Kritik an Israel wird schärfer: Die Zeit spielt für die Hamas
Zwei Monate nach dem Hamas-Überfall lässt das Leid der Zivilbevölkerung die Unterstützung für Israels Gegenangriff schwinden. Kann Israel gewinnen?
Das hinderte Benjamin Netanjahu am Dienstag nicht daran, ein positives Fazit zu ziehen: Zwei Monate nach dem grausamen Überfall der Hamas, bei der mehr als 1.200 Menschen ermordet wurden, sieht Israels Regierungschef seine Armee „auf dem richtigen Weg“. Die Freilassung von mehr als einhundert Geiseln durch einen Gefangenenaustausch sei auch dem militärischen Druck zu verdanken. Zudem seien 12 von 24 Bataillonskommandeuren der Hamas tot. Für Israels Führung, die seit dem 7. Oktober die Zerstörung der Terrorgruppe und die Befreiung der Geiseln zu den obersten Kriegszielen erklärt hat, augenscheinlich ein Erfolg.
Doch während israelische Soldaten nach wochenlangen Kämpfen im Norden nun in Südgaza vorrücken, wächst die internationale Kritik angesichts des Leids der Zivilbevölkerung und der tausenden zivilen Opfer, die Israels Armee für die Erreichung der Kriegsziele in Kauf nimmt. Zwei Drittel der mehr als 17.000 Getöteten sind nach Angaben des von der Hamas geleiteten Gesundheitsministeriums Frauen und Kinder.
Die Zahlen lassen sich nicht unabhängig überprüfen, sie könnten angesichts der tausenden Menschen, die noch unter Trümmern begraben liegen sollen, aber auch sehr viel höher liegen. Von der Erfüllung seiner Kriegsziele ist Israel indes noch weit entfernt. Je mehr die internationale Unterstützung für den Krieg in Gaza schwindet, desto mehr stellt sich die Frage, ob Israel diesen Krieg noch gewinnen kann.
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Was hat Israel bisher erreicht?
„Wir haben im Norden große Fortschritte erzielt“, sagt Kobi Michael vom Zentrum für Nationale Sicherheitsforschung der Universität Tel Aviv (INSS). In Gaza-Stadt und Umgebung hätten sich fast alle Regierungsgebäude und viele militärische Einrichtungen befunden. Dasselbe müsse in Chan Junis und danach in den übrigen Gebieten Gazas geschehen, bis Hamas-Anführer Jahia Sinwar und die Geiseln gefunden seien.
Doch es mehren sich die Stimmen, die das Ziel, die Terrorgruppe zu zerstören, infrage stellen. „Die totale Zerstörung der Hamas, glaubt jemand, dass das möglich ist?“, fragte der französische Präsident Emmanuel Macron am Rande der Weltklimakonferenz COP28. „Wenn, dann wird der Krieg zehn Jahre dauern.“
In der Macht der Armee liege nur ein „militärischer Sieg“, schränkt Kobi Michael ein. Und auch der scheint noch weit entfernt: Israelischen Schätzungen zufolge verfügt der bewaffnete Arm der Hamas über rund 30.000 Kämpfer. Bisher seien rund 5.000 getötet worden, berichtet die Washington Post unter Berufung auf drei Angehörige der israelischen Sicherheitsdienste. Zudem verfügt die Gruppe nach Angaben des INSS schätzungsweise noch über rund 15.000 Raketen. Noch immer werden israelische Städte mit Raketen angegriffen. Seit Beginn der Bodenoffensive wurden rund 90 israelische Soldaten getötet.
Es sei zwar möglich, die Anführer und Kämpfer der Hamas im Gazastreifen zu töten oder gefangenzunehmen, sagte der Islamwissenschaftler Guido Steinberg von der Stiftung Wissenschaft und Politik am Dienstag in einem Interview mit der Deutschen Welle. Die Hamas sei aber nicht nur eine militärische Organisation, sondern auch eine soziale Bewegung mit zahlreichen nichtmilitärischen Mitgliedern. Sie sei kaum vollständig zerstörbar und könne neue Anhänger rekrutieren.
Ibrahim Dalalsha, der Direktor des palästinensischen Thinktanks Horizon Center in Ramallah, sagt: „Die Hamas als politische Organisation und extremistische Ideologie lässt sich mit Waffen nicht zerstören, das wird nur mit einer besseren Idee gelingen.“
Der Terror rückt in den Hintergrund
Aktuell spielt die Zeit für die Hamas. Israels Verteidigungsminister Joav Galant sprach zuletzt von weiteren zwei Monaten Krieg. Bereits jetzt rücken aber die grausamen Terrorakte der Gruppe am 7. Oktober in der Wahrnehmung vieler zunehmend in den Hintergrund, es dominieren Bilder und Schlagzeilen über das Leid der Zivilbevölkerung in Gaza, wo sich laut UN-Angaben rund 1,9 Millionen Binnenvertriebene auf engstem Raum zusammendrängen. Doch um alle Verstecke der Hamas zu erreichen, die oft im Schutz ziviler Einrichtungen liegen, müsste die Armee dorthin vordringen.
Israel fordert die Menschen vor Offensiven mit Flugblättern und Textnachrichten zum Verlassen der Gebiete auf, bombardiert jedoch auch Orte ohne Warnung. Eine Fluchtmöglichkeit über die Grenze in den Sinai lehnt Ägypten hartnäckig ab. In der kleinen, von Israel ausgewiesenen Schutzzone nahe der Siedlung al-Mawasi an der Küste soll es keinerlei Schutz und kaum Nahrungsmittel geben.
Hilfsgüter kommen wegen israelischer Beschränkungen nur in geringer Menge über die Grenze. Laut UN-Nothilfekoordinator Martin Griffiths funktioniert die humanitäre Hilfe im Süden Gazas nur noch unregelmäßig. 38 Prozent der Menschen im Süden und 48 Prozent im Norden leiden laut dem Welternährungsprogramm schweren Hunger. Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, nannte die Situation gegenüber dem TV-Sender France24 „apokalyptisch“ und sieht „schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht“. Israel erwägt nach anhaltender Kritik laut Medienberichten nun erstmals seit Kriegsbeginn die Öffnung des Grenzübergangs Kerem Schalom für Hilfslieferungen.
Den Krieg im Süden ebenso hart zu führen wie bisher im Norden, stößt mittlerweile auch bei vielen westlichen Verbündeten auf Widerspruch. Die UNO bezeichnet die Zahl der zivilen Opfer als beispiellos in der jüngeren Geschichte. Selbst Israels wichtigster Verbündeter findet zunehmend deutliche Worte: Der US-amerikanische Außenminister Anthony Blinken sagte, Israel dürfe „nicht wiederholen, was im Norden passiert ist, wenn es um den Schaden der Zivilbevölkerung geht“.
UN-Generalsekretär António Guterres forderte derweil den Sicherheitsrat auf, eine „humanitäre Katastrophe“ zu verhindern. Israel warf ihm daraufhin vor, die Hamas zu unterstützen.
Und was kommt nach dem Krieg?
Wie es in Gaza nach dem Krieg weitergehen könnte, ist unklar. Viele fordern, die Gründung eines palästinensischen Staats endlich energisch voranzutreiben. Dass die schwache Palästinensische Autonomiebehörde „auf israelischen Panzern“ wieder nach Gaza komme, sei kaum vorstellbar, sagt Michael Milstein, Palästina-Forscher am Mosche-Dajan-Zentrum der Universität Tel Aviv. Ansätze wie internationale oder arabische Truppen hält er für „eine Illusion“. Chancen habe möglicherweise übergangsweise eine Technokratenregierung.
Israel bleibt selbst dann beschädigt, wenn es einen militärischen Sieg erreichen kann. Bisher ist nicht geklärt, wie die Hamas ihren Angriff unter den Augen von Israels hoch technisierten Sicherheitsapparat vorbereiten und umsetzen konnte. Dessen Abschreckungspotenzial dürfte nachhaltig verringert sein. Bleiben wird ebenfalls die Angst vieler Israelis, auch im jüdischen Staat nicht sicher leben zu können. Der angesichts des Gazakriegs weltweit aufflammende Antisemitismus macht die Sache nicht einfacher.
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