Historiker Traverso über den 7. Oktober: „Ich bin von Deutschland sehr enttäuscht“
Das Massaker der Hamas am 7. Oktober als Pogrom zu bezeichnen, ist falsch, meint der Historiker Enzo Traverso. Ein Gespräch über Krieg und Erinnerung.
taz: Herr Traverso, Sie haben als Historiker viele Bücher über Auschwitz und die Aufarbeitung der NS-Geschichte geschrieben. Nun sagen Sie, die Erinnerung an die Schoah werde missbraucht. Was meinen Sie damit?
Enzo Traverso: Die Art und Weise, wie die Ereignisse des 7. Oktober dargestellt wurden und werden, bereitet mir Unbehagen. Der Angriff der Hamas wurde als größtes Pogrom gegen Juden seit der Schoah bezeichnet, und damit wurde das israelische Vorgehen in Gaza gerechtfertigt. Dieses Framing wurde von vielen westlichen Regierungschefs und Staatsoberhäuptern aufgenommen und praktisch Allgemeingut.
taz: Was ist falsch daran?
Traverso: Ein Pogrom richtet sich gegen eine unterdrückte Minderheit, die praktisch keine Möglichkeit hat, sich dagegen zu wehren. Sind das die Israelis von heute? Nein. Außerdem wird damit eine direkte Verbindung vom 7. Oktober zum Holocaust gezogen.
67, italienischer Historiker, hat über Auschwitz und die Moderne, die Intellektuellen und den Holocaust geforscht. Seit 2013 ist er Professor an der Cornell University in New York. Zuletzt veröffentlichte er den Essay „Gaza im Auge der Geschichte“.
taz: Sehen Sie am 7. Oktober keinen Antisemitismus am Werk?
Traverso: Durchaus. Aber er ist in erster Linie ein Ergebnis der Besatzung. Ich bin überzeugt, dass sich der Hass der meisten Menschen in Palästina gegen Israelis richtet, weil sie Bürger jenes Landes sind, das sie unterdrückt. Nicht, weil sie Juden sind.
taz: In Deutschland bezweifeln das manche.
Traverso: Ich habe die deutsche Erinnerungspolitik lange sehr bewundert. Ich bin schließlich Bürger eines Landes, das sich nie wirklich mit seiner Vergangenheit auseinandergesetzt hat. Es gibt in ganz Italien kein einziges Denkmal zur Erinnerung an die Gewalt des Faschismus – schon gar nicht zur Erinnerung an das Massaker von Zeret in Äthiopien von 1935, das nach heutigen Maßstäben wohl als Völkermord anzusehen wäre, oder an die italienischen Konzentrationslager in Libyen.
taz: Stattdessen steht in Rom vor dem viel besuchten Olympiastadion immer noch ein Obelisk, der „Mussolini Dux“ feiert …
Traverso: Genau. Wenn ich in Berlin bin, steht am vielleicht zentralsten Ort der Stadt ein Holocaustmahnmal. Für viele Menschen war Deutschland deshalb ein Vorbild für Erinnerungspolitik – ein Land, dem es gelungen war, die schrecklichsten Seiten seiner Geschichte zu integrieren. Aber jetzt bin ich sehr enttäuscht.
taz: Warum?
Traverso: Ich weiß, dass viele in Deutschland die Dinge so sehen wie ich – auch jüdische Deutsche und Israelis, die in Deutschland leben. Dennoch gibt es keine öffentliche Debatte über das, was gerade in Gaza passiert. Selbst die deutsche Presse, die ich, soweit ich sie verfolgen kann, sehr schätze, führt sie nur sehr eingeschränkt. Ich würde mir eine öffentliche Debatte wünschen, die der realen Vielfalt der deutschen Gesellschaft entspricht. Und ich sehe, wie diese gewaltige Arbeit der Erinnerung an die Schoah – die auch eine Arbeit im Dienste der Demokratie war – in ihr Gegenteil verkehrt wird. Sie wird dazu benutzt, um Ungleichheit, Unterdrückung und Kolonialismus zu legitimieren. Nicht nur bei Ihnen in Deutschland. Aber in Deutschland ist das eklatant.
taz: Was meinen Sie mit Kolonialismus?
Traverso: Der Zionismus hat eine widersprüchliche Geschichte. Er entstand in Mitteleuropa und wurde in deutscher Sprache formuliert. Einerseits war er eine jüdische Version der europäischen Nationalismen jener Zeit. Die angebliche Überlegenheit Europas über Afrika und Asien war fester Bestandteil dieses Denkens. Der Zionismus war ein Kind dieser europäischen Kultur. Andererseits war es der Nationalismus einer unterdrückten Minderheit und insofern eine nationale Befreiungsbewegung.
taz: Und heute?
Traverso: Der Zionismus, der überlebt hat, ist ein kolonialer Nationalismus. Er schließt alle, die nicht jüdisch sind, aus. Denn vollwertiger israelischer Staatsbürger zu sein ist ans Jüdischsein gebunden – das gilt immer noch, auch wenn viele Israels nicht gläubig sind und erhebliche Probleme mit ihren orthodoxen Landsleuten haben. In Israel leben die schlimmsten Seiten dessen fort, was der Nationalismus in Europa hervorgebracht hat.
taz: Die Solidarität mit Israel ist Teil der deutschen Staatsräson. Was soll falsch daran sein?
Traverso: Diese Staatsräson essentialisiert Israel, indem sie eine Art ontologische Unschuld und damit eine grundsätzlich wohltätige Natur postuliert. Damit wird der Antisemitismus, der Juden als ein bösartiges Wesen stigmatisiert, nur in sein Gegenteil verkehrt. Dieser Essentialismus ist absurd: Juden sollten, wie alle Menschen, für das, was sie tun, beurteilt, bewundert, kritisiert oder verurteilt werden. Nicht für das, was sie sind.
taz: Das hat Merkel mit dem Begriff sicher auch nicht gemeint.
Traverso: Ich unterstelle der früheren Kanzlerin Merkel wie auch Kanzler Scholz, der ihre Formel wiederholt hat, keine böse Absicht. Aber unabsichtlich macht dieser Begriff klar, dass wir damit eine Schattenzone der Demokratie betreten. Staatsräson bedeutet: Es gibt nationale Interessen, die über der Demokratie und über den Gesetzen stehen, die für alle Bürger gelten. Die bedingungslose Unterstützung Israels als Staatsräson bedeutet: Israel darf machen, was es will. Das steht in absolutem Widerspruch zu der Kultur, die aus der historischen Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus hervorgegangen ist: eine Demokratie zu schaffen, die offen und pluralistisch ist. Damit einen weiteren Genozid zu rechtfertigen, ist brandgefährlich – erst recht in einer Situation, in der Europas Rechte immer größere Erfolge feiert.
taz: Sie sprechen von Genozid?
Traverso: Als Historiker bin ich sehr vorsichtig mit dem Begriff, er wird oft missbraucht. Aber die UN-Konvention von 1948 sagt sehr genau, was ein Genozid ist. Und das entspricht dem, was heute in Gaza passiert. Gaza wird in einer Weise zerstört, die den Palästinensern ihre Lebensbedingungen raubt. Die Infrastruktur ist zerstört, Krankenhäuser werden zerbombt, während wieder Krankheiten wie Polio ausbrechen. Die Menschen hungern, aber die Lastwagen mit Hilfsgütern wie Medikamenten und Nahrung werden blockiert. Zum Genozid gehört auch die Zerstörung der Elite einer Gesellschaft. In Gaza wurden fast 200 Journalist:innen getötet. Das alles lässt sich nicht rechtfertigen – auch nicht damit, dass man die Hamas zerschlagen müsse.
taz: Muss man deshalb von einem Genozid sprechen?
Traverso: Ich finde es uneingeschränkt legitim, dieses Wort zu benutzen. Und ich stehe damit keineswegs allein: Raz Segal, der Professor für Holocaust- und Genozidstudien an der Stockton University ist, nennt Gaza „einen Genozid wie aus dem Lehrbuch“. Omer Bartov, einer der renommiertesten Forscher auf demselben Feld, teilt diese Ansicht. Und es hat politische Folgen, dieses Wort zu benutzen: Einen Genozid muss man nämlich stoppen.
taz: Die Väter und Mütter der UN-Konvention hatten den Holocaust vor Augen, als sie kurz nach dem Ende der NS-Herrschaft ihre Definition eines Genozids festlegten. Manche finden deshalb, der Holocaust werde relativiert, wenn man Israel einen Genozid vorwirft …
Traverso: Wir haben uns in der öffentlichen Wahrnehmung angewöhnt, Genozid und Holocaust gleichzusetzen. Ja, der Holocaust gilt als Paradebeispiel für einen Völkermord und als Musterfall, um andere Genozide zu verstehen. Aber der Holocaust war nicht der einzige Genozid. Die Geschichte ist leider von Genoziden durchzogen, auch wenn nicht alle die gleiche Dimension hatten. Der deutsche Völkermord an den Herero und Nama 1900 bis 1904 kostete 80.000 Menschen das Leben. Das ist eine andere Dimension als die Vernichtung von 6 Millionen jüdischen Menschen in Europa. Aber es war ein Genozid.
taz: Netanjahu und andere israelische Politiker begründen ihre Politik häufig mit dem Holocaust: So etwas werde man nie wieder zulassen. Ist das nicht verständlich?
Traverso: Mit der Erinnerung an den Holocaust wird heute leider auch die Unterdrückung der Palästinenser gerechtfertigt. Im Westjordanland herrscht ein System der Apartheid, das ist eine Tatsache, das haben die UN oder Amnesty hinreichend dokumentiert. Aber diese Apartheid wird gerechtfertigt mit dem, was Juden in der Geschichte widerfahren ist. Diese Art der Erinnerung, die alles, was Israel tut, mit der Schoah rechtfertigt, hat aus meiner Sicht eine schreckliche Folge: Sie wertet die Schoah ab. Sie trägt zum Antisemitismus bei, nicht zuletzt in der arabischen Welt. Und sie ist Wasser auf die Mühlen all derer, die die Vernichtung der Juden ganz leugnen und zur reinen Erfindung erklären.
taz: Wie wird die Region, wie werden Israel und Palästina aus diesem Krieg hervorgehen?
Traverso: Auf mittlere Sicht bin ich sehr pessimistisch, ich sehe keine Hoffnung. Keiner der Akteure in diesem Konflikt hat eine Strategie: Nur die extreme Rechte in Israel hat eine: Sie will alle Palästinenser vertreiben und Gaza wieder besiedeln, also kolonisieren. Aber das wird schwierig, und sie werden auch nicht zwei Millionen Menschen umbringen können. Die USA haben keine Strategie, und die Palästinenser werden zum Terrorismus zurückkehren. Ich sehe nur noch mehr Zerstörung und Gewalt.
taz: Und langfristig?
Traverso: Langfristig muss es eine Lösung geben. Ich sehe keine andere, als dass sich alle Beteiligten klar werden, dass dieses Stück Erde von zwei Völkern bewohnt wird. Beide haben das Recht dazu und müssen folglich lernen, zusammenzuleben. Sich im 21. Jahrhundert als homogene Gesellschaft zu definieren und nach außen abzuschließen, ist eine Verirrung. Das ist eine existenzielle Gefahr für Israel, seine größte. Wo es keinen Pluralismus gibt, bleibt nur Autoritarismus übrig. Warum wohl ist Giorgia Meloni von Israel so begeistert?
taz: Warum?
Traverso: Sie sieht in Israel verwirklicht, was sie sich für Italien ebenso wünscht: einen exklusiv christlich-ethnischen Staat. Aber das ist absolut rückschrittlich. Schlimmer, es ist selbstmörderisch. Auch aus Italien wird langfristig ein Apartheidstaat werden, wenn es sein Staatsbürgerschaftsrecht nicht ändert.
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