Internationaler Strafgerichtshof: Ein Haftbefehl und seine Folgen
Der IStGH erlässt einen Haftbefehl gegen den israelischen Ministerpräsidenten Netanjahu. Käme er nach Deutschland, stünde die Bundesregierung vor einem Dilemma.
Der Besuch begann spät und war schnell wieder vorbei. An einem Donnerstag im März, es war schon nach Mitternacht, landete Benjamin Netanjahu in Berlin. Nach Sonnenaufgang absolvierte er drei Termine: Erst besuchte er ein Holocaust-Mahnmal weit im Westen der Hauptstadt. Dann sprach er mit Bundeskanzler Scholz im Kanzleramt, anschließend traf er Bundespräsident Steinmeier. Am Abend war er dann schon wieder weg.
War es der letzte Deutschland-Besuch des israelischen Ministerpräsidenten für lange Zeit? Der Bundesregierung wäre es sicherlich recht, wenn sich der Gast so schnell nicht wieder ankündigt. Seit Donnerstag dieser Woche steht fest: Neue Reisepläne würden sie vor ein Dilemma stellen.
In Den Haag hat eine Vorprüfungskammer des Internationalen Strafgerichtshof (IstGH) Haftbefehle gegen Netanjahu, ebenso wie gegen seinen Ex-Verteidigungsminister Joav Galant und den Hamas-Militärchef Mohammed Deif erlassen. Letzteren hat Israel für tot erklärt. Die Haftbefehle gegen die beiden Israelis stützen sich auf zwei Vorwürfe, für die auf Grundlage des vom Ankläger vorgelegten Materials ein ausreichender Tatverdacht bestehe.
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Zum einen seien die israelischen Politiker für Kriegsverbrechen im Gazakrieg verantwortlich. Vorgeworfen wird ihnen, dass Israel die Versorgung der Zivilbevölkerung mit Lebensmitteln, Wasser, Energie und Medizin behindere. Es gebe keine militärischen Gründe, warum internationale Hilfsorganisationen bei der Versorgung der palästinensischen Zivilbevölkerung beeinträchtigt werden.
Zum anderen werden Netanjahu und Galant Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen. Die Unterernährung der Bevölkerung führe zum Tod von Menschen, einschließlich Kindern, was als Mord zu bewerten sei. Dass Ärzte wegen des Energiemangels ohne Narkose operieren und amputieren müssen, könne als unmenschlicher Akt bewertet werden. Für den Vorwurf, dass die Bevölkerung Gazas „ausgelöscht“ werden soll, sahen die Richter allerdings nicht genügend Indizien.
Orbán lädt Netanjahu demonstrativ nach Budapest ein
Die Vertragsstaaten des Gerichts, inklusive Deutschland, sind nun grundsätzlich verpflichtet, Netanjahu, Galant und Deif zu verhaften, wenn sie das jeweilige Staatsgebiet betreten. Das wäre auch Voraussetzung für eine mündliche Verhandlung vor dem IStGH und für eine mögliche Verurteilung. Aber wäre die Bundesregierung im Falle der Israelis zu solchen Verhaftungen bereit?
Fast 24 Stunden benötigte sie allein schon bis zu einer ersten öffentlichen Reaktion auf die Entscheidung aus Den Haag. Andere waren schneller. Ungarns rechtspopulistischer Regierungschef Viktor Orbán zum Beispiel kritisierte die Entscheidung scharf und lud Netanjahu demonstrativ nach Budapest ein. „Wir werden den Haftbefehl ablehnen, wenn er die Einladung annimmt“, sagte er. Komplett anders will es unter anderem die niederländische Regierung handhaben. Sie kündigte an: Wenn Netanjahu niederländischen Boden betritt, wird er verhaftet.
Für Deutschland ist die Situation besonders heikel. Einerseits gilt die Unterstützung Israels als deutsche Staatsräson, also als eine fundamentale politische Verpflichtung. Andererseits war Deutschland stets einer der wichtigsten Unterstützer des IStGH und kann daher dessen Entscheidungen nicht einfach ignorieren.
Sinngemäß steht das auch in einer Erklärung, die Regierungssprecher Steffen Hebestreit am Freitagvormittag veröffentlichte. Und weiter: „Die innerstaatlichen Schritte werden wir gewissenhaft prüfen.“
Eine halbe Stunde später, auf der turnusmäßig stattfindenden Regierungspressekonferenz in Berlin, gab Hebestreit auf Nachfrage nur einen knappen Ausblick darauf, wie diese Prüfung ausgehen könnte. „Es fällt mir schwer, mir vorzustellen, dass wir auf dieser Grundlage Verhaftungen in Deutschland durchführen“, sagte er mit Blick auf die Haftbefehle. Ansonsten hielten er und seine Kollegen aus den übrigen betroffenen Ministerien sich bedeckt.
Ob Netanjahu weiter in Deutschland willkommen ist? „Über Reisepläne des israelischen Ministerpräsidenten ist mir nichts bekannt.“ Ob deutsche Regierungsvertreter*innen ihn weiterhin in Israel besuchen? „Da kann ich hier keine generelle Aussage treffen.“ Und was genau will die Bundesregierung jetzt eigentlich prüfen? „Das kann ich hier nicht genauer ausführen. Aber es ist natürlich etwas, das unter Juristen in Deutschland nicht unumstritten ist.“
Den Haftbefehl gegen Putin begrüßte Deutschland
Um die Zuständigkeit des IStGH geht es wohl nicht. Israel selbst stellt sie zwar grundsätzlich infrage, weil es dem zugrundeliegenden völkerrechtlichen Vertrag, dem Römischen Statut, nicht beigetreten ist. Palästina hat das Statut aber 2016 ratifiziert und der Gerichtshof entschied deshalb schon 2021, dass er für Straftaten auf palästinensischem Boden oder durch Palästinenser zuständig ist.
Umstritten ist allerdings, ob dies auch für Staatsoberhäupter, Regierungschefs und Außenminister gilt. Grundsätzlich genießen diese völkerrechtliche Immunität – das heißt, sie können von anderen Staaten grundsätzlich nicht festgenommen werden. Damit soll der diplomatische Verkehr geschützt werden.
Im Römischen Statut ist zwar geregelt, dass die Immunität nicht gilt, wenn einem Staatsoberhaupt oder Regierungschef Kriegsverbrechen, Völkermord oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit vorgeworfen werden.
Es ist aber immer noch umstritten, ob diese Durchbrechung der Immunität nur für Politiker der 124 Vertragsstaaten gilt oder für alle Staats- und Regierungschefs weltweit. Nach Auffassung des IStGH gilt Letzteres. Das Gericht argumentiert mit dem Völkergewohnheitsrecht. Nur deshalb war es ihm auch möglich, 2023 gegen Wladimir Putin einen Haftbefehl wegen verschleppter ukrainischer Kinder zu erlassen – eine Entscheidung, die die Bundesregierung begrüßte.
Manche Völkerrechtler wie der Wiesbadener Rechtsprofessor Matthias Friehe halten diese Argumentation allerdings für falsch. Da noch nie ein amtierendes Staatsoberhaupt nach Den Haag ausgeliefert wurde, könne es gar kein Völkergewohnheitsrecht geben.
Welcher Argumentation sich die Bundesregierung diesmal anschließt, könnte Gegenstand der laufenden Prüfung sein. Wie lange sie dafür noch braucht, nachdem die Haftbefehle doch schon vor Monaten in Den Haag beantragt worden waren? „Das wird sicherlich nicht innerhalb von wenigen Tagen passieren, aber es wird auch nicht ewig dauern“, sagte Regierungssprecher Hebestreit am Freitag. „Und dazwischen werden wir uns dann äußern müssen und äußern wollen.“
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