Lohnfortzahlung im Krankheitsfall: Eine Frage des Vertrauens
Die Lohnfortzahlung am ersten Krankheitstag streichen? Bei Faulpelzen ist das sicher angebracht. Aber die meisten Kolleg:innen machen nicht blau.
V ersetzen wir uns einmal in die Lage von Arbeitgeber:innen, also zum Beispiel in die von Allianz-Chef Oliver Bäte. Der Vorstandsvorsitzende des Versicherungskonzerns würde die Lohnfortzahlung am ersten Krankheitstag am liebsten abschaffen. Es melden sich einfach zu viele Menschen zu oft krank, argumentiert er, nämlich durchschnittlich 20 Tage im Jahr. In der EU hingegen seien es im Durchschnitt nur 8 Tage.
Als Ressortleiter:in ist man zwar nicht direkte Arbeitgeber:in, in jedem Fall aber verantwortlich dafür, dass der Laden läuft. Und als Ressortleiter:in weiß man auch, was es bedeutet, wenn Kolleg:innen sehr häufig krank sind: Die Arbeit wird abgewälzt auf jene, die im Büro, an der Werkbank oder wo auch immer brav am Platze sind. Solange das Vertrauensverhältnis zwischen Chef:in und Kolleg:in stimmt, solange sich Vorgesetzte darauf verlassen können, dass ihre Untergebenen nicht blaumachen, ist das alles kein Problem. Wer krank ist, muss sich auskurieren, Ende der Diskussion.
Doch wenn sich Kolleg:innen überaus oft krank melden, sogar öfter als 20 Tage im Jahr und gern am Montag oder Freitag, für einen oder zwei Tage, ist es Arbeitgeber:innen nicht zu verdenken, dass sie stutzig werden. Die Lohnfortzahlung für den ersten Tag dann streichen zu wollen, ist in solchen Fällen durchaus nachvollziehbar.
Aber das Ganze könnte nach hinten losgehen. Nein, nein, nicht für Arbeitnehmer:innen, die einen Teil ihrer Krankheitskosten dann selbst tragen müssten, sondern für die Arbeitgeber:innen. Clevere Blaumacher:innen – doch, das darf man sagen, denn die gibt es in jedem Unternehmen – lassen sich dann gleich für eine ganze Woche krankschreiben. So nach dem Motto: Wenn ich schon Miese mache, dann organisiere ich mir wenigstens ein paar Tage mehr Freizeit – und lass mir die bezahlen.
Klingt hart, neoliberal, voreingenommen? Vielleicht. Aber die Erfahrung lehrt: Manchmal ist Misstrauen angebracht. All die anderen aber, die Mehrheit der Kolleg:innen, die darf man nicht bestrafen. Man würde nur ihr Vertrauen verlieren. Und: Ressortleiter:innen sind auch nur Arbeitnehmer:innen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Pressekonferenz in Mar-a-Lago
Trump träumt vom „Golf von Amerika“
Bürgergeld-Populismus der CDU
Die Neidreflexe bedient
Verkehrsranking
Das sind die Stau-Städte
Anbiederungen an Elon Musk
Der deutsche Kriecher
Religionsunterricht
Deutschlands heilige Kuh
Habeck-Werbung in München
Grüne Projektion