Impfgerechtigkeit und Priorisierung: Pragmatisch und ungerecht
Einfach alle ohne Reihenfolge zu impfen, klingt verheißungsvoll. Aber dabei bleiben die Schwächeren auf der Strecke.
S achsen will an der Grenze zu Tschechien, wo die Coronazahlen kaum kontrollierbar sind, die festgelegte Impfreihenfolge aufheben. Alle ab 18 aufwärts sollen so schnell wie möglich geimpft werden. Warum nicht gleich so, rufen jetzt viele – und warum nicht überall? Wir haben jetzt doch gemerkt, dass die deutsche Impfbürokratie dem Virus nicht gewachsen ist. Können wir jetzt nicht einfach alles in die Oberarme drücken, was geht – statt darauf zu warten, dass auch die letzte Greisin ihren Weg zum Impfzentrum gefunden hat?
Nein, nicht ganz. Es bleibt richtig, die am stärksten Gefährdeten zuerst zu impfen. Jede andere Lösung – etwa eine Priorisierung nach Verbreitungswahrscheinlichkeit – ist nicht nur ethisch schwer zu vertreten.
Es steckt auch eine andere Form der Gerechtigkeit in der Priorisierung: Sie soll gewährleisten, dass sich nicht die Stärksten vordrängeln. Die vielen Beispiele von Kommunalpolitikern und anderen ehrenwerten Sich-wichtig-Nehmern zeigen, dass diese Gefahr sehr groß ist.
Und sie wird wachsen, wenn die HausärztInnen das Impfen übernehmen. Es mag pragmatisch und angebracht klingen, das Impfen in die Praxen zu verlegen. Aber wer kontrolliert eigentlich, ob dort tatsächlich das größte Risiko entscheidet – und nicht etwa eine Privatversicherung oder andere Virus-fremde Erwägungen?
Das bisschen Impfstoff, das Deutschland sich gesichert hat, findet seinen Weg quälend langsam zu den Berechtigten – die neuen Mutanten sind schnell. Der Druck, die Impfreihenfolge zu realitätsfernem Gedöns zu erklären, wächst. Die Notmaßnahme in Sachsen wird kein Einzelfall bleiben.
Wenn aber die Priorisierung massenhaft unterlaufen wird, muss niemand lange raten, wen das treffen wird: die schlecht Artikulierten mit Vorerkrankungen. Das sind meist die Ärmeren, oft MigrantInnen, ohne institutionelle Zugänge. Sie bekommen den rettenden Stoff dann als Letzte oder Vorletzte. Wenn Covid-19 sie nicht vorher erwischt hat.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nach dem Anschlag in Magdeburg
Rechtsextreme instrumentalisieren Gedenken
Anschlag in Magdeburg
„Eine Schockstarre, die bis jetzt anhält“
Bundestagswahl am 23. Februar
An der Wählerschaft vorbei
Erderwärmung und Donald Trump
Kipppunkt für unseren Klimaschutz
EU-Gipfel zur Ukraine-Frage
Am Horizont droht Trump – und die EU ist leider planlos
Wirbel um KI von Apple
BBC kritisiert „Apple Intelligence“