Nach Äußerung von Alexander Dobrindt: Das ist die Anti-Abschiebe-Industrie
Der CSU-Landesgruppenchef verunglimpft Menschen, die sich für die Interessen von Geflüchteten einsetzen. Die taz hat mit Helfenden gesprochen. Vier Protokolle.
Alexander Dobrindt spricht von einer „unsäglichen Allianz von Zwangsideologen und Partikularinteressen“, die angeblich versucht, den Rechtsstaat zu sabotieren und Abschiebungen zu verhindern. Jetzt antworten die Beschuldigten.
Die Anwältin
Morgens um sechs Uhr schaue ich auf mein Telefon und bin schlagartig wach: Einer meiner Mandanten, ein Syrer in Witzenhausen, soll nach Bulgarien abgeschoben werden. Zu dem Zeitpunkt sitzt er schon mit Handschellen gefesselt in einem Polizeiwagen, auf dem Weg zum Flughafen nach Frankfurt. Dass ich informiert wurde, verdanke ich ein paar Aktivisten. Sie haben nachts von der Abschiebung erfahren, haben die Polizei für ein paar Stunden aufgehalten, und einen Kollegen angerufen, der mich informiert hat. Mein Mandant durfte nicht mit mir telefonieren.
Eigentlich hat mein Mandant schon vor einem Jahr ein Eilverfahren gegen seine Abschiebung gewonnen. Das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge muss einen Fehler gemacht haben.
Ich weiß also, dass die Abschiebung nicht rechtmäßig ist, aber ich habe nur noch zwei oder drei Stunden Zeit, um sie zu stoppen. Ich reiche einen Eilantrag bei Gericht ein und rufe bei der Ausländerbehörde an.
Die Aktivisten in Witzenhausen hatten in der Nacht versucht, die Polizei von der Abschiebung abzuhalten. Sie zeigten ihnen den Beschluss des Gerichts, aber das half nichts. Stattdessen wurden sie von den Polizisten geschlagen und mit Pfefferspray attackiert, mehrere von ihnen klagen jetzt gegen die Polizei. Aber ihr Einsatz verschaffte mir Zeit.
„Glauben Sie wirklich, wir schieben jemanden ab, der nicht abgeschoben werden darf?“, fragt mich ein Sachbearbeiter am Telefon. Als ich ihn bitte, die Akte noch mal zu prüfen, lenkt er ein. Das Polizeiauto auf der Autobahn dreht um. Nach Hause bringen sie meinen Mandanten nicht, sie werfen ihn in der nächsten Stadt raus.
Ich bin Anwältin in Göttingen und habe mich auf Asylrecht spezialisiert. Was Herr Dobrindt über die Anti-Abschiebeindustrie sagt, ist absurd. Es kommt jetzt immer häufiger vor, dass ich mich rechtfertigen muss für das, was ich tue. Aber dafür habe ich doch Jura studiert!
Als Vorsitzende des Flüchtlingsrats in Niedersachsen habe ich früher schon Mails mit Anfeindungen erhalten. Seit über den Vorfall in Witzenhausen in der Zeitung berichtet wurde, bekomme ich Mails voller Beleidigungen über mich als Anwältin. Das hat es vor ein paar Jahren noch nicht gegeben. Früher wurde ich auf Vorträge eingeladen, viele Menschen fanden es toll, dass sich Anwälte für Flüchtlinge einsetzen. Ich habe immer gesagt, dass die Stimmung auch wieder kippen wird. Jetzt ist es so weit. Und Dobrindt trägt mit seinen Äußerungen eine Mitschuld.
Kein Mensch bereichert sich an Asylverfahren. Ich frage mich eher, ob ich meinen Beruf in zehn Jahren noch ausüben kann, ob es nach den vielen Gesetzesverschärfungen dann überhaupt noch Flüchtlinge in Deutschland gibt.
Ich bekomme von meinen Mandanten im Regelfall 50 Euro im Monat, wenn sie überhaupt zahlen können. Ich muss ständig darum bitten und nachfragen. Mehr bekomme ich, wenn ich den Fall gewinne. Das ist ganz normal: Der Verlierer trägt die Kosten des Verfahrens. Wenn sich Dobrindt nun aufregt, dass viele Flüchtlinge gegen ihre Bescheide klagen, muss ich sagen: Dann darf das BAMF nicht so viele Fehler machen! Auch für die Flüchtlinge ist es nicht einfach, dass sie oft ein Jahr auf eine Entscheidung warten müssen, weil die Gerichte überlastet sind.
Heute war ich zum Beispiel vor Gericht in Bayern. Meine Mandantin wurde in ihrem Heimatland vergewaltigt, das BAMF schrieb in ihre Akte, dass sie noch mal von einer speziell geschulten Person vernommen werden soll. Doch dann hat das Amt die Akte plötzlich zur Entscheidung vorgezogen und den Asylantrag abgelehnt. Die Richterin hat meiner Mandantin heute geglaubt. Das BAMF ist noch nicht mal vor Gericht erschienen.
Claire Deery, 35, ist Rechtsanwältin in Göttingen.
***
Der Unternehmer
Wir bieten Softwaresysteme für Firmen an. Und haben richtig Probleme, Mitarbeiter zu finden. Der Leiter einer Schule hier hat mich angesprochen, wir hatten immer einen engen Draht, er weiß, dass ich mich oft um Menschen kümmere, denen es nicht so gut geht. Er meinte: Mensch, ich habe hier einen jungen Mann aus Afrika, toller Fußballer und megaintelligent, der studiert Mathematik, aber wahrscheinlich muss er Deutschland verlassen – es sei denn, er bekommt irgendwo einen Arbeitsplatz.
Dann habe ich Bello Saibu – so heißt der Mann aus Nigeria – kennnengelernt. Natürlich war der völlig verschüchtert, der hatte Angst, das hat man gemerkt. Er war es nicht gewöhnt, dass da ein Unternehmer sitzt und mit ihm auf Augenhöhe quatscht.
Das war vor eineinhalb Jahren, Bello war damals 21. Er hat mir erzählt, was er so vor hat, dass er unbedingt weiter studieren möchte, und dann haben wir uns schnell darauf geeinigt, dass er mal probearbeiten soll. Er brauchte relativ schnell eine Bescheinigung, sonst hätte er seinen Aufenthaltsstatus verloren. Nach 14 Tagen habe ich ihm eine geschrieben. Da stand drin, dass er jetzt bei uns einen festen Arbeitsplatz hat. Und so durfte Bello in Deutschland bleiben.
Das ist ein abgefucktes Wort, aber es war eine Win-win-Situation. Für ihn war das natürlich gut, weil er hier bleiben konnte, und wir haben einen tollen Mitarbeiter gefunden. Er sitzt bei uns in der Informatik und betankt Rechner mit Programmen. Er ist ungefähr 20 Stunden pro Woche bei uns, weil er ja auch noch eifrig in die Uni geht. Bello war sofort einsetzbar, hochmotiviert, einfach Weltklasse. Ich bin also nicht der Samariter. Das sind einfach Potenziale, die muss man nutzen. Für alle Parteien, für die ganze Gesellschaft wäre es doch besser, wenn diese Leute beschäftigt würden. Der Schulleiter hat zum Glück die Behördengänge für uns gemacht, er war auch bei einer Anhörung vor einem Petitionsausschuss.
Der bürokratische Aufwand macht einem das Leben schwer. Das müsste man vereinfachen, finde ich. Darüber sollte Herr Dobrindt mal nachdenken! Dann müsste man die Leute nicht abschieben, sondern könnte sie leicht integrieren. Wir haben was davon, wir Unternehmer und wir als Gesellschaft. Von einer Anti-Abschiebe-Industrie zu sprechen finde ich absolut frech.
Das politische Gequatsche geht mir ohnehin fürchterlich auf die Nerven. Pauschale Aussagen finde ich in beide Richtungen unerträglich: Man kann nicht sagen, alle Migranten bereichern unseren Arbeitsmarkt – das ist unfair ihnen gegenüber, weil: Die meisten Arbeitgeber engagieren sich nicht und kümmern sich nicht darum, die Leute auszubilden. Genauso falsch ist es, zu behaupten, wir hätten eine Anti-Abschiebe-Industrie. Zu viele Leute quatschen immer nur und schreiben irgendwelche Programme, anstatt selbst anzupacken und was zu leisten. Man kann vieles pragmatisch lösen und das habe ich versucht.
Ich habe mich für einen Menschen eingesetzt. Ich habe jemanden kennengelernt, der Potenziale hat und nicht das große Glück wie ich, in einem behüteten Elternhaus im Dortmunder Süden groß zu werden. Der Schreckliches erlebt hat. Ich finde, dass man Menschen eine Chance geben sollte und wenn Herr Dobrindt mit der Anti-Abschiebe-Industrie mich meint – dann fällt es mir schwer, für Herrn Dobrindt die richtigen Worte zu finden.
Wenn man den Arbeitsmarkt anschaut: Wir Dortmunder Unternehmer, wir brauchen Leute, vor allem im IT-Bereich. Ich könnte jetzt sofort sechs Leute einstellen. Wir können Aufträge nicht annehmen, weil uns die Leute fehlen. Das ist Wahnsinn. Ich habe dem Schulleiter heute gesagt: Wenn noch mal so was ist, bin ich sofort wieder da.
Andreas Heiermann, 54, leitet ein IT-Unternehmen in Dortmund.
***
Der Mönch
Bei uns im Kloster Nütschau leben aktuell elf Menschen im Kirchenasyl. Wir haben das Problem, dass viel mehr Menschen nach Kirchenasyl suchen, als wir aufnehmen können. Manchmal hält ein Auto vor dem Kloster, wirft ein paar Menschen raus und fährt wieder weg. Es tut mir weh, Menschen abweisen zu müssen, weil ich immer denke: Es kann auch der Herr selbst sein, der gerade bei uns am Tor klopft.
Das Kirchenasyl steht immer am Ende eines langen Weges, es ist die Ultima Ratio. Es ist viel Papierkram und Bürokratie notwendig, damit wir Menschen Kirchenasyl gewähren können. Wir müssen ein Dossier erstellen, dazu lassen wir die Flüchtlinge ihre Geschichte erzählen und fragen sie nach Dokumenten und ärztlichen Gutachten.
Das Dossier muss begründen, dass es sich um einen Härtefall handelt. Wir schicken es an das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge, das dann entscheidet. Wir haben aber hier in Schleswig-Holstein ein gutes Verhältnis zu den Behörden. Ein Härtefall ist zum Beispiel eine irakische alleinerziehende Mutter mit ihren drei Kindern, die nach Polen abgeschoben werden soll. Sie hat dort schrecklichste Dinge erlebt und Erfahrungen gemacht, die sie noch immer sehr belasten. Dort ist die Situation gerade für Flüchtlinge sehr schwierig, weil sich auch die Kirche verschließt, was mir als Christ sehr nahegeht.
Das Schöne bei uns im Kloster ist: Die Menschen sind nicht mehr dazu verdammt, untätig zu warten. Bei uns können sie im Garten mitarbeiten, in der Spülküche helfen, im Wald Holz hacken. Sie leben in unserer Gemeinschaft der Mönche und können arbeiten. Wenn ich arbeiten kann, gibt mir das Würde. Der Mensch braucht Arbeit und Struktur. Hier im Kloster können Flüchtlinge zur Ruhe kommen und sich für den Kampf rüsten, der für sie dann weitergeht.
Ich habe in Deutschland manchmal den Eindruck: Wir sind alle sehr eingerichtet, auch in der Kirche. Wir haben unsere Berufe und keine Zeit. Die Arbeit mit den Menschen im Kirchenasyl braucht aber Zeit, Geduld – und Liebe. Der Papst hat mal alle Kirchengemeinden dazu aufgerufen, Menschen Asyl zu gewähren. Davon sind wir aber weit entfernt. Knapp 700 Flüchtlinge leben gerade im Kirchenasyl in Deutschland.
Man muss sich auf Enttäuschungen einlassen können. Ich baue mit den Flüchtlingen bei uns eine Beziehung auf, und wenn sie dann weg sind, höre ich oft nichts mehr von ihnen. Letztens habe ich erfahren, dass eine Frau, die hier bei uns gelebt hat, geheiratet hat. Ich hätte mich über eine Postkarte gefreut. Aber ich kann auch verstehen, dass die Menschen weiterziehen.
Jede Abschiebung bedeutet, dass Menschen Schaden an der Seele nehmen. Ich weiß, es gibt das Recht und Abkommen zwischen den Staaten. Aber es gibt auch den zivilen Ungehorsam. Es gibt Dinge, die kann ich nicht verantworten, als Christ nicht und als Mensch nicht.
Bruder Benedikt, 53, lebt im Kloster bei Bad Oldesloe.
***
Der Lehrer
Wenn mich nach 18 Uhr noch eine Mitarbeiterin von der Inneren Mission in München anruft, ist das kein gutes Zeichen. Falls du dich wunderst, wo Mouridjanatou in den letzten Tagen war, sagte sie, sie haben sie in die Abschiebehaft gebracht. Morgen früh um 7.00 Uhr geht der Flieger.
Bis heute macht es mich wütend: Wie kann man ein 17-jähriges Mädchen einfach ins Gefängnis stecken? Ihr Verbrechen: Sie wollte bei ihrer Mutter bleiben.
Der Fall ist schon zehn Jahre her, aber ich muss immer wieder an ihn denken. Er steht exemplarisch dafür, wie Menschen von den Behörden abgeschoben werden, obwohl sie eigentlich das Recht auf ihrer Seite hätten.
Ich habe die „SchlaU-Schule“ in München im Jahr 2000 gegründet, eine Schule speziell für Flüchtlinge. Über 300 unterrichten wir hier so lange, bis sie ihren Abschluss machen, im Durchschnitt nach zwei bis drei Jahren. Mouri, wie wir sie riefen, war eine meiner Schülerinnen.
Ein schüchternes Mädchen, das zu Beginn nicht viel sprach. Sie war 16 Jahre alt, als sie aus Togo zu ihrer Mutter nach Deutschland kam. Ihre Mutter lebte damals schon zwölf Jahre mit Mouris beiden Geschwistern in München – ihr Antrag auf Asyl war bewilligt worden. Das Problem war, dass ihre Mutter bei der Anhörung durch die Behörden Mouri verschwieg. Sie hatte gehört, dass es für ihr eigenes Verfahren besser wäre, nicht zu erwähnen, dass sie noch eine weitere Tochter in Togo hat.
Mouri beteuerte bei ihrer Befragung immer wieder, dass ihre Mutter auch tatsächlich ihre Mutter sei. Ich habe nie daran gezweifelt, ihr Verhältnis war sehr eng. Die Beamten haben ihr trotzdem einfach nicht geglaubt. „Macht einen Gentest“, forderte Mouris Anwältin. Dieser Antrag wurde abgelehnt. Dabei hätte man damit sehr einfach feststellen können, ob Mouri lügt oder nicht. Aber die Behörden sahen hier wohl keine Notwendigkeit. Stattdessen haben sie das Mädchen lieber in Haft genommen.
Wenn einer meiner Schüler fehlt, werde ich sofort misstrauisch. Leider geht es dann oft um den Aufenthaltsstatus. Wir versuchen dann sofort rauszufinden, was los ist.
Wir, das sind die Menschen, die Dobrindt als „Anti-Abschiebe-Industrie“ bezeichnet. Ein Netzwerk, aus Anwälten, Richtern, Sozialarbeitern oder Schulleitern wie mir, die letztendlich nur die staatlichen Entscheidungen kontrollieren. Denn genau das macht die sogenannte Anti-Abschiebe-Industrie: Wir sorgen dafür, dass die Entscheidungen der Behörden auf der Grundlage unseres Rechtsstaats gefällt werden.
Man könnte meinen, Dobrindt wäre für die Abschaffung des Rechtsstaates. Seine Äußerungen sind nicht nur dumm, sondern auch gefährlich. Das sind AfD-Parolen. Fast die Hälfte der Klagen gegen abgelehnte Asylanträge ist vor Gericht erfolgreich – das zeigt einmal mehr, wie wichtig unsere Arbeit ist und wie oft es Fehler im Verfahren gibt.
Bei Mouridjanatou habe ich sofort an diesem Abend alle meine politischen Kontakte im Petitionsausschuss des bayerischen Landtages angerufen und eine Petition eingereicht. Zum Glück haben sie schnell reagiert und vom Innenministerium gefordert, die Abschiebung zu stoppen. Es war echt knapp. Mouri saß schon im Flugzeug. Bei dem Gen-Test ist dann auch rausgekommen, dass Mouri nicht gelogen hat. Sie hat lange gebraucht, um sich von diesen Tagen zu erholen. Später hat sie ihren Abschluss gemacht und eine Ausbildung als Frisörin begonnen.
Ich wäre froh, wenn Dobrindt nachdenken würde, bevor er spricht.
Michael Stenger, 59, hat die „SchlaU-Schule“ in München gegründet, an der Flüchtlinge unterrichtet werden.
***
Protokolle: Kersten Augustin, Viktoria Morasch und Linda Tutmann
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Haftbefehl gegen Netanjahu
Sollte die deutsche Polizei Netanjahu verhaften?
Deutscher Arbeitsmarkt
Zuwanderung ist unausweichlich
#womeninmalefields Social-Media-Trend
„Ne sorry babe mit Pille spür ich nix“
Stellungnahme im Bundestag vorgelegt
Rechtsexperten stützen AfD-Verbotsantrag
Rechtspopulistinnen in Europa
Rechts, weiblich, erfolgreich
Buchpremiere von Angela Merkel
Nur nicht rumjammern