Linken-Chefin Kipping über R2G: „Diejenige mit mehr Substanz“
Die Linken-Vorsitzende Katja Kipping hält Grünenchefin Annalena Baerbock für eine geeignete Kanzlerkandidatin. Etwas Entscheidendes fehle Grünen und SPD jedoch.
taz: Frau Kipping, im Sommer haben Sie erklärt, Sie werden den Parteivorsitz abgeben. Nun sind Sie immer noch Parteivorsitzende der Linken. Wie fühlt sich das an?
Katja Kipping: Emotional ist dieses Jahr eine ganz schöne Achterbahnfahrt gewesen. Ich hatte mich schon auf den letzten Tag im Büro vorbereitet, auf die Schlüsselübergabe und die Abschiedsfeier mit dem engsten Team. Und dann mussten wir kurz vorher nochmal alles umplanen. Aber ich will mich nicht beschweren. Die größte Herausforderung bestand ja darin, dass wir eine Lösung für den Parteitag finden, die auch mit Corona und Lockdown kompatibel ist. Das ist uns ohne öffentlichen Streit gelungen. Da muss ich gleich mal auf Holz klopfen, dass der Parteitag dann auch Ende Februar läuft.
Sie planen nun eine zentrale Wahlarena und 15 kleinere Präsenzparteitage. Die CDU hat sich für eine rein digitale Variante entschieden. Wäre es nicht vernünftiger, ebenfalls darauf zu setzen?
Die CDU wählt ja nur einen Vorsitzenden neu und macht anschließend eine Briefwahl. Wir wählen den gesamten 44-köpfigen Vorstand. Per Briefwahl würde sich das über drei Monate ziehen. Und deswegen haben wir uns für die Kombination aus digital und dezentral entschieden, ein bisschen so wie beim European Song Contest.
geboren 1978 in Dresden, führt seit 2012 gemeinsam mit Bernd Riexinger die Linkspartei. Beide haben Ende August verkündet, nicht mehr für den Vorsitz zu kandidieren. Die Wahl einer neuen Spitze wurde wegen Corona auf Februar 2021 verschoben.
Sind Sie zuversichtlich, dass das klappt?
Ja, da sind wir sehr sicher, weil in keinem Saal über 100 Leute sein werden und die Fahrtwege nicht weit sind.
Wissenschaftler:innen haben gefordert, den jetzt geltenden strengen Lockdown zu verlängern. Würde das den Linken-Parteitag betreffen?
Nein, weil wir Teil der demokratischen Willensbildung sind.
Stellen Sie sich hinter die Forderung, den strengen Lockdown durchzuhalten?
Ich teile den Ansatz, den das Max-Planck-Institut entwickelt hat. Es muss schnell gelingen, die Infiziertenzahlen wieder auf unter 1.000 am Tag zu drücken, um so die Nachverfolgung von einzelnen Infektionsketten möglich zu machen. Das Ziel muss sein, soziales und kulturelles Leben wieder zu ermöglichen und dafür lieber einmal einen konsequenten und gerechten Lockdown durchzuführen.
Was meinen Sie mit gerechtem Lockdown?
Der Staat soll nicht nur gegenüber Privatleuten konsequent sein, sondern auch gegenüber großen Unternehmen und Arbeitgebern. Dort wird immer noch enorm geschlampt beim Infektionsschutz. Wir brauchen jetzt ein Recht auf Homeoffice und mehr Busse und Bahnen im Berufsverkehr, damit dort der Abstand eingehalten werden kann. Und wir brauchen eine verlässliche Abfederung von sozialen Härten.
Sollten Schulen und Kitas geschlossen bleiben?
Ich bin sonst sehr energisch, aber bei den Schulen fällt mir die Forderung nach Schließung menschlich und politisch am schwersten. Und zwar zuallererst mit Blick auf die Kinder, die zu Hause weniger Unterstützung erfahren. Wir wissen ja aus dem letzten Lockdown, dass jedes vierte bis fünfte Kind nicht durch die Angebote erreicht wurde. Selbst wenn sich die digitalen Angebote verbessert haben, es gibt nach wie vor eine digitale und soziale Spaltung. Deshalb sollte es das erste Ziel sein, die Schulen wieder zu öffnen.
Als Mutter einer neunjährigen Tochter wären Sie auch persönlich betroffen, wenn die Schulen länger geschlossen blieben.
Für uns wird das zwar stressig, aber wir sind in der privilegierten Situation, dass beide Großmütter selber Lehrerinnen waren. Sie springen zur Not per Skype ein.
Im Frühjahr hofften viele noch, die Krise könnte zur Chance werden. Am Ende des Jahres muss man sagen: Verändert hat sich wenig. Die Arbeitsbedingungen in den systemrelevanten Berufen sind hart, der Verdienst schlecht. Woran liegt das?
Die jetzigen Mehrheiten im Bundestag werden immer verhindern, dass das getan wird, was jetzt notwendig ist, um nicht nur sicher durch die Krise zu kommen, sondern um danach auch ein echtes gesellschaftliches Wohlstandsmodell zu erreichen.
Sie plädieren für einen New Deal nach dem Vorbild von Franklin D. Roosevelt in den 30er Jahren: Mit sozialen Hilfen, staatlichen Investitionen und einer Regulierung der Finanzkräfte. Zumindest die staatlichen Hilfen sind doch aber schon sehr großzügig. Die Krise wird den Staat wohl 1,5 Billionen Euro kosten, wie Ihre Fraktion selbst erfragt hat. Ist das zu wenig?
Das ist ja nicht nur eine Frage der Summe, sondern auch der Richtung. Die neun Milliarden, die bedingungslos an die Lufthansa geflossen sind, haben nicht den Arbeitsplatzabbau verhindert und haben auch nicht dazu geführt, dass es jetzt ein ökologisches, neues Mobilitätskonzept gibt. Und Kleinstunternehmer und viele Freischaffende haben das Problem, dass ihre größten Ausgaben ihre eigenen Lebenshaltungskosten sind. Und die sind in der Regel nicht gedeckt durch die Hilfen. Sie sind auf Hartz IV verwiesen und zu den Tücken gehört, dass das Partnereinkommen mit angerechnet wird. Einem Künstler, dem alle Einnahmen wegbrechen, kann komplett der Grundsicherungsanspruch verweigert werden, weil seine Frau in der Pflege arbeitet.
Ist das ein theoretischer Fall?
Nein, mehrere Kunstschaffende haben mich darauf hingewiesen.
Sie plädieren dafür, den Lockdown sozial gerechter zu machen und solche Menschen besser zu stellen. Wie viel würde das kosten?
Um die gesamte Summe auszumessen, bräuchte man einen Regierungsapparat. Wir schlagen aber eine einmalige Vermögensabgabe für die reichsten 0,7 Prozent vor, mit der wir zu Einnahmen im dreistelligen Milliardenbereich kommen würden.
Sie wollen Millionäre richtig abzocken.
Bei Menschen ab zwei Millionen Euro Privatvermögen oder ab fünf Millionen Euro Betriebsvermögen wollen wir eine einmalige Vermögensabgabe von 10 Prozent erheben, die auf 30 Prozent ansteigt ab 100 Millionen. Die Abgabe kann auch über mehrere Jahre hinweg gestundet werden. Aber es ist nicht allein Geld. Während der Weltwirtschaftskrise in den USA hat ja Roosevelt sich nicht nur dafür entschieden, viel Geld in die Hand zu nehmen, sondern auch auf eine stärkere Regulierung der Finanzmärkte gesetzt. Jetzt haben wir durch Corona wieder eine enorme Krisensituation. Es liegt wieder ein Roosevelt-Moment in der Luft, es ist Zeit umzusteuern.
Sie werben in Ihrer Partei für eine künftige Regierung mit Grünen und SPD. Gibt es denn Sympathien bei diesen Parteien für Ihren Vorschlag einer Vermögensabgabe?
Bei der SPD sehe ich sehr wohl, dass sie sich auch Gedanken machen, wie die Krisenkosten zu decken sind. Bei den Grünen glaube ich, dass die das gerne über poetische Formulierungen lösen, aber nicht offensiv die Frage beantworten, wie man verhindert, dass die Krisenkosten auf die Ärmsten und die Beschäftigten abgewälzt werden oder auf Kosten des Klimaschutzes gehen.
Sehen Sie derzeit überhaupt eine Dynamik für Rot-Rot-Grün?
Ich sehe eine Notwendigkeit für soziale Mehrheiten.
Das ist noch keine Dynamik.
Wenn uns die letzten Monate eins gelehrt haben, dann dass Dynamiken ganz schnell entstehen können. Und welche Dynamik entsteht, wenn klar ist, wer bei der CDU auf Angela Merkel folgt, ist offen.
Ihr Wunschkandidat? Friedrich Merz?
Egal, wer von den Jungs das wird, keiner wird in der Lage sein, die Bindekraft bei den Wähler:innen zu entfalten, wie sie Merkel gerade aufgrund ihrer Krisenpolitik hat.
Kann sich eine rot-rot-grüne Dynamik nur aus einer Gegenbewegung zum neuen CDU-Vorsitzenden oder -Kanzlerkandidaten heraus entwickeln?
Nein, es gibt auch eine Chance, wenn nämlich die drei Parteien deutlich machen würden, was es alles zu gewinnen gäbe für die Vielen im Land.
Was denn?
Ein garantierter Schutz aller vor Armut. Ein Gesundheitswesen, das nicht immer am Limit arbeiten muss, sondern das gut ausgestattet ist. Dass wir Menschen mit mittleren Einkommen deutlich entlasten. Und natürlich, Zukunftssicherung durch Klimaschutz, Friedenspolitik und aktiver Abrüstungspolitik. Es gibt ganz viel zu gewinnen. Wenn sich alle Akteure diesem Ziel verpflichtet fühlten, könnte man auch dafür eine Begeisterung entfachen. Ich merke nur, dass aus den verschiedensten Gründen gerade bei vielen der Mut für dieses Werben fehlt.
Fehlt bei den Grünen der Mut oder fehlt die Begeisterung?
Am Ende des Tages werden sich die Grünen von Fridays for Future harte Fragen gefallen lassen müssen. Wenn es für soziale Mehrheiten links der Union reichen würde und sie trotzdem auf Schwarz-Grün setzen und damit vier weitere Jahre für den Klimaschutz verloren sind. Dann sind die Grünen in echter Erklärungsnot.
Die Skepsis vieler Grüner ist ja nicht unbegründet. In der Verteidigungspolitik, in der Außenpolitik gibt es relevante Differenzen zwischen Grünen und Linkspartei. Stichwort Aufrüstung, Stichwort Verhältnis zu Russland.
Das sind Felder, wo in der Tat unterschiedliche Dinge in unseren Wahlprogrammen stehen. Und es gibt auch Gründe, warum wir das Zwei-Prozent-Ziel ablehnen. Es ist doch offensichtlich, dass unsere Sicherheit nicht mit Armeen oder Bombern zu verteidigen ist, sondern wir gerade durch ein Virus bedroht werden. Das heißt, wir sollten eher unsere Zahlungen an die Weltgesundheitsorganisation aufstocken, anstatt auf Aufrüstung zu setzen. Und was Russland anbelangt: Vielleicht gibt es ja einen Punkt, wo man sich trifft. Nämlich in der Erkenntnis, dass bei aller Meinungsverschiedenheit Entspannungspolitik und Abrüstung wichtig sind.
Die Grünen-Vorsitzende Annalena Baerbock hat Ende Dezember getwittert, sie traue sich auch das Kanzler:innenamt zu. Würden Sie ihr das auch zutrauen?
Warum soll es sich in einer gemischten Doppelspitze nur der Mann zutrauen? Da sage ich als Feministin: Es ist total legitim und richtig, dass die Frau das für sich auch in Anspruch nimmt. Annalena hat stark aufgeholt in den letzten Monaten. Eigentlich sagen alle: Robert Habeck ist der Bekanntere, sie ist diejenige mit mehr Substanz.
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