Linker Antisemitismus: Linke ohne Leitplanken
Viele postkoloniale Linke weltweit stellen sich auf die Seite der Palästinenser. Manche verharmlosen oder bejubeln dabei den Terror. In Deutschland ist die linke Szene zerrissen.
D ie Rote Flora im Hamburger Schanzenviertel kommentiert das Weltgeschehen gern mit großformatigen Parolen an ihrer Fassade. Nach dem Terroranschlag der Hamas vom 7. Oktober drückte das linke Zentrum so auch seine Solidarität mit Jüd:innen weltweit aus: „Killing Jews is not fighting for freedom“ stand dort geschrieben, in großen schwarzen Lettern auf weißem Grund, und kleiner: „Wir sind solidarisch mit allen Menschen in Israel und allen Juden und Jüdinnen auf der Welt.“ Eine Absage an linke Verklärung der Hamas-Morde als Befreiungskampf.
Immer wieder hatte die Hamburger Polizei in der Vergangenheit Statements an der Flora-Wand übermalt, weil ihr die Botschaften nicht passten. In der Nacht zum Donnerstag vergangener Woche aber waren andere am Werk: Unbekannte ändern den Schriftzug per Sprühdose und Überklebungen in: „Killing humans is not fighting for freedom“. Die Solidaritätsadresse wurde erweitert um die Palästinenser:innen, die im neuen Nahost-Krieg sterben. Später wurden die Wörter „Jüdinnen und Juden“ ganz getilgt.
Der Plakat-Streit in Hamburg steht beispielhaft für die Zerrissenheit der Linken. Eine Debatte ist wieder aufgebrochen, die die Szene in Deutschland schon nach dem Anschlag auf das World Trade Center 2001 gespalten hatte. Damals war die Auseinandersetzung mehr als nur ein Streit zwischen antiimperialistisch Denkenden – die sich dem Globalen Süden verpflichtet fühlen – und Antideutschen, für die die Schoah zentraler Bezugspunkt ist und die Israel deshalb besondere Solidarität entgegenbringen. Und sie weitete sich auf die gesamte linke Szene aus.
Heute ist sie noch unübersichtlicher. Häufig geprägt von den Postcolonial Studies, gibt es viele, die der Meinung sind, es stehe ihnen nicht zu, darüber zu urteilen, auf welche Weise andere Widerstand leisteten – das sagte die schwarze US-Aktivistin Aja Monet. Auf Instagram, Twitter, Facebook und Tiktok bejubeln manche Linke den Hamas-Terror – oder wollen ihn nicht verurteilen, wie etwa der griechische Ex-Finanzminister Yanis Varoufakis: Wer versuche, ihm eine Verurteilung der Hamas-Guerilla zu entlocken, „wird sie nie bekommen“, schrieb er. Das Problem sei die „Apartheid, die die Gewalt hervorruft“, so Varoufakis.
Und dann gibt es jene Linken, für die – mit Blick auf die Geschichte –, klar ist: „We stand with Israel“.
Dieser Streit zeigt sich seit dem 7. Oktober im gesamten Westen. Allerdings nicht als innerlinke Diskussion. Denn Solidarität mit Israel von nichtjüdischen Linken ist, von wenigen Ausnahmen abgesehen, ein Phänomen im deutschsprachigen Raum. International hingegen stellen sich linke Aktivist:innen, progressive Akademiker:innen und postkolonial Denkende im Kunstbetrieb meist an die Seite der Palästinenser:innen. Und bei einigen endet dies in einer Glorifizierung der Gräueltaten der Hamas.
Shahak Shapira, Comedian, über den aktuellen Nahost-Diskurs
Als der israelisch-deutsche Comedian Shahak Shapira wenige Tage nach dem Hamas-Anschlag eine „Special Show“ aufführt, listet er zu Beginn Dinge auf, auf die sich alle einigen sollten: „Palästinenser:innen sind nicht die Hamas. Muslime keine Terroristen. Israelis sind nicht die israelische Regierung. Juden sind keine White Supremacists. Die Hamas ist eine Terrororganisation. Sie steht dem Frieden im Weg. Siedlungen sind schlecht und stehen dem Frieden im Weg.“
Derartige Leitplanken finden sich selten in aktuellen linken Debatten. Shapira ist Enkel eines Holocaust-Überlebenden, wuchs die erste Hälfte seines Lebens in einer israelischen Siedlung im Westjordanland auf, die andere Hälfte in Sachsen-Anhalt. Dort wurde er von Neonazis angegriffen.
„Ich habe mich in den letzten Tagen von einigen Menschen entfernt, die sich als links bezeichnen würden“, sagt Shapira der wochentaz. Er verstehe nicht, wieso so unverblümt von einem „Genozid“ an den Palästinensern gesprochen werde. „Werden Palästinenser unterdrückt? Absolut. Nicht nur von Israel. Werden sie systematisch ermordet, mit der Absicht, sie zu vernichten? Nein.“ In den meisten Fällen folge dem Genozid-Vorwurf ein Holocaustvergleich. „Juden sind dann plötzlich Neonazis“, so Shapira. Damit würde dann auch die Gewalt legitimiert. In eine ähnliche Richtung geht es für ihn, wenn junge Deutsche „Free Palestine from German guilt“ rufen, wie es kürzlich auf einer Mahnwache vor dem Auswärtigen Amt in Berlin zu hören war. Sie würden sich des moralischen Kompasses entledigen wollen, der nach der Schoah entstanden sei.
„Da werden Häuser in Berlin mit Davidsternen markiert und mir wird vorgeworfen, ein Nazi zu sein“, sagt Shapira. Infam sei der Vorwurf vieler Linker, Israel sei im Nahen Osten eine „weiße Siedlerkolonie Nichtindigener“: „Viele Israelis haben einen jemenitischen, marokkanischen oder arabischen Hintergrund.“ Zu Ende gedacht heiße das, Israel solle nicht existieren.
Eine, die die Lage in Gaza einen „Genozid“ nennt, ist die deutsch-türkische Journalistin Kübra Gümüşay. „Yet another genocide, happening in front of our eyes“, schrieb die Autorin und einstige taz-Kolumnistin auf Instagram. Gümüşay bewegt sich heute vor allem in Debatten außerhalb Deutschlands, ist Gastrednerin auf internationalen Konferenzen und an Universitäten. Dort ist diese Ansicht weit verbreitet – in Deutschland löst sie Kritik aus.
Mit „another“ habe sie sich auf die jüngsten Vertreibungen Aserbaidschans im armenischen Bergkarabach bezogen, schreibt Gümüşay auf Anfrage der wochentaz. Für die Einstufung des israelischen Vorgehens als „Genozid“ gebe es „zahlreiche juristische Analysen international angesehener Institutionen und Expert*innen“. Gümüşay stellt das, was die Menschen in Israel erleiden mussten, neben das, was die Menschen in Gaza nun erleiden müssen: „Der Angriff der Hamas vom 7. Oktober war ein Mord an mehr als tausend Menschen, die aus dem Leben gerissen worden sind, weil sie Bürger*innen Israels sind. Seit Tagen werden nun Tausende Zivilist*innen aus dem Leben gerissen, weil sie in Gaza nicht die Möglichkeit haben, sich vor den Bombenangriffen in Schutz zu bringen.“ Darauf hinzuweisen, betone die Notwendigkeit der Einhaltung des Völkerrechts, „auch bei Verteidigungsangriffen“, so Gümüşay.
Vergangenen Sonntag in Berlin: Über 10.000 Menschen gehen in Solidarität mit Israel auf die Straße. Es ist ein breites Bündnis, Redner:innen aller demokratischen Parteien sprechen. Blau-weiße Flaggen wehen vor dem Brandenburger Tor und fast noch mehr von der iranischen Opposition. Mit dabei ist Markus Tervooren. Er ist Geschäftsführer des Berliner VVN-BDA, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes. Tervooren trägt die Fahne seines Verbandes. Selbstverständlich ist das nicht: Der traditionslinke VVN-BDA galt lange als nicht israelsolidarisch. „Auch bei uns gehen die Diskussionen weiter“, sagt Tervooren. Der 7. Oktober sei ein Einschnitt gewesen. Er wisse von vielen Mitgliedern, die danach ihre Solidarität demonstrieren wollten. „Wir wurden von Widerstandskämpfern und Holocaust-Überlebenden gegründet. Viele haben auch familiäre Verbindungen nach Israel.“
Tervooren ärgert sich über einige der linken Reaktionen auf das Massaker der Hamas. „Es hätte erst mal darum gehen müssen, den antisemitischen Terror zurückweisen, bevor man gleich anfängt, zu erklären, was die Israelis vielleicht vorher gemacht haben. Das relativiert das Pogrom“, sagt er. Seine Position sei so durchaus nicht überall in seinem Verband akzeptiert, sagt Teerhoven.
Auch bei anderen Schwergewichten linker Bewegungstradition gibt es Diskussionsbedarf. Die Rote Hilfe hilft seit 1975 unter anderem politischen Gefangenen. Der Verein versteht sich als strömungsübergreifend. Am 11. Oktober beendete der Rote-Hilfe-Bundesverband die Unterstützung einer bereits länger laufenden Kampagne gegen die Ausweisung des Sprechers der Gruppe „Samidoun“. Die ging aus der Volksfront zur Befreiung Palästinas hervor, ist in Deutschland vor allem in Berlin aktiv und marxistisch-leninistisch ausgerichtet. Am 7. Oktober hatten Samidoun-Anhänger den Hamas-Anschlag gefeiert und dazu in Neukölln Süßigkeiten verteilt. Der Bundesverband der Roten Hilfe schrieb: „Selbstverständlich gibt es auch bei uns Grenzen der Solidarität, wenn linke Grundprinzipien verletzt werden.“ Und: „Samidoun hat diese eindeutig verletzt.“
Die Berliner Ortsgruppe der Roten Hilfe aber stellte klar: Das Spendenkonto bleibt. Es sei nie nur für Samidoun gedacht gewesen, sondern „für alle Menschen, die auf Grund ihres linken Engagements für ein freies Palästina Repression erlitten“. Mit ihnen sei man weiterhin solidarisch. Denn: „Der internationalistische Kampf gegen Kolonialismus ist Teil des Kanons linker Politik“, so die Rote Hilfe in Berlin. Man verurteile die Bestrebungen, Samidoun zu verbieten.
Zur Palästina-Demo am 20. Oktober unter dem Motto „Decolonize. Against Oppression globally“ rief unter anderem die Gruppe „Palästina Spricht“ auf. „Heute ist ein revolutionärer Tag, auf den wir stolz sein können“ – mit diesen Worten hatte die Gruppe den Hamas-Terror kommentiert. Einen Tag später verbreitete die Gruppe Bilder mit Gleitschirmfliegern. Hamas-Kämpfer waren so unter anderem zu einem Musikfestival gelangt, wo sie 260 Feiernde ermordeten.
Am vergangen Samstag sammeln sich Menschen auf dem Berliner Oranienplatz, ziehen nach Neukölln. Immer wieder ertönt der Spruch „From the river to the sea“. Er steht dafür, dass mit einer „Befreiung“ Palästinas das Gebiet vom Jordan bis zum Mittelmeer gemeint ist – es also keinen Platz für einen jüdischen Staat Israel geben soll. Schon an der ersten Kreuzung beschlagnahmt die Polizei den Lautsprecherwagen.
Eine wichtige, neue Stimme in der Linken sind die Migrantifa-Gruppen. Sie entstanden nach dem Anschlag von Hanau im Februar 2020 in einer Reihe deutscher Städte, meist aus Aktivist:innen mit migrantischem Background. Das unterscheidet sie von den traditionellen Antifa-Gruppen, die oft sehr deutsch und weiß sind. Für deren Mitglieder stellte sich vielfach die Frage nach familiärer Verstrickung in die Schoah-Täterschaft. Nicht nur deshalb fühlen sich häufig Israel verpflichtet. Bei den Migrantifa-Gruppen ist das anders – was sich jedoch teils sehr unterschiedlich ausdrückt.
Die Migrantifa Rhein-Main etwa bejubelte die Hamas-Attacken: Palästina habe sich „verteidigt, indem es die koloniale, militärische Infrastruktur Israels erfolgreich angreift“, schreibt die Gruppe. Auch die Berliner Migrantifa steht klar auf der Seite der Palästinenser. Doch sie schrieb auch: „Wer Synagogen, jüdische Schulen oder Jüd:innen auf der Straße angreift, ist ein feiges reaktionäres Schwein und steht nicht auf unserer Seite im Kampf gegen Rassismus.“
Aisha Jamal, Migrantifa Berlin
Während die Rhein-Main-Gruppe eine Interviewanfrage unbeantwortet lässt, erklärt sich die Berliner Migrantifa zu einem Gespräch bereit. „Wir sind keine Unterstützer der Hamas oder irgendeiner islamistischen Bewegung weltweit“, sagt die Sprecherin, eine junge Frau, die sich als Aisha Jamal vorstellt. „Der Islamismus ist nichts, was wir befürworten, sein Weltbild ist unvereinbar mit unserem. Wir glauben nicht, dass er eine Alternative für unsere Gesellschaften im Nahen Osten darstellt.“
Doch Jamal ist wütend darüber, dass die deutsche Öffentlichkeit nur dieses Bekenntnis interessiere. „Bevor man hier überhaupt existieren darf als rassifizierter Mensch, bevor man irgendwas zum Thema Palästina sagen darf, muss man sich von der Hamas distanzieren. Das finden wir falsch.“ Jamal nennt das Teil einer „rassistischen Diffamierung. Es ist ein extrem belastendes Klima, das gerade herrscht.“
Deutschland nehme dabei eine Sonderstellung ein. Weltweit habe es riesige Proteste gegeben, in Paris, in London hätten sich gar 100.000 Menschen versammelt. „Das war erlaubt. In Berlin aber war bis zum 20. Oktober jede Demo verboten.“ Menschen seien zusammengeprügelt worden, es gebe eine „massive Einschüchterung“, wegen der sich Menschen zum Teil kaum trauten, auf die Straße zu gehen. „Das ist auch ein enormes Risiko für Leute mit unsicherem Aufenthaltsrecht.“ Die Polizei hatte die Demoverbote damit begründet, dass auf vorigen Versammlungen gewaltverherrlichende Parolen gerufen wurden.
Jamal erzählt, dass die Gruppe seit zwei Jahren zu Solidaritätsbesuchen nach Palästina reist und befreundete Aktivist:innen von dort nach Berlin einlädt. Der jüngste Besuch war nach dem 7. Oktober. Im Netz hat die Gruppe Bilder gepostet, wie sie mit ihren palästinensischen Gästen vor dem Sowjetischen Ehrenmal in Berlin-Treptow posiert. In der Bildunterschrift ist die Rede von „palästinensischen und jüdischen Geschwistern, die nicht still sein wollen“. Bei ihren Gästen hätte die Sorge um das eigene Leben und das der Angehörigen und Freunde dominiert, erzählt Jamal. Die Demoverbote seien als „ungerecht und erniedrigend“ empfunden worden. „Bei der Verabschiedung am Flughafen haben die palästinensischen Genossen gesagt: Fünfzig-fünfzig, dass wir uns je wiedersehen. Das ist das Gefühl gerade.“
Dieser Text stammt aus der wochentaz. Unserer Wochenzeitung von links! In der wochentaz geht es jede Woche um die Welt, wie sie ist – und wie sie sein könnte. Eine linke Wochenzeitung mit Stimme, Haltung und dem besonderen taz-Blick auf die Welt. Jeden Samstag neu am Kiosk und natürlich im Abo.
Die Angriffe der Hamas, so Jamal, gingen zurück auf „100 Jahre Landraub und Kolonialisierung in Palästina“. Die Menschen würden ihres Landes, ihrer Kultur und Identität beraubt, das sei ein „Prozess massiver Gewalt und Vertreibung“. Doch wer diesen historischen Kontext benenne oder wer auf die Lage in Gaza aufmerksam mache, „wird sofort als Hamas-Unterstützer gesehen“. Dass es Schulen in Berlin auf Empfehlung der Bildungssenatorin freisteht, das Tragen der Kufiya, des Palästinensertuchs, zu verbieten, betrachtet sie als Skandal. „Letztlich verbieten sie, Palästinenser zu sein.“
Wie unterschiedlich der linke Blick auf die Lage in Gaza und Israel ausfällt, zeigt sich auch in den höheren Etagen des globalen Kunst- und Wissenschaftsbetriebs. An der Cornell University im US-Bundesstaat New York sprach der afroamerikanische Literaturwissenschafts-Professor Russell Rickford auf einer Kundgebung der Gruppe Jewish Voice for Peace. In den ersten Stunden nach der Hamas-Attacke hätten Tausende Palästinenser „zum ersten Mal seit Jahren wieder atmen können“, sagte Rickford in seiner Rede. Er zeigte Verständnis, dass Palästinenser*innen angesichts dieses „Herausforderns des Gewaltmonopols (…) erheitert“ und „erregt“ gewesen wären, das sei menschlich.
Rickfords wurde heftig kritisiert, entschuldigte sich. Die Unileitung beurlaubte ihn für den Rest des Semesters. Doch Tausende unterschrieben eine Petition gegen Entlassungsforderungen, es gab Soli-Demos, Kollegen veröffentlichten einen offenen Brief zu seiner Unterstützung. Einer von ihnen ist der Jude Eli Friedman, der an der Cornell University Arbeitswissenschaft lehrt. Russell sei „kein Antisemit“, sagt Friedman der wochentaz. Er habe vielmehr einen „prinzipientreuen Standpunkt gegen einen extremistischen, rechtsgerichteten Zionismus eingenommen, der den Völkermord am palästinensischen Volk will“.
Amin Husain sieht die Dinge ähnlich. Der palästinensisch-amerikanische Künstler und Professor an der New York University wird häufig zu internationalen Vorträgen eingeladen, etwa im Haus der Kulturen der Welt in Berlin. Husain ist Gründer der Initiative „Decolonize This Place“ (DTP). Die setzt sich nach eigenen Angaben für eine „Globalisierung der Intifada“ und gegen „kolonialistische Tendenzen“ in der Kunstwelt ein. In den sozialen Medien folgen DTP Hunderttausende.
Am Tag der Hamas-Terrorattacke schreibt die Gruppe unter ein Video, auf dem Besucher:innen des überfallenen Musikfestivals um ihr Leben rennen: „Soldaten und Siedler fliehen“. Unter den 38.000 Menschen, die auf „gefällt mir“ klicken oder die Bilder von DTP teilen, sind international bekannte Persönlichkeiten, wie die Influencerin Kimberly Drew, einst Social-Media-Chefin des Metropolitan Museum of Art in New York. Dann beschwört DTP den palästinensischen Widerstand, der „mit allen Mitteln“ erfolgen dürfe. Ein Foto in dem Post zeigt einen vermummten Hamas-Kämpfer neben einer älteren Israelin im Rollstuhl. Der Kommentar auf dem geteilten Bild: „Die Siedler-Oma scheint das nicht zu stören lmfao“. Die Abkürzung „lmfao“ ist im Internet als Ausdruck von Heiterkeit üblich. Wer „Dekolonialisierung“ so versteht wie DTP, meint das Ende Israels. Die Entmenschlichung ist Ausdruck eines linken Antisemitismus.
Amin Husain und eine weitere DTP-Mitgründerin erklären sich auf Anfrage zu einem Gespräch mit der taz bereit. Fast eine Stunde legen sie ihre Sicht dar, bestätigen die Positionen, die ihre Gruppe auf Instagram verbreitet. Später ziehen sie ihr Einverständnis zurück, wollen nicht zitiert werden.
Die Häme über die gefangene alte Frau im Rollstuhl gefällt über 34.000 Menschen. Auch bekannte Gesichter der internationalen Kunst-Elite tauchten auf: eine feministische Kunsthistorikerin und Leiterin eines Museums an der US-Ostküste sowie eine der weltweit prominentesten internationalen Ausstellungskuratorinnen. Beide wiesen auf Anfrage ausdrücklich zurück, den Inhalt des Posts zu unterstützen, und löschten ihre Zustimmung danach.
Als der indigene US-Künstler Nicholas Galanin zwei Tage nach dem Terror-Anschlag den Instagram-Account des großen New Yorker „Public Art Fund“ übernehmen darf, empfiehlt er „Decolonize this place“ mit dem Worten: „Unsere Aufstände sind queer, trans, schwarz, braun, indigen, migrantisch, palästinensisch und global.“ Die Nachfrage der wochentaz, wie er den Widerspruch erklärt, dass die Hamas Queers mit dem Tod bedroht, beantwortet Galanin nicht.
Viele Linke in Israel sind dieser Tage enttäuscht von ihren internationalen MitstreiterInnen, darunter auch schärfste Kritiker:innen der Besatzungspolitik. So hatten beispielsweise die bekannten israelischen Friedensorganisationen Breaking the Silence und B’Tselem nach dem Angriff der Hamas mehrfach den Terror verurteilt und ihre Solidarität mit den Opfern ausgedrückt. Mitstreiter:innen der Organisationen waren von den Angriffen direkt betroffen. In den südisraelischen Kibbuzim engagierten sich viele in der Friedensbewegung – und wurden ermordet. Ein Sprecher von B’Tselem bestätigt, dass ein ehemaliges Vorstandsmitglied, die 74-jährige Vivian Silver aus dem Kibbuz Beeri, vermutlich nach Gaza entführt wurde. Silver ist auch bei Women Wage Peace aktiv. Wie die Jüdische Allgemeine berichtet, gehört sie zu Freiwilligen, die seit Jahren kranke Kinder aus Gaza an der Grenze abholten und zur Behandlung in israelische Krankenhäuser fuhren.
Auch Yasmin, eine in Israel und Deutschland lebende Künstlerin, ist enttäuscht über die linke Szene. Sie kommt aus dem Punk, versteht sich als linksradikal, queer, feminististisch – und ist Jüdin. Mit ihrem echten Namen will sie nicht genannt werden. „Für mich ist die linke Kunstszene kein Safe Space“, sagt Yasmin. „Es gibt die aktuelle Situation und es gibt auch BDS.“ Die Kampagne Boycott, Divestment and Sanctions will, dass auch israelische Akademiker:innen und Künstler:innen boykottiert werden – unabhängig von ihrer politischen Position.
„Wenn es um Antisemitismus geht, kann ich nicht auf Solidarität zählen“, sagt Yasmin. Das belaste sie. „Es ist eine alte Angst von Juden in der Diaspora: dass der Freund und Nachbar dich fallen lässt.“ Auch sie sei in Israel gegen die Besatzungspolitik auf die Straße gegangen, ebenso wie gegen die rechtsradikale Regierung. Aber in der aktuellen Situation nun gegen „Dekolonialisierung“ zu demonstrieren? An vielen Stellen im Kunstbetrieb säßen heute Menschen, die postkolonial dächten – und dann für alle vermeintlich Unterdrückten gleichermaßen unkritisch Partei ergriffen. Yasmin nennt das „positiven Rassismus“.
Ein solches Verständnis antiimperialistischen Befreiungskampfes sieht sie „nahe der Blut-und-Boden-Theorie“ des Faschismus. Die Hamas sei eine brutale islamistische Organisation, „die mich, die uns Juden töten will. Denen ist die Lösung des Konflikts nicht wichtig.“ Das müssten die Leute endlich verstehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“