Krawalle in Leipzig: Einfach mal zuhören
Sachsens Ministerpräsident Kretschmer zeigt bei rechten Protesten Verständnis, Leipzigs linke Szene wird hingegen pauschal verurteilt. Das hilft niemandem weiter.
A ls im Mai deutschlandweit tausende Menschen, darunter zahlreiche Rechtsextreme, gegen das „de-facto-diktatorische Hygiene-Regime“ demonstrierten, war der sächsische Ministerpräsident Michael Kretschmer (CDU) nachdenklich. Ohne Mundschutz, dafür mit viel Empathie, sagte er, er wolle „verstehen, was die Menschen umtreibt“.
Nun, nach einem Wochenende der Eskalation in Leipzig, bei dem die Räumung einer Hausbesetzung zu tagelangen gewaltvollen Protesten führte, sagt Kretschmer über die Linken, die in Leipzig protestieren – nicht nachdenklich, sondern entschlossen: „Wir sagen diesen Menschen den Kampf an.“
Kretschmer positioniert sich eindeutig. Doch was wäre, wenn er versuchen würde, nicht nur Rechtsextreme und Verschwörungstheoretiker:innen zu verstehen, sondern auch Linksradikale, Hausbesetzer:innen, sogenannte Krawallmacher? Wenn er den Dialog nicht nur mit Rechten als „zwingende Voraussetzung dafür, dass dieses Land sich nicht weiter spaltet“, suchen würde, sondern auch mit jenen, die er noch weniger versteht?
Denn eigentlich wäre das politisch die klügste Variante: verstehen, woher die Wut kommt, um sie zu bekämpfen. Nehmen wir an, die Anliegen der Hausbesetzer:innen wären schon zu Beginn gehört worden, die Polizei hätte eine deeskalierende Strategie eingesetzt, Ministerpräsident Kretschmer und Oberbürgermeister Jung hätten versucht, zu „verstehen, was die Menschen umtreibt“: Hätte es die Eskalationen dann überhaupt gegeben?
Die klassische Eskalationsspirale
Was stattdessen passiert, ist die klassische Eskalationsspirale. Begonnen mit einem sozialen Problem, beantwortet mit einer friedlichen Hausbesetzung und dessen unfriedlicher Räumung, Repression, Gegenwehr, eskaliert bis hin zu sinnloser Gewalt. Die Ungehörten wurden wütend, es kam, was kommen musste.
Im Nachgang spricht die Gewerkschaft der Polizei von „wild gewordenen Horden“, die Polizei Sachsen retweetet einen Tweet, in dem vom „linken Pack“ die Rede ist. Wenig später, nach einer Reihe kritischer Reaktionen nimmt sie den Retweet zurück und löscht den Beitrag wieder. Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD) wiederum tut, was er tun muss, und verurteilt die Gewalttaten „aufs Schärfste“.
Dass sich die Politik öffentlich von der Gewalt distanzieren muss, ist klar. Doch Kretschmer geht noch weiter: Er spricht den Demonstrant:innen ab, dass sie politische Ziele wie bezahlbaren Wohnraum verfolgen würden. Damit delegitimiert er linke Forderungen – auch solche, die im legalen Rahmen erkämpft werden. Erneut wird eine heterogene linke Szene in Sippenhaft für die Taten Einzelner genommen.
Doch man kann die Gewalt verurteilen und gleichzeitig die Wut ernst nehmen. Denn selbst wenn alle Randalierer:innen festgenommen werden, die politischen Forderungen bleiben. Einen ganzen Stadtteil oder eine gesamte Szene hingegen pauschalisierend zu verurteilen, hilft niemandem weiter. Stattdessen müssen politische Vertreter:innen wie Kretschmer lernen, zuzuhören. Auch – oder erst recht – jenen, die sie nicht verstehen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“