Material aus Strafgefangenen-Lagern: Ikea made in Belarus
Der Ikea-Konzern bezog jahrelang Material von Zulieferern, bei denen in der Produktion Zwangsarbeiter in Strafgefangenen-Lagern eingesetzt werden.
D as Bücherregal „Baggebo“, die Kommode „Kullen“ oder das Bett „Brimnes“. Viele der Verkaufsschlager des Möbelriesen Ikea haben eines gemeinsam: Bis zum Beginn des Krieges in der Ukraine wurden sie in einer der schlimmsten Diktaturen der Welt hergestellt, in Belarus.
Im Auftrag der französischen Online-Zeitung Disclose haben Mitglieder des investigativen Journalisten-Kollektivs We Report monatelang zu Ikeas Geschäften in Belarus recherchiert. Nun präsentiert Disclose die Ergebnisse gemeinsam mit diversen europäischen Partnermedien, darunter die taz. Nach dem Durchforsten von Hunderten Dokumenten und Interviews mit Dutzenden Zeugen kann nun eines der bestgehüteten Geheimnisse des gelb-blauen Riesen enthüllt werden: Das Unternehmen bezog Materialien, bei deren Herstellung Zwangsarbeit belarussischer Häftlinge zum Einsatz kam.
Tatsächlich bezogen die belarussischen Geschäftspartner des multinationalen Unternehmens unter anderem Holz, Vorprodukte wie Spanplatten, aber auch Möbel aus den Gefängnissen des Landes. Das geht aus Dokumenten hervor, die Disclose und seinen Partnern vorliegen. Konkret handelt es sich in vielen Fällen um Schuldnerlisten, die von den belarussischen Strafkolonien auf ihren Internetseiten veröffentlicht wurden. Unglaublich aber wahr, und für Ikea umso belastender: Die belarussischen Knast-Konzerne machen aus ihren Geschäftsaktivitäten kein Geheimnis.
Den Recherchen zufolge unterhielt etwa die Hälfte der großen belarussischen Ikea-Zulieferer in den letzten zehn Jahren Verbindungen zu Strafkolonien, für insgesamt zehn Unternehmen lässt sich eine solche Zusammenarbeit explizit nachweisen. Es handelt sich dabei um brutale Zwangsarbeitslager, die für Misshandlungen, Folter und das Verschwinden von Menschen bekannt sind und deren Werte im krassen Gegensatz stehen zu den von der schwedischen Firma propagierten Philosophie. In seinem Lastenheft versichert der Möbelriese seinen Kunden schließlich, dass er bei der Produktion seiner Waren weder auf „Zwangsarbeit“ noch auf „Gefängnisarbeit“ zurückgreift.
Ikea sollte wohl besser die Herkunft der Waren überprüfen, die unter dem Etikett „Made in Belarus“ verkauft worden sind. Insbesondere in seinen europäischen Filialen. Als Disclose im März eine Ikea-Filiale im ostfranzösischen Metz besuchte und einige Monate später in Straßburg und Leuna in Deutschland, stellte sie fest, dass in den Regalen nach wie vor belarussische Möbel zu finden waren, die möglicherweise mit der Zwangsarbeit belarussischer Gefangener in Verbindung gebracht werden können.
Ikeas Zusammenarbeit mit Belarus beginnt offiziell im Jahr 1999. Damals wurde die Schweizer Firma Ikea Trading SA beauftragt, sich fortan um die Entwicklung des Geschäfts in dem Land zu kümmern, das bereits damals von Alexander Lukaschenko regiert wurde, dem letzten Autokraten Europas und Bündnispartner Putins bis in den Ukrainekrieg. Im Jahr 2007 wurde dann in den Niederlanden ein weiteres, fast unsichtbares Unternehmen gegründet: Ingka Belarus BV, die belarussische Tochtergesellschaft von Ingka, dem Logistikzweig des schwedischen Konzerns.
In den zwanzig Jahren nach 1999 wurde der belarussische Staat, der nahezu 100 % der Wälder des Landes besitzt, nach Polen zum zweitgrößten Holzlieferanten des Möbel-Multis. Und einer seiner Billig-Lieferanten. „Go Belarus“ hieß die Strategie, die es dem multinationalen Konzern ermöglicht hätte, seine Einkäufe vor Ort zu verdreifachen, von 130 Millionen Euro an Aufträgen im Jahr 2018 auf 300 Millionen Euro im Jahr 2021, wie die staatliche Nachrichtenagentur berichtet. Die immer weiter zunehmende Unterdrückung der belarussischen Bevölkerung und die Brutalität eines Regimes, das seine zum Tode Verurteilten mit Kopfschüssen hinrichtet, führten dabei zu keinem Wandel bei Ikea.
Unter den langjährigen Partnern von Ikea, die besonders eng mit dem belarussischen Gefängnissystem zusammenarbeiten, konnte Disclose das Textilunternehmen Mogotex ausmachen. Das Unternehmen mit Sitz in Mogilev, einer Indus-triestadt im Osten des Landes, nähte Produkte für Ikea, darunter Tischdecken, Vorhänge und Handtücher. Den Recherchen von Disclose zufolge soll Mogotex mit mindestens vier Strafkolonien zusammengearbeitet haben.
Aus einer Schuldnerliste geht hervor, dass Mogotex noch im Sommer 2021 mit dem Arbeitslager IK-15 kooperiert haben soll. „IK-15 ist ein Ort des absoluten Horrors, wo Lukaschenkos Henker schalten und walten, wie sie wollen“, sagt Tsikhan Kliukach gegenüber Disclose. Der 19-Jährige war dort zehn Monate lang eingesperrt, zwischen Mai 2021 und März 2022, wie auch NGOs bestätigen. Das Verbrechen des jungen Mannes? Er hatte in Minsk an einer Demonstration gegen die Regierung teilgenommen.
Nach Kliukachs Angaben werden die politischen Gefangenen in dieser Strafkolonie besonders hart angegangen: „Viele politische Gefangene wurden geschlagen, mich eingeschlossen. Uns wurden Pakete, das Recht auf Korrespondenz und Besuche verweigert. Viele von uns landeten in einer Einzelzelle. Ich verbrachte dort insgesamt 55 Tage“, berichtet Zikhan Kliukach und erklärt, dass Häftlinge, die aus ideologischen oder politischen Gründen inhaftiert waren, „einen gelben Aufnäher auf der Brust tragen mussten“. Im Oktober listete die belarussische NGO Viasna 94 „beschäftigte“ politische Gefangene im Gefängnis IK-15 auf.
Zikhan Kliukach sagt, er wusste nicht, für welche Unternehmen in der Gefängnis-Fabrik IK-15 produziert wurde. Dass auch Ikea dazugehörte, würde ihn nicht überraschen. „Es gab Gerüchte, dass die Produkte aus der Kolonie nach Europa exportiert wurden“, erinnert er sich und fügt hinzu, dass seiner Meinung nach „Unternehmen in Belarus, die Produkte aus den Kolonien verkaufen oder verwenden, unter die Sanktionen fallen sollten, denn der Einsatz von Zwangsarbeit von politischen Gefangenen bedeutet Unterstützung für die Diktatur – und für den russischen Krieg“.
Laut einem Bericht mehrerer NGOs, der 2018 dem UN-Ausschuss gegen Folter vorgelegt wurde, haben die in dieser Kolonie angewandten Methoden zum Tod von mindestens einem Gefangenen, Alexander Lembovic, geführt. Angehörige hätten wegen des „Verdachts der Verweigerung angemessener medizinischer Versorgung“ Anzeige erstattet und seien von der Justiz abgewiesen worden. Eine andere NGO berichtet vom Fall Artyom Anishchuks, einem politischen Gefangenen aus der selben Strafkolonie, der Metallgegenstände geschluckt haben soll, um „der Folter und den Schlägen ein Ende zu setzen“. Anfang Mai listete die belarussische NGO Viasna 63 politische Gefangene auf, die in diesem IK-15-Gefängnis „beschäftigt“ waren.
Der Ikea-Zulieferer Mogotex hat laut einer Schuldnerliste im Jahr 2019 im Jugendgefängnis IK-2 Textilien eingekauft. Die Einrichtung mit Sitz in Babrujsk, einer 200.000-Einwohner-Stadt im Zentrum des Landes, ist für ihre besonders entwürdigenden Methoden bekannt. Das ging so weit, dass der Leiter von IK-2 zwischen 2006 und 2014 wegen der damaligen „unmenschlichen Behandlung politischer Gefangener“ auf der Sanktionsliste der EU stand. Erst kürzlich prangerte die litauische NGO Our House die Arbeitsbedingungen der Insassen von IK-2 an, die „2 bis 5 Rubel pro Monat“ erhielten, also weniger als zwei Euro. Der belarussische Durchschnittslohn betrug im September 2022 laut offiziellen Statistiken 1.637 Rubel, umgerechnet etwa 600 Euro. Disclose-Informationen zufolge haben zwischen 2014 und 2019 mindestens sechs belarussische Partner von Ikea mit diesem Jugendgefängnis zusammengearbeitet.
Zu diesen Partnern gehörte auch die Borwood-Gruppe, der größte Verband öffentlicher Holzproduzenten des Landes. Ein Borwood-Tochterunternehmen namens Vitebskdrev beauftragte das IK-2-Gefängnis beispielsweise im Jahr 2016 mit der Lieferung von „Holzbrettern“, wie eine von Disclose eingesehene Schuldnerliste enthüllt. Borwood hat sich übrigens die Mühe gemacht, seine Holzprodukte nach den Standards von Ikea zu zertifizieren.
Internetseite des belarussischen Gefängnisses Rypp 5
Laut Angaben des belarussischen Innenministeriums arbeiten allein in holzverarbeitenden Strafkolonien derzeit rund 8.000 Gefangene. „Die Produktion in den belarussischen Strafkolonien ist ein hochentwickelter Wirtschaftssektor mit Handelsunternehmen, die in diesen Kolonien gegründet wurden“, erklärt der Straßburger Politikwissenschaftler und Experte für Protestbewegungen in Belarus, Yauheni Kryzhanouski, gegenüber Dis-close. Diese Unternehmen betrieben kommerzielle Websites, die ganz „normal“ aussehen, abgesehen eines kleinen Hinweises „Produktion des Straf-Korrektiv-Systems“.
Das Beispiel des Gefängnisses Rypp 5 steht sinnbildlich für dieses System, das, ohne sich zu verstecken, Haft und Zwangsarbeit vermischt. „Unsere Organisation steht für natürliche Materialien, hohe Qualität und eine große Auswahl an Modellen“, heißt es auf der Website der Einrichtung, die mit den von ihr hergestellten Möbeln und ihren Exporten nach Russland, Frankreich und Deutschland wirbt. Neben Fertigprodukten bietet das Arbeitslager, das in Baracken und eine Produktionsstätte unterteilt ist, auch eine „Produktion auf Bestellung, unter Berücksichtigung Ihrer Wünsche“.
Rypp 5 geht mit der Zeit und hat sich sogar einen Instagram-Account eingerichtet, auf dem Fotos von Produkten veröffentlicht werden, die bei potenziellen Kunden Lust auf mehr machen sollen. Ein Zweisitzer-Sofa für 134 Euro: 62-mal „Gefällt mir“. Ein Schrank aus massivem Kiefernholz zum Preis von 137 Euro: 40-mal „Gefällt mir“. Wer auf den Fotos natürlich fehlt, sind die Gefangenen, die diese Produkte hergestellt haben. Laut der NGO Viasna werden dort derzeit mindestens sechs politische Gefangene festgehalten. Darunter Illia D., ein 25-jähriger Mann, der eine fünfjährige Haftstrafe verbüßt, weil er angeblich einen Polizisten per Sprachnachricht bedroht haben soll.
Einige der in Rypp 5 hergestellten Möbel werden direkt in belarussischen Geschäften verkauft. Andere werden von der Firma Ivatsevichdrev erworben, einem großen staatlichen Möbelhersteller und weiteren Handelspartner von Ikea, wie aus Buchhaltungsunterlagen aus dem Jahr 2017 hervorgeht. Dieses Unternehmen, eines der größten im Bereich des Exports von Spanplatten, hat seine Holzprodukte übrigens ebenfalls nach den Standards des Möbel-Multis zertifizieren lassen.
Die Verbindungen mehrerer Ikea-Zulieferer zu belarussischen Strafkolonien seien „höchst problematisch“, kommentiert Martin Müller, Professor am Institut für nachhaltige Unternehmensführung der Universität Ulm in Deutschland und Lieferketten-Experte, der vorab einen Teil der Recherche-Ergebnisse einsehen konnte. Seiner Meinung nach hätte das Unternehmen seine Zulieferer, auch die indirekten, überprüfen müssen, um die Präsenz von Strafkolonien in der Kette auszuschließen. Dies gilt wohl umso mehr, als sich die diesbezüglichen Warnungen auch innerhalb des Unternehmens häuften. Verschiedene Ikea-Gewerkschaften hatten die Firma aufgefordert, ihre Geschäfte mit Belarus bis 2021 einzustellen, forderten „unabhängige Untersuchungen bei ihren Zulieferern im Land, um festzustellen, ob sie die Menschen- und Arbeitsrechte einhalten“. Auch Experte Müller sieht das so: „Jetzt muss es eine Untersuchung geben.“
Im März dieses Jahres, als Russland gerade überraschend in die Ukraine einmarschiert war, meldete sich Ikea öffentlich zu Wort. In einer unbemerkten Mitteilung kündigte der Großkonzern an, seine „Exporte und Importe“ aus Russland, aber auch aus Belarus, dem Hauptverbündeten von Wladimir Putin im Krieg, zu stoppen. Diese Entscheidung sei aus Solidarität mit den „Millionen von Betroffenen“ getroffen worden, erklärte das Unternehmen.
Von der taz mit den Vorwürfen zu Belarus konfrontiert, antwortete Ikea, dass der Konzern die vertraglichen Verbindungen mit Belarus seit den EU-Sanktionen Oktober 2020 abgebrochen hat. Außerdem verpflichte Ikea alle Zulieferer, sich an Standards zu halten, die mit den Vorgaben der Internationalen Arbeitsorganisation der UN übereinstimmen. Hinweisen, dass diese Standards gebrochen werden, gehe man sofort nach.
Doch angesichts der vorliegenden Informationen hätte die schwedische Firma ihre Zusammenarbeit mit der Diktatur wohl schon vor Jahren beenden müssen. Dies gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass Ikea nicht zum ersten Mal mit Häftlingsarbeit in Verbindung gebracht wird. Im November 2012 musste Ikea zugeben, dass es in den 1970er und 1980er Jahren politische Gefangene in der DDR beschäftigt hatte. Damals zeigte sich der Generaldirektor des deutschen Ablegers „tief betroffen“ von den Enthüllungen. „Ikea hat es nicht akzeptiert und wird es auch nie akzeptieren, dass politische Gefangene in der Produktion eingesetzt werden“, sagte er. Ein Versprechen, das der Konzern nicht halten konnte.
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