Macht hatten an dem Verbrechen wurden freigesprochen und durften weiter schalten und walten.

    Ja es ist richtig dass man sie anklagt. Aber dann müssen auch alle anderen angeklagt werden. Recht muss für alle gelten. Und dass sie nun angeklagt wird und viele Menschen nicht, weil diese Macht und Geld hatten ist weder gerecht noch richtig, noch hilft es die Demokratie zu stärken und den Opfern zu helfen.

    • @curiouscat:

      Ich denke nicht, dass es an diesem Willen - heute noch - mangelt oder Macht und Geld vor Strafe schützen. Für die meisten Täter ist der Zug schlicht abgefahren: Viele Spuren sind kalt, und vor allem kann man keine Toten vor Gericht stellen.

    • @curiouscat:

      Es gibt hier einen Fehler im Justizsystem, das haben Sie gut erkannt. Der Fehler ist aber nicht, dass jetzt diese Frau angeklagt wird, sondern, dass damals nicht alle angeklagt und entsprechend ihrer Verantwortlichkeiten verurteilt wurden. Ihre Argumentation sagt im Prinzip nichts anderes als, wenn man einen Mörder davonkommen lässt, darf man niemals mehr jemanden wegen Mordes verurteilen. Das ist Quatsch und das wissen Sie auch.

    • @curiouscat:

      Ja es ist richtig dass man sie anklagt. Aber dann müssen auch alle anderen angeklagt werden. Recht muss für alle gelten.

      'alle anderen' sind weit überwiegend bereits tot und können wohl - zumindest juristisch - nun nicht mehr angeklagt werden.

    • @curiouscat:

      Ich denke, das sehen die Opfer anders.

      Bei dem Prozess gegen den 100-jährigen ehemaligen SS-Wachmann sagte ein überlebender Nebenkläger:

      "Ich habe 80 Jahre auf diesen Moment gewartet."

      Das ist, was zählt.

      Die Frau hatte ein langes Leben, die 11.380 Opfer hatten das nicht.

      • @Jim Hawkins:

        Das ist eben genau nicht das, was zählt. Wir haben hier schließlich keine Rachejustiz.



        Vielmehr zählt, dass diese Zeit inkl. aller Verbrechen wissenschaftlich aufgearbeitet und öffentlich dokumentiert wird, das alle Schuldigen namentlich benannt werden, auch die, die man mit Tricks und Kniffen freisprach.



        Denn nur dass kann ein Veranwortungsgefühl fördern, nicht die Anklage von damals sehr jungen Helfershelfern.

        • @Ber.lin.er:

          Dann formuliere ich es anders:

          Das ist es, was für die Opfer zählt. Und für mich auch.

          Sie haben dann eben Ihren Rechtsstaat.

      • @Jim Hawkins:

        Ein SS-Wachmann ist wohl dennoch nicht eins zu eins mit einer Sekräterin zu vergleichen.



        In die SS zu kommen setzte die entsprechende Ideologie voraus und den aktiven Willen; Teil dieser Todestruppe sein zu wollen.



        Ich wüsste gerne mehr darüber, wie KZs ihr eher weniger einflussreiches Personal rekrutierten.

      • @Jim Hawkins:

        Ist doch Blödsinn,

        so Leute konnten nichts ändern, selbst wenn sie was gewusst hätten.

        Wen klagen wir noch an? Hausmeister, Koch, den Kohlehändler, den Holzhändler?

        Außerdem ist es wohlfeil heute zu urteilen. Die die da richten hätten in der damaligen Situation um sich und die eigene Familie zu schützen vielleicht auch im Sinne der Machthaber "Recht" gesprochen, oder Todeslisten abgestempelt.

        Welches Recht haben WIR denn über Menschen zu urteilen die nur versucht haben selbst zu überleben?