Nach Wahl durch AfD in Thüringen: Sind wir erfolgreich geimpft?
Die Thüringer AfD hat der Republik ungewollt einen Dienst erwiesen. Sie hat die Schwächen von CDU und FDP offengelegt.
N icht zu Unrecht stehen medizinische Metaphern im Bereich der Politik im Verdacht, einer simplifizierenden, reaktionären Sicht Vorschub zu leisten. Gleichwohl – dafür ist die durch das Coronavirus geschaffene Atmosphäre ein Anlass – sei ein Vergleich dieser Art gewagt. Seit dem 19. Jahrhundert fanden Ärzte in Europa und den USA heraus, dass die künstliche Infektion gesunder Menschen mit kleinsten Dosen von Erregern deren Abwehrkräfte so weit aktivierte, dass sie sich entweder überhaupt nicht mehr infizierten oder allenfalls leichte Krankheitsverläufe zeigten – zu nennen sind hier in erster Linie Louis Pasteur und Robert Koch.
So sei es gewagt, die Gesellschaft des wiedervereinigten Deutschland, zumal – keineswegs nur – der östlichen Bundesländer, mit einem von Krankheit, dem Erreger AfD, befallenen Organismus gleichzusetzen. Bisher sind derlei Infektionen nicht tödlich verlaufen, die Vorgänge in Thüringen gaben allerdings Anlass zur Besorgnis: Tatsächlich hat sich mit der – nur durch die AfD möglichen – Wahl des politischen Nobody Kemmerich ein politischer Dammbruch ereignet.
Die Erfurter Geschehnisse sind – wie der Historiker Michael Wildt betont – nicht mit dem Anfang vom Ende der Weimarer Republik gleichzusetzen; gleichwohl werden die nächsten Monate zeigen, ob auch hier das Marx’sche Diktum zutrifft, dass historische Ereignisse zweimal auftreten: das erste Mal als Tragödie, das zweite Mal als Farce.
Zudem sei an eine andere Einsicht von Marx erinnert: an die grundlegende Zweideutigkeit dessen, was als „bürgerlich“ gilt: „Bürger“, das können sowohl politisch motivierte, an gerechter und demokratischer Gestaltung ihres Gemeinwesens interessierte Personen sein – „Citoyens“ – oder vor allem an der Wahrung ihres Besitzes interessierte Eigentümer: „Bourgeois“.
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Im (politischen) Liberalismus Deutschlands drückte sich diese Janusköpfigkeit seit je aus: etwa in den zwei „liberalen“ Parteien der Weimarer Republik, der nationalliberalen Deutschen Volkspartei (DVP) sowie der zunächst „linksliberalen“ Deutschen Demokratischen Partei (DDP), die 1933 als nach rechts gewendete „Deutsche Staatspartei“ die Republik mit der Zustimmung zum „Ermächtigungsgesetz“ Hitler auslieferte. Der spätere Bundespräsident Theodor Heuss war dabei.
Zu viel Ehre für Höcke
Womöglich tut man dem faschistischen Politiker Höcke zu viel Ehre an, wenn man ihn mit Goethes „Mephistopheles“ vergleicht, jener teuflischen Gestalt aus dem „Faust“, die von sich sagt, sie sei „ein Teil von jener Kraft, die stets das Böse will und stets das Gute schafft.“: Indes: Die Thüringer AfD hat mit geradezu diabolischer Schläue die Neigungen und Schwächen der „bürgerlichen“ CDU und FDP erkannt, sie bewusst ins offene Messer rennen lassen und sich dessen vor laufenden Kameras mit offener Schadenfreude gerühmt. Damit hat die Thüringer AfD der Republik ungewollt einen Dienst erwiesen: Hat sie doch die Schwächen von CDU und FDP offengelegt. So viel – um mit Hegel zu sprechen – zur „List der Vernunft“ in dieser Sache.
Doch zurück zur Metapher des Impfens. Der Erfolg des Impfens resultiert aus einem Lernen des leicht infizierten Organismus – die Frage ist jetzt, ob und was die „bürgerlichen“ Parteien CDU/CSU und FDP aus Erfurt lernen. Haben sie nicht nur wahrgenommen, sondern auch eingesehen, dass die von Faschisten wie Höcke und Kalbitz übernommene AfD vor dem Hintergrund der deutschen Geschichte und der europäischen Gegenwart unter keinen Umständen Teil eines „bürgerlichen“ Lagers sein darf?
Erst nach den Kommunalwahlen in Bayern sowie der Bürgerschaftswahl in Hamburg, ja sogar erst nach der nächsten Bundestagswahl wird sich erweisen, ob die Wahl von Kemmerich der Beginn einer lange andauernden, schleichenden Infektion oder eine erfolgreiche Impfung gewesen ist – genauer: ob längst überfällige politische Lernprozesse stattgefunden haben.
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