Nach Taten in München und Aschaffenburg: Sicherheit, aber menschlich
Sicherheitsthemen dominieren den Wahlkampf. Die vielbeschworene Wende in der Migrationspolitik dürfte nicht helfen – erfolgversprechend sind andere Ansätze.
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Psychologische Betreuung verbessern
Bei den Tatverdächtigen aus Magdeburg und Aschaffenburg gibt es Hinweise auf schwere psychische Erkrankungen. Auch zeigen Studien, dass Menschen, die wie der Tatverdächtige aus Aschaffenburg an paranoider Schizophrenie leiden, öfter gewalttätig werden als psychisch gesunde. Um zu helfen, muss die psychologische und psychiatrische Versorgung in Deutschland verbessert werden.
Das fordern auch 70 Psychiater*innen in einem offenen Brief an CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz. Es fehle an Kontinuität, sagt der Initiator des Briefes Thomas Bock, Psychologe und Vorstand im Verein „irre menschlich“. „Wenn die psychiatrischen Hilfsangebote aber von immer neuen Kürzungen betroffen sind, entsteht eine unmögliche Situation.“ Bock betont gleichzeitig, dass psychisch Kranke genauso wenig pauschal zu Straftätern erklärt werden dürfen wie Menschen mit Migrationserfahrung. „Die Wahrscheinlichkeit, mit einer Psychose Opfer zu werden, ist ungleich größer, als Täter zu werden.“
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Für falsch hält Bock auch, Gesetze zu verschärfen, wie es die Ministerpräsidenten der Länder ankündigten. „Wenn jemand psychisch krank und selbst- oder fremdgefährdend ist, dann gibt es längst die rechtlichen Möglichkeiten, diese Person zwangseinzuweisen.“ Auch für den Täter von Aschaffenburg wäre das möglich gewesen. Er hatte zuvor mehrmals versucht, sich Hilfe zu holen, sei aber nach kurzer Zeit immer wieder aus Psychiatrien entlassen worden.
Lebensbedingungen von Geflüchteten verbessern
Im Moment übt das deutsche Asylsystem gewaltigen Druck auf die Menschen aus, die ohnehin oft schon traumatisiert sind. Bis zu 30 Prozent haben eine posttraumatische Belastungsstörung oder Depressionen. Das führt keinesfalls direkt zu Gewalt. Aber in Einzelfällen kann zusätzlicher Stress wohl die Chance erhöhen, dass jemand doch auffällig wird.
Eines der Kernprobleme ist die Unterbringung. David Schiefer vom Deutschen Zentrum für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM) sagt: „Gemeinschaftsunterkünfte bedeuten für die Bewohner*innen regelmäßig massiven Stress, der psychisch krank machen kann und die Menschen destabilisiert.“ Dagegen ließe sich angehen, indem Geflüchtete in Wohnungen untergebracht werden.
Auch die verbliebenen Arbeitsverbote für Geflüchtete sollten abgeschafft werden, um Integration zu fördern. Helfen könnte es zudem, Asylverfahren zu beschleunigen, denn jahrelanges Warten zermürbt.
Nötig sind auch mehr sozialarbeiterische und psychologische Angebote. Die Ampel tat das Gegenteil. Asylsuchende erhalten inzwischen erst nach drei Jahren freien Zugang zum Gesundheitssystem über eine Notversorgung hinaus. Und die psychosozialen Zentren, die einspringen, bekamen zuletzt weniger Geld, 2025 droht eine weitere Kürzung um bis zu 50 Prozent.
Islamismus bekämpfen
Ein islamistisches Motiv spielte offenbar in Mannheim, Solingen und München eine Rolle, doch radikalisiert haben sich die Tatverdächtigen wohl erst nach der Einreise. Das zeigt, wie wichtig Präventionsarbeit in Deutschland ist. Dabei geht es nicht nur darum, zu verhindern, dass sich anfällige Menschen radikalisieren, sondern auch darum, Aussteiger*innen zu helfen. „Wir sind nicht machtlos“, sagt Jamuna Oehlmann, Geschäftsführerin der Bundesarbeitsgemeinschaft religiös begründeter Extremismus. Mithilfe von Beratungsangeboten gelinge es meist sehr gut, Radikalisierungsprozesse zu unterbrechen. Statistiken gibt es dazu aber nicht.
Schwierig wird es, wenn sich Personen unbemerkt von ihrem sozialen Umfeld radikalisieren und auch die Behörden es nicht mitbekommen – so wie wohl in München, Mannheim und Solingen geschehen. In solchen Fällen spielt das Internet oft eine wichtige Rolle.
Hier sieht Oehlmann eine große Lücke in Deutschland: „Die Politik hat gerade Tiktok lange als Plattform zum Singen und Tanzen verharmlost.“ Gegen die Islamisten dort brauche es „kreative Gegenangebote, die junge Menschen ansprechen, ihnen Orientierung bieten und extremistische Narrative entlarven“.
Sicherheitsbehörden an den richtigen Stellen stärken
Zuletzt haben die Behörden teils versagt: Mit dem Tatverdächtigen von Magdeburg beschäftigten sich die Behörden über 100 Mal, ausländische Geheimdienste wiesen mehrmals auf sein Gefahrenpotential hin. Der Tatverdächtige von Aschaffenburg war bereits mit einer Gewalttat aufgefallen. Und in München waren Polizisten sogar direkt vor Ort, ohne dass sie die Tat verhindern konnten.
Helfen könnte ein koordinierterer Umgang mit Daten: Die Infos, die verschiedene Ämter haben, müssen besser zusammengeführt werden. Ein erster Schritt wäre wohl schon, dass die Landesbehörden einheitliche Datenverarbeitungsprogramme nutzen. Der Kriminologe Manuel Heinemann spricht sich zudem für Gewaltschutzzentren aus, die eine niedrigschwellige Möglichkeit für die Bevölkerung bieten, auf Gefahrenquellen hinzuweisen.
Vincenz Leuschner, ebenfalls Kriminologe, schlägt vor, kontinuierliche Bedrohungsanalysen auszuweiten. „Man muss die Entwicklung potenziell gefährlicher Personen strukturierter bewerten“, sagt Leuschner. Bislang passiere das nur bei wenigen, als Gefährder eingestuften Personen mit islamistischem oder rechtsextremem Hintergrund. Das Verfahren könne auch auf Personen ausgeweitet werden, die nicht so klar einzuordnen sind.
Heikel ist die Frage nach mehr elektronischer Überwachung. Gelingt es deutschen Behörden, Anschläge zu verhindern, liegt das bislang fast immer daran, dass sie von US-Geheimdiensten gewarnt werden. Diese überwachen das Internet weiträumig. Die Idee, deutschen Behörden derartige Befugnisse zu geben, sieht Leuschner aber kritisch. Zu groß seien die Risiken für den Datenschutz, zu gering der Nutzen.
Die Debatte abkühlen und Vorfälle einordnen
Als 2019 eine Frau von ihrem deutschen Nachbarn in Lörrach erstochen wurde, verschwand die Nachricht schnell wieder aus den Schlagzeilen. Der tödliche Angriff eines 28-jährigen Asylsuchenden auf seine Freundin in Worms wurde dagegen hundertfach aufgegriffen.
Wie die Bevölkerung die Sicherheitslage wahrnehme, sei deshalb stark von der Berichterstattung abhängig, sagt der Medienwissenschaftler Thomas Hestermann. Den Redaktionen empfiehlt er mehr Achtsamkeit in der Gewaltberichterstattung. Es sei keine Relativierung, so Hestermann, „wenn Medien über Gewalt berichten, und dabei auch zeigen, wie sehr die eine Tat beleuchtet wird, während die andere im Dunkeln bleibt“.
Wie über Kriminalität, Amok und Terror berichtet, gesprochen und geschrieben wird, wirkt sich indirekt auch auf die Sicherheitslage aus. Psychiater:innen, Extremismusforscher:innen und Sicherheitsexpert:innen betonten gegenüber der taz, wie kontraproduktiv die derzeitige Debatte sei. So bedeuteten Abschiebungsforderungen für Asylsuchende eine zusätzliche psychische Belastung. Anti-muslimischer Rassismus lieferte Islamisten neues Material für ihre Propaganda. Und psychisch Kranke suchten sich seltener Hilfe, wenn sie fürchten müssen, nur als Sicherheitsrisiko gesehen zu werden.
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