Hilfslieferungen für den Gazastreifen: Kriminelle Geschäfte mit dem Hunger
Laut Berichten aus dem Gazastreifen wird ein Großteil der Hilfslieferungen von Banden geplündert – teils unter den Augen der israelischen Armee.
Phillipe Lazzarini, der Chef der UNWRA, der UN-Organisation, die für die palästinensischen Flüchtlinge im Gazastreifen zuständig ist, schlug Mitte November Alarm, als an einem Tag von 109 durchgelassenen Lastwagen 97 ausgeraubt wurden. Die Fahrer wurden von maskierten Männern mit gezogenen Waffen angegriffen. Lazzarini sprach von einem totalen Zusammenbruch von Recht und Ordnung, ohne über die Täter nähere Angaben zu machen.
Nachdem die von der Hamas kontrollierte Polizei im Gazastreifen immer wieder das Ziel von israelischen Angriffen geworden waren, sind die Polizisten abgetaucht. Noch vor vier bis fünf Monaten waren die Hilfskonvois begleitet worden. Das sei aber vorbei, erklärte Lazzarini.
Derweil sind es ohnehin zu wenige Lkw, die für die Versorgung der Bevölkerung von 2,2 Millionen Menschen im Gazastreifen über die Grenze kommen. Anfang November waren es laut UN-Angaben im Schnitt weniger als 70 Lkws am Tag mit Hilfslieferungen, benötigt würden mindestens 500.
Viele haben Angst, über die Plünderer zu sprechen
Für die Fahrer der Lkw ist eine Fahrt in den Gazastreifen eine Fahrt ins Ungewisse. „Natürlich haben die Fahrer der Hilfsgüter Angst. Sie riskieren ihr Leben. Sie wissen nicht, ob sie von der Tour und den bewaffneten Banden lebend zurückkehren“, erzählt Adel Amr von der palästinensischen Speditionsgewerkschaft gegenüber der Nachrichtenagentur Reuters.
Währenddessen stehen Menschen in Khan Yunis verzweifelt stundenlang nach Nahrungshilfslieferungen an, und der Frust ist groß. Sie haben Angst, über die Banden zu sprechen. Stattdessen reden sie abstrakt von den Händlern, denen die Plünderer ihre Waren verkaufen und die sie wiederum für viel Geld auf den Märkten weiter feilbieten. „Wir haben kein Geld, irgendetwas zu kaufen. Sie stehlen alles und verkaufen es auf dem Markt“, fasst Udai Nabhan dieses System gegenüber einem vom Autoren für diese Recherche beauftragten Kameramann zusammen.
„Wir sterben hier vor Hunger, wegen der korrupten Händler, die im Namen der Palästinenser stehlen. Sie sollten sich schämen. Möge Gott sie zur Verantwortung ziehen“, sagt Abdallah Saad. Und Salwa Al-Maghari fügt hinzu, dass sie hier seit Langem stehe, aber noch nichts abbekommen habe. „Stattdessen verkaufen sie die Güter an uns. Wenn ihr sie verkaufen wollt, dann gebt uns ein Einkommen. So haben wir weder ein Einkommen noch Hilfsgüter“, schildert sie voller Wut.
Internationale Hilfsorganisationen haben immer wieder von der israelischen Armee gefordert, als Besatzungsmacht für die Sicherheit der Konvois zu sorgen. Die Washington Post zitiert aus einem internen UN-Memo, das der Zeitung vorliegt. Dort heißt es, dass die kriminellen Banden direkt oder indirekt vom Wohlwollen der israelischen Armee profitierten und sogar von ihr beschützt würden. Danach gebe es sogar eine Art militärisches Lager der Banden, „in einem Gebiet mit eingeschränktem Zugang, kontrolliert und patrouilliert von der israelischen Armee“.
Wer genau hinter den Banden steckt, bleibt nebulös
Auch die Plünderungen selbst fänden in einem Gebiet statt, das von der israelischen Armee direkt kontrolliert werde. Die Armee streitet das ab. In einer Erklärung von ihr heißt es, die Truppen hätten „gezielte Gegenmaßnahmen“ gegen die Plünderer unternommen, „mit der Betonung auf Terroristen abzuzielen und Kollateralschäden bei den Hilfslieferungen und Elementen der internationalen Gemeinschaft zu verhindern“.
Doch die Washington Post hat mit über 20 Zeugen von Mitgliedern internationaler Hilfsorganisationen über palästinensische Geschäftsleute und Spediteure bis hin zu Augenzeugen der Überfälle gesprochen, die eine andere Geschichte erzählen. Jan Egeland, der Generalsekretär des Norwegian Refugee Council schilderte der Zeitung, dass er bei einer Fahrt in den Gazastreifen, weniger als einen Kilometer vom israelischen Grenzübergang entfernt, Männer mit Knüppeln am Straßenrand gesehen hätte. Mehrere Lkws seien kurz darauf an dieser Stelle angegriffen worden.
„In dieser Enklave ist es unmöglich, irgendetwas ohne israelisches Wissen zu unternehmen“, erklärte Egeland gegenüber der Washington Post. Auch Adham Shuhaibar und Qaher Hameed, beides palästinensische Spediteure, berichten der Zeitung, dass ihre Lkws weniger als 500 Meter entfernt vom nächsten israelischen Militärposten ausgeraubt worden seien.
Tödliche Unordnung
Wer genau hinter den Banden steckt, ist nebulös. Es werden einige beduinische Familien des Tarabin-Stammes genannt, die angeblich für ihre kriminellen Aktivitäten bekannt seien und die zunächst ihr Auskommen mit Zigarettenschmuggel gefunden hätten, bevor sie sich diesem neuen Geschäftsmodell zugewandt hätten.
Am 18. November vermeldete die Hamas in einer Erklärung, dass sie eine Operation begonnen habe, gegen die Plünderungen vorzugehen, „die der Gesellschaft ernsthaften Schaden zufügen“ und zu Anzeichen von Hunger auch im südlichen Gazastreifen geführt hätten.
Als ersten Erfolg verkündete die Hamas, in einer Nacht- und Nebelaktion 20 der mutmaßlichen Plünderer exekutiert zu haben. Überprüfen lässt sich das alles nicht. Aber die Unordnung im Gazastreifen scheint so tödlich wie der brutale Versuch, die Ordnung wiederherzustellen. Die Leidtragenden sind die Zivilbevölkerung.
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