Manifest des Amokläufers von Hamburg: Polizei muss googeln lernen

Hätte Hamburgs Polizei das Attentat auf Zeu­g:in­nen Jehovas verhindern können? Vielleicht, mit besserer Internetrecherche über mögliche Gefährder.

Menschen sitzen an hufeisenförmig aufgebauten Tischen, ihnen gegenüber Kameraleute und weitere Menschen auf Stühlen

Viele Fragen an Innensenator Grote (SPD) und Polizeichef Meyer: Hamburger Landespressekonferenz Foto: Marcus Brandt/dpa

HAMBURG taz | Die Polizei hat das Vermächtnis des Hamburger Amokläufers nicht zur Kenntnis genommen, obwohl sie einen Hinweis auf dessen Existenz hatte.

Philipp F., ehemaliges Gemeindemitglied der Zeugen Jehovas in Winterhude, hatte am Donnerstag nach einer Zusammenkunft in den Gemeinderäumen sieben Menschen und sich selbst erschossen. Vorher, am 24. Januar, war bei der Polizei ein anonymes Schreiben eingegangen, das warnte, Philipp F. habe möglicherweise eine nicht diagnostizierte psychische Erkrankung und weigere sich, einen Arzt aufzusuchen. Die Polizei solle seine Eignung zum Führen einer Waffe überprüfen. F. hege Hass auf die Zeugen Jehovas und auf einen früheren Arbeitgeber.

Auch auf das von F. im Selbstverlag publizierte Buch „The truth about God, Jesus Christ and Satan“ wurde in dem Brief explizit hingewiesen. In dem wirren Text, der versucht, Geschichte auf einer religiösen Matrix neu zu deuten, wird die Frage erörtert, wer legitimiert sei zu töten. Selbst wenn man die zahlreichen frauenfeindlichen, antisemitischen sowie Hitler und Putin verherrlichenden Passagen nicht für extremistisch hält, wecken die kruden religiösen Deutungen darin erhebliche Zweifel am Geisteszustand des Autors.

Die Polizei nahm den Brief zwar ernst, sah sich aber in ihren Handlungsmöglichkeiten beschränkt: Ein Entzug der waffenrechtlichen Erlaubnis sei nur aufgrund von handfesten Tatsachen möglich, sagten Innensenator Andy Grote (SPD) und Polizeipräsident Ralf Martin Meyer auf der Landespressekonferenz am Dienstag ein ums andere Mal. Sei die Erlaubnis einmal erteilt, sei es schwer, sie zu widerrufen. Grote argumentierte deshalb für eine Verschärfung des Waffenrechts, nach der künftig auch Antragsteller über 25 Jahren ein amtsärztliches oder psychiatrisches Gutachten vorlegen müssten und schon Anhaltspunkte und nicht nur Beweise ausreichen würden, um ein Widerrufsverfahren zu beginnen.

Bei Kontrolle: Fast alles in Ordnung

Hamburgs Polizei behalf sich mit einem Trick: Am 7. Februar statteten zwei Beamte der Waffenbehörde F. in seiner Wohnung einen auch anlasslos möglichen, unangemeldeten Kontrollbesuch ab. Vordergründig ging es dabei um die Frage, ob F. die Waffe vorschriftsmäßig in einem abgeschlossenen Tresor verwahrte. Das tat er, samt „zwei bis drei“ Magazinen mit Munition – bis auf eine Patrone. Die lag lose auf dem Waffenschrank. Dafür fing er sich eine Verwarnung ein. Aber eigentlich wollten die Beamten ausloten, ob F. psychisch auffällig war. Das Ergebnis: alles in Ordnung.

Im Vorfeld hatten die Beamten im Internet über F. recherchiert. Dabei sei ihnen seine Website als Unternehmensberater „seriös“ vorgekommen, sagte Polizeipräsident Meyer. Sie waren nicht darüber gestolpert, dass F. Geschäftliches auf bizarre Weise mit Religiösem verquickte, von ihm gestellte Strafanzeigen gegen Firmen als ehrenamtliches Engagement darstellte – und einen selbst in der gelegentlich überhitzten Berater-Branche astronomischen Tagessatz von 250.000 Euro ansetzte.

Auf F.s Buch waren sie nicht gestoßen, obwohl er es einen Monat vorher veröffentlicht und über Amazon zum Kauf angeboten hatte. „Die Beamten haben seinen Namen und ‚Buch‘ bei Google eingegeben“, sagte Meyer, „und das Ergebnis war negativ.“ Was daran liegen könnte, dass in den Amazon-Verkaufsanzeigen das Wort „Buch“ in der Regel nicht vorkommt. Schon gar nicht, wenn es sich wie im Fall von F. um eine englischsprachige Veröffentlichung handelt.

Auf die Idee, direkt beim Onlineversandhändler Amazon nach dem Buch zu suchen, waren die Beamten offenbar nicht gekommen. Auf die Frage, ob die betreffenden Beamten des Englischen mächtig seien, antwortete Meyer mit leiser Stimme: „Ich hoffe ja.“ Bei ihrem Kontrollbesuch hatten die Beamten F. nicht auf sein Buch angesprochen, wie Meyer sagte. Die Begründung dafür klingt kurios: In dem anonymen Schreiben sei darum gebeten worden, alles wie eine Routinekontrolle aussehen zu lassen, sagte Meyer – um F. nicht „aufzuregen“. Dabei hätte gerade eine solche „Aufregung“ Anhaltspunkte für eine psychische Erkrankung zutage fördern können.

Ralf Martin Meyer, Polizeipräsident

„Das Buch ist eine Tatsache. Nach der Lektüre hätte man ein psychiatrisches Gutachten verlangen können“

Hätte es überhaupt etwas geholfen, wenn die Beamten F.s Machwerk zur Kenntnis genommen hätten? „Das Buch ist eine Tatsache“, sagte Meyer am Dienstag. „Nach der Lektüre hätte man ein psychiatrisches Gutachten verlangen können, das zum Entzug der Waffenbesitzerlaubnis hätte führen können.“

Anders als der anonyme Brief: Der sei zwar gut gemeint, aber „wenig tauglich“ als Beweismittel. Fast flehentlich appellierte Meyer an die Hamburger:innen, sich bei Gefahrenlagen grundsätzlich mit Namen an die Behörden zu wenden, damit auch Rückfragen möglich sind.

Hätte Polizei die Gemeinde warnen müssen – oder umgekehrt?

Noch ein weiteres Fass machte Meyer auf: Vage deutete er an, die Polizei ermittele nach „weiteren Quellen“, bei denen vor der Amoktat Hinweise auf eine Gefährdung vorgelegen haben könnten. „Ich muss Ihnen nicht sagen, dass wir es mit dem Umfeld der Zeugen Jehovas zu tun haben“, deutete Meyer auf Nachfrage mangelnde Kooperationsbereitschaft der Glaubensgemeinschaft an.

Die können das nicht nachvollziehen. „Sie können sicher sein, dass die Gemeindemitglieder alles in ihrer Macht Stehende tun werden, um an der Aufklärung mitzuwirken“, sagte Michael Tsifidaris, Sprecher der Zeugen Jehovas in Norddeutschland. In der Gemeinschaft wisse man aber wenig über Philipp F., weil er nur kurze Zeit Mitglied in der Gemeinde gewesen sei. Im Gegenteil hätten sich die Zeugen Jehovas gewünscht, sie wären von der Hamburger Polizei vorgewarnt worden, nachdem die den anonymen Brief erhalten hatte, in dem konkrete Adressaten von F.s Hass genannt wurden. „Das wünscht man sich als Gemeinde, das wünscht man sich als Arbeitgeber“, sagte Tsifidaris.

Die Polizei habe nach Erhalt des Briefs weder mit den Zeugen Jehovas noch mit früheren Arbeitgebern von F. Kontakt aufgenommen, sagte Meyer.

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