30 Jahre Einheit in Leipzig: Das ist unser Haus

In Leipzig wird nicht nur in linken Kreisen mit Hausbesetzern sympathisiert. Der Kampf um die Häuser gilt auch als Auflehnung des Ostens.

Illustration: Illustration Michael Szyszka

LEIPZIG taz | Vor einigen Wochen telefonierte ich mit einem Mann, dessen Haus gerade besetzt wurde. Er, ein Westdeutscher, hatte das Haus in Leipzig, das schon seit Jahrzehnten leer stand, vor einigen Jahren gekauft – als eine Wertanlage. Nun hatten sich linke Aktivistinnen und Aktivisten darin eingerichtet. Aus den Fenstern hingen Banner mit kämpferischen Parolen.

Der Hausbesitzer erzählte mir, dass viele Journalisten bei ihm anriefen. Er würde sie alle abwimmeln. Auch mir erlaubte er nicht, aus unserem Gespräch zu zitieren, das hätte ja keinen Zweck. Er klang verbittert. Als hätte er das Gefühl, er sei hier nicht erwünscht. Als lehne sich diese Stadt, von der ihm doch ein Teil gehört, gegen ihn auf.

Kann das sein? Ich glaube, dass viele in Leipzig heimlich Sympathien für Hausbesetzungen hegen. Diese Sympathien kommen aus der radikalen Linken, ziehen sich durch studentische und Mittelschicht-Milieus und enden in der tiefen bürgerlichen Mitte.

Eine Hausbesetzungs-Partei, davon bin ich überzeugt, könnte in Leipzig eine Wahl gewinnen. Das liegt daran, dass die besetzten Häuser für eine Auflehnung des Ostens gegen den Westen stehen. Ich kann das erklären.

Die Person: Josa Mania-Schlegel, 28

Job: Reporter der Chefredaktion

Zeitung: „Leipziger Volkszeitung“

Erscheinungsort: Leipzig

Auflage: Rund 145.000

Der größte Coup Ihrer Zeitung: Ein Streitgespräch zwischen einer Connewitzerin und einem Polizisten. Das gibt es in Leipzig viel zu selten.

Region: Alles, was die Wiedervereinigung hätte sein können.

Wohin fahren die Menschen, wenn sie etwas erleben wollen? An die Seen, die uns die Braunkohlekonzerne übrig gelassen haben.

Autokennzeichen: In Leipzig fährt man ausschließlich Fahrrad.

„Denk ich an Deutschland im Jahr 2020, dann“ ... denke ich an ein Ostdeutschland, das besser durch die Krise kommt als die restliche Welt.

Es brauchte in diesem Jahr nur zwei besetzte Häuser, damit ein Hauch von Nachwendejahren durch die Stadt wehte. Die Besetzungen gingen stilecht vonstatten, mit VoKü am Bürgersteig und eben aus Fenstern gerollten Parolen. „Die Häuser denen, die drin wohnen“ und andere Slogans wurden entstaubt. Die Polizei rückte an, um die Besetzer zum Teil mit körperlicher Gewalt zu entfernen.

Einmal kamen zwanzig Polizeiwannen, um zwei Hausbesetzer festzunehmen. Vielen Leipzigern mutete das Vorgehen der Polizei unverhältnismäßig an.

Aber dann passierte das Unvermeidbare. Es entstanden ­Riots. Im Osten der Stadt und in Connewitz, wo die besetzten Häuser liegen, trafen Polizisten und Vermummte aufeinander. Es kam zu Gewaltausbrüchen, von denen beide Seiten sagten, die jeweils andere hätte sie provoziert. Und in Leipzig zählte man nun jene, die sich Straßenschlachten mit den „Cops“ lieferten, zu den Hausbesetzern. Die konnte man nicht gut finden. Oder doch?

Einige Tage nach den Krawallen saß ich mit Wolfgang Tiefensee vor dem Redaktionsgebäude der Leipziger Volkszeitung. Tiefensee, der in den Nachwendejahren erst Stadtrat, dann Oberbürgermeister der Stadt Leipzig gewesen war, erzählte mir, wie er in den Neunzigern mit Hausbesetzern verhandelt hatte. Er vermittelte zwischen Besetzern und Besitzern. Häufig durften die Besetzer bleiben. Dafür mussten sie das Haus instand halten oder renovieren.

Legitime Kritik

Tiefensee sagte, Hausbesetzer wiesen „zu Recht auf einen Missstand hin“. Es sei „legitim zu kritisieren, dass der Wohnungsmarkt so nicht funktioniert“. Und viele Leipziger würden sich doch „über verwahrloste Grundstücke und unsanierte, leere Häuser“ ärgern.

Einen ersten Beweis für die These des Ex-OBs bekam ich, als ich das Redaktionsgebäude wieder betrat. Da nahm mich unser Wachmann beiseite. Diese Gewalt gegen Polizisten, sagte er, die ginge gar nicht. Aber diese Hausbesetzer hätten schon irgendwie recht. Es könne nicht sein, sagte der Wachmann, der die DDR miterlebt hatte, dass jemand ein Haus so lang leer stehen lässt, bis sich der Weiterverkauf für ihn lohnt.

Ich hörte das in den folgenden Tagen immer wieder. Von Kollegen, die ich für eher konservativ halte. Von Freunden, die nie auf eine linksradikale Demo gehen würden. Und natürlich von all meinen linken Freunden.

Der Wachmann sagt, es könne nicht sein, dass ein Haus leer stehe, bis sich der Weiterverkauf lohne

Irgendwann begann ich bei vielen aktiv nachzufragen. Mittlerweile kann ich behaupten: Niemand in Leipzig hat etwas gegen Hausbesetzer. Der Hausbesitzer, der glaubte, in der ganzen Stadt sei niemand auf seiner Seite – er hatte recht.

Es gab schon einmal eine Zeit, in der Hausbesetzungen für eine bürgerliche Mitte interessant waren: das Westdeutschland der siebziger und achtziger Jahre. Wie viele Altbauwohnungen in Göttingen, Bremen oder Tübingen würde es heute nicht mehr geben, hätten sich damals nicht Hausbesetzer darin breitgemacht? Andernorts rissen Spekulanten ganze Dielen-und-Stuck-Quartiere nieder, um profitable Neubauten zu errichten.

30 Jahre neues Deutschland: Was ist das heute für ein Land? Lokalredakteur*innen aus dem Norden, Süden, Osten und Westen erzählen ihre wichtigsten Geschichten – in der taz am Wochenende vom 02. Oktober. Aus Brandenburg berichtet Judith Melzer-Voigt über den Wandel einer ostdeutschen Kleinstadt vom grauen Einerlei zu Bunt. Aus Baden-Württemberg berichtet Peter Schwarz über den Amoklauf von Winnenden und Corona-Leugner. Aus Niedersachsen berichtet Kathi Flau über ein gutes Rezept gegen Identitätsprobleme. Aus Sachsen berichtet Josa Mania-Schlegel über bürgerliche Sympathien für die Hausbesetzer von Connewitz – und, und, und... Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im praktischen Wochenendabo. Und rund um die Uhr bei Facebook und Twitter.

Natürlich ging es den Hausbesetzern von damals weniger darum, Altbauwohnungen zu retten, sondern man wollte alternative Lebenskonzepte formulieren. Auch heute „rettet“ kein Hausbesetzer einen Altbau. Die Besetzungen von heute sind eher symbolischer Natur. Aber sie verweisen auf eine Ungerechtigkeit, die viele Leipziger nachfühlen können. Denn die Hausbesitzer sind so gut wie immer: Westdeutsche.

Man muss im 30. Jahr der Einheit nicht mehr groß erklären, dass die Wiedervereinigung auch eine Vereinnahmung war. Das Hab und Gut der DDR, das ihren Bürgern gehören sollte, wurde auf einmal vom Westen verwaltet und aufgeteilt. Kaum eine ostdeutsche Familie hat heute etwas zu vererben. Und kaum ein Haus in der Leipziger Innenstadt hat einen ostdeutschen Besitzer.

Wenn jemand in Leipzig heute ein Haus besetzt und einen Leerstand anmahnt, dann bedroht er damit oft die Geldanlage eines Westdeutschen, der sich in den Wendejahren billig ein Haus gekauft hat, das heute vielleicht eine Million wert ist. Es ist dabei natürlich völlig egal, welche Herkunft jene haben, die das Haus besetzen.

Dass es in Leipzig kein breites Pro-Hausbesetzungen-Bündnis, eine Hausbesetzer-Partei gibt, liegt daran, dass mit linker Protestkultur nicht jeder etwas anfangen kann. Mit der Kritik am sich bereichernden Westen können aber viele mitgehen. Ginge es gegen den Westen, davon bin ich überzeugt, würden sich die Leipziger am liebsten gleich mit verbarrikadieren.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir würden Ihnen hier gerne einen externen Inhalt zeigen. Sie entscheiden, ob sie dieses Element auch sehen wollen.

Ich bin damit einverstanden, dass mir externe Inhalte angezeigt werden. Damit können personenbezogene Daten an Drittplattformen übermittelt werden. Mehr dazu in unserer Datenschutzerklärung.

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.