Identitätspolitik versus Klassenkampf: Etablierter Kampfbegriff
In der Linken wird mal wieder eine Spaltung herbeigeredet. Dabei gehören Verteilungs- und Anerkennungspolitik seit jeher zusammen.
Es gibt diesen zynischen Running Gag, dass die Linke sich hervorragend selbst spalten kann. Dass das linke Projekt nicht vorankommt, weil sich die Bewegung in Splittergruppen und Lager zerteilt. Da mag etwas dran sein. Aber manche Spaltungen gibt es, andere werden herbeigeredet. Zum Beispiel, weil man sich bestimmte Teilbereiche linker Politik gerne wegwünschen will.
So eine Spaltung wollen einige Zeitungstexte in den vergangenen Wochen wieder identifiziert haben. Zwischen denen, die etwas namens Identitätspolitik befürworten, und denen, die es ablehnen. Dass es zum Bruch komme zwischen jüngeren Linken, denen Antirassismus und Feminismus wichtig seien, und der älteren Generation mit ihrer Politik der ökonomischen Machtverhältnisse („Klasse“). Derlei Thesen sind in der taz zu finden und woanders. Das Problem: Je öfter man das behauptet, desto eher trägt man genau zu einer Spaltung bei.
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Der Begriff Identitätspolitik taucht ab den 90er Jahren als identity politics im englischsprachigen Diskurs auf; in akademischen Texten als wertfreier oder affirmativer Überbegriff für soziale Bewegungen von Minderheiten und für sozialwissenschaftliche Disziplinen, die aus ihnen hervorgehen. African-American Studies, Women’s Studies und Queer Studies sind zu diesem Zeitpunkt schon einige Jahrzehnte alt und mittlerweile in einem begrenzten akademischen Rahmen anerkannt. Das macht einen Überbegriff nötig für den Gegenstand, den sie alle beforschen: identity politics.
Parallel etabliert sich derselbe Begriff aber noch mit einer völlig anderen Bedeutung und Intention. Konservative sehen in identity politics Partikularinteressen mit zersetzender Wirkung auf die Gesellschaft. US-Konservative – die sich den größten Teil der 90er Jahre in der Opposition befinden –, aber auch einige Linke veröffentlichen Warnschriften etwa gegen Quoten und Multikulturalismus.
Sorge um die nationale Einheit
Identity politics wird zum Kampfbegriff. Die Konservativen behaupten, die Förderung diskriminierter Gruppen werde in deren Bevorzugung umkippen. Sie warnen, dass Identität – vor allem racial, aber auch gendered – das universelle „Amerikanersein“ als Grundlage für Politik ablösen und so die nationale Einheit der USA gefährden könnte. Eine Einheit, die man sich als weiß-männlich dominiert vorstellte.
Wer nicht um nationale Einheit besorgt war, fand einen anderen Vorwurf. Linke sahen in Identitätspolitik etwas, das die traditionelle linke Verteilungspolitik verdrängte. Der Fokus auf gender und race und auf Anerkennung ginge zulasten der Kategorie class und von Eigentumsfragen.
Ende der 90er wehrt sich Nancy Fraser, eine hierzulande oft rezipierte linke US-Philosophin, gegen diese „falschen Gegensätze“. Fraser argumentiert, dass sich Verteilungspolitik und Anerkennungspolitik nicht ausschließen, und schlägt Teilhabe als verbindenden analytischen Begriff vor. In dem Moment, da für einen afroamerikanischen Wall-Street-Banker kein Taxi anhalte, müsse man „jenseits der Verteilung von Rechten und Gütern denken und kulturelle Wertesysteme untersuchen“.
Eigentlich war dieser Vermittlungsversuch nie nötig. Selbstverständlich ging es der antirassistischen US-Bürgerrechtsbewegung um Anerkennung und um Verteilungsfragen zu Kapital, Wohnraum, Bildung und Gesundheit; und natürlich ging es Frauenbewegungen jenseits wie diesseits des Atlantiks um Anerkennung und um finanzielle Autonomie.
Und dennoch kehrten die „falschen Gegensätze“ in den folgenden Jahrzehnten immer wieder. Hier „echte linke Politik“ mit Drecksarbeit und Besitzverhältnissen und da Identitätspolitik mit ihren Quoten und Schreibweisen sowie ihrer Repräsentation in den Medien – auch in Deutschland, wo besonders in den letzten Jahren wiederholt Verteilungspolitik und Anerkennungspolitik als gegensätzlich behauptet worden sind oder die Belange von Frauen, queeren Menschen oder nichtweißen Gruppen als Widerspruch zu den Bedürfnissen des „kleinen Mannes“, also ungefähr des weißen Nichtakademikers auf dem Land.
Ein rechtes Feindbild
Das ist ein Phänomen der AfD-Ära. Der Rechtspopulismus konstruiert ein Feindbild „urbaner Elite“ – und serviert dieses seiner Zielgruppe. Schaut her, sie studieren, sie verachten die kleinen Leute, und sie reden über Gender. Und diese Taktik findet Widerhall.
Im November machte Ex-SPD-Chef Sigmar Gabriel in einer Rede ein „Überhandnehmen von Themen wie Schwulenrechte, Gleichstellungsrechte, Migration“ für die Misere seiner Partei verantwortlich: „Die Arbeiterpartei Deutschlands ist derzeit die AfD.“
Es sind nie die eigenen Versäumnisse, es ist die Identitätspolitik, die die Rechten stärkt. Für manchen ist sie schon dasselbe wie rechte Politik. „Die einen sagen, man wisse nicht mehr, in welchem Land man lebt, die anderen bekämpfen alte weiße Männer“, sagte der grüne Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer voriges Jahr, nachdem er sich online darüber echauffiert hatte, dass die Deutsche Bahn bei den Fotomodellen für ihre Werbung auf Diversität achtet. „Und gemeinsam haben die Identitätspolitiker es ziemlich weit damit gebracht, uns zu spalten.“
Neulich stand in der taz: „Mit einer Biografie als schwuler, urbaner Migrant lässt sich auf den Aufmerksamkeitsmärkten mehr Kapital generieren als mit einem Dasein als Normalo in Eisenhüttenstadt.“ Dieser Satz ergibt nur Sinn, wenn man die Setzung übernimmt, dass hier zwei sauber getrennte Angelegenheiten zueinander in Konkurrenz stünden. In Wahrheit existieren Sexismus, Rassismus und die Heteronorm überall da, wo sich auch Klassenfragen stellen: in Berlin wie in Eisenhüttenstadt, Gelsenkirchen oder Neustadt an der Weinstraße.
Auch gibt es längst Denkangebote, die einen Blick auf all diese Dimensionen gleichzeitig möglich machen. Frasers Begriff der Teilhabe ist eines. Ein anderes ist das Konzept der multiplen Krise, das annimmt, dass sich Finanzkrise, Nationalismus, Klima, Rassismus und Sexismus wechselseitig bedingen. Identitätspolitik als wertneutraler Begriff spielt im deutschsprachigen Diskurs quasi keine Rolle. In den Sozialwissenschaften ist statt von Identität üblicherweise die Rede von sozialer Positionierung. Von den beiden Varianten des englischen identity politics hat sich in Deutschland nur die eine etabliert: der Kampfbegriff. Das ganze Wortfeld ist geprägt von Angriff und Verteidigung.
Feindbild im eigenen Lager
Wer einer Spaltung entgegenwirken will, wer eine wirkliche Debatte möchte, verzichtet besser auf einen Begriff, der nur dazu in der Lage ist, zu spalten und lächerlich zu machen. Es sei denn, genau das wäre die Intention: ein Feindbild im eigenen Lager zu schaffen. Man packt ein Paket aus Gendersternchen, Quoten- und Repräsentationsforderungen, Antirassismus, Diversityprogrammen und ein paar mehr oder weniger gut gelungenen Witzen über alte weiße Männer. Man klebt das Etikett „Identitätspolitik“ drauf und assoziiert alles, was drinsteckt, mit Sprechverboten, mit Begriffen wie Zensur und Diktatur und macht es obendrein für das Ende linker Verteilungspolitik verantwortlich.
Das ist eine Taktik, die – egal ob mit Absicht oder nicht – Kritik am patriarchalen und kolonialen Status quo unsagbar macht, die Menschen verleumdet; die einen Großteil von dem diskreditiert, was heute das Projekt soziale Gerechtigkeit ausmacht. Wozu diese Taktik hingegen nicht taugt: zeitgemäße Klassen- und Verteilungspolitik zu entwerfen.
Ansätze wie Gender-Mainstreaming, kritisches Weißsein oder Queer-Theorie führen zum Nachdenken über Privilegien und zur Frage, wer spricht. Das ist aber nicht dasselbe wie ein Sprechverbot. Das zu behaupten, ist eher Selbstschutz, weil diese Fragen etwas Hässliches offenlegen, das nicht vom individuellen Selbstbild jeder*jedes Einzelnen zu trennen ist. Unbestreitbar gibt es jeweils verdaulichere und radikalere Auslegungen, ob nun von Antirassismus oder von Feminismus, queerer Politik oder Klassenkampf.
Zerwürfnisse über einzelne Forderungen und Thesen wird es immer geben. In den Kernpunkten der Analyse mag sich die Mehrheit zwar mittlerweile einig sein: dass Diskriminierung existiert, und zwar strukturell, und dass sie nicht durch Abwarten weggeht. Dennoch sorgen konkrete Forderungen für Streit und setzen Fliehkräfte frei. Das liegt in der Natur des politischen Prozesses und ist aus der Debatte über die Gleichstellung von Frauen altbekannt – spätestens seit eine Aktivistin 1968 eine Tomate in Richtung der männlichen Genossen warf, weil diese ein Desinteresse an Frauenfragen zur Schau stellten. Warum sollte es bei der Debatte über die Gleichstellung Schwarzer Menschen und People of Color anders sein?
„Black Lives Matter“ oder #MeToo sind nichts Überraschendes, sie sind Momente in einem Prozess, der seit Jahrzehnten im Gang ist, der patriarchale und koloniale Gewissheiten herausfordert – und der Teil linker Politik ist, weil: Welcher denn sonst? Wer das nicht anerkennen mag und stattdessen linke Themen gegeneinander ausspielt, handelt fahrlässig. Oder mit Absicht.
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