Essay für eine neue europäische Politik: Jetzt Europa!
Der Schritt zu einer nach innen und außen wehrhaften Demokratie ist nie getan worden. Weltweit kommt es zur Kumpanei der Antieuropäer.
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Nachdem im Wahlkampf die äußere Sicherheit ein Randthema geblieben war, schnellte sie am Wahlabend in den Rang einer dramatischen tektonischen Verschiebung hoch. Die Kumpanei der Antieuropäer Wladimir Putin und Donald Trump stellt endgültig jene Zeitenwende dar, die bei ihrer Ausrufung vor genau drei Jahren erst schemenhaft verstanden wurde. Schon lange hat Russland den Krieg gegen Europa ausgerufen und Amerika seinen Rückzug annonciert. In Deutschland verweigerten die Regierenden der Ukraine, was zu ihrer Verteidigung nötig war, sie waren geschockt, als JD Vance Europa den Laufpass gab; die Opposition schlug weiter den pazifistischen Grundakkord an, der schnurstracks auf ein neues München 1938 hinausläuft.
Um es klar zu sagen: Die satte Mehrheit der Putin-Verharmloser und Trump-Adepten vor allem in den östlichen Bundesländern markiert, wo die Grenze zu „Vichy-Deutschland“ verlaufen wird, wenn sich die Regierung Merz-Pistorius zu echten Verbesserungen der europäischen Sicherheit durchringen würde. In Vichy war 1940 bis 1944 die Kollaborationsregierung der „freien Zone“ mit Nazideutschland angesiedelt.
Die nun einseitig aufgekündigte transatlantische Allianz war stets von Missverständnissen, Interessenkonflikten und wechselseitigen Vorurteilen durchzogen, Antiamerikanismus lebte in allen politischen Familien: links als Kritik am „Empire“, rechts als Vorbehalt gegen eine „Reeducation“ und eine „Westbindung“, auch in der Mitte als Distanz zu einer Populär- und Konsumkultur, die am Ende doch fast alle für sich gewann. Echte Freundschaft entwickelte sich eher in den Nischen des Privatlebens, der Wissenschaft und Kunst, doch für Libertäre wie uns war sie existenziell, was bei Verfechtern des „Ami go home!“ stets auf Verwunderung stieß. Die Deutschen genossen die Abschreckung des atomaren Schutzschildes, den sie zugleich wortreich bekrittelten.
Besonders stark war die Spannung zwischen verdruckster Aneignung und plakativer Aversion in der SBZ und DDR, auf deren Boden sich rechts- und linkspopulistische Amerikafeindlichkeit vermengten – und bis heute am stärksten halten. Indem auch nach 1990 Geborene an der Amerikaphobie festhalten, vererbt sich die fehlende Freiheitserfahrung von 1933 bis 1989 auf die Enkel und Urenkel. Dass sie sich nun ausgerechnet im Hinblick auf Trump abschwächt und in eine Kapitulation vor Tech-Milliardären umschlägt, zeugt von der geistigen Verwirrung, in welche die AfD den Osten und immer mehr Regionen und Milieus im Westen gestürzt hat.
Der Grundakkord bleibt ironischerweise das „Ami go home!“; der russische Vernichtungskrieg wird wieder besseres Wissen als nachvollziehbare Reaktion auf das imperiale Gebaren der Vereinigten Staaten nach 1990 und die Osterweiterung der Nato verkauft. Die noch halbvernünftigen Ausführungen des Linken-Vorsitzenden Jan von Aken („Worte statt Waffen“) wurden übertroffen in Sahra Wagenknechts Aufruf zum Kapitulationsfrieden und ins Absurde gesteigert durch Alice Weidel und Björn Höcke, die allen Ernstes eine eurasische Union mit dem Kreml anstreben.
Das Kollaborationsregime in Vichy bildete sich aus einer ähnlichen Querfront aus gutgläubigen Pazifisten, Ex-Kommunisten und extremen Nationalisten. Entsprechend stellen sich zu Trump & Putin jetzt die Jasager, Weißwäscher und Weltgeistbeschwörer auf. Die Jasager der AfD erblicken in den Machenschaften Trumps (und seines quirligen Mephistos Elon Musk) die Blaupausen für den legalen Staatsstreich. Alice Weidel munkelte in einem Interview mit dem rechten US-Magazin The American Conservative, Deutschland sei nach 1945 eine Kolonie der Vereinigten Staaten geworden, und gab das revisionistische Motto aus „wir Deutschen sind ein besiegtes Volk“. Der Vorteil, „Sklave zu sein“? Deutsche seien zum Glück nicht gezwungen gewesen, in vorderer Front an den Kriegen der westlichen Hegemonialmacht mitzuwirken, die ihre Partei bekanntlich als wahre Auslöserin des Ukrainekrieges identifiziert hat.
Sahra Wagenknecht opponiert deutlicher gegen Trump, aber nicht, weil er mit Wladimir Putin paktiert (das begrüßt sie zum Zweck der Friedensstiftung), sondern weil der hässliche Amerikaner sich ukrainische Rohstoffe unter den Nagel reißen will. Den Rückzug seiner Militärmacht aus Europa heißt sie wiederum gut, denn damit dürfte auch die Stationierung von Mittelstreckenraketen – ein Popanz der gesamtdeutschen Friedensbewegung seit den 1970er Jahren – vom Tisch sein. Die Charakterisierung der USA als imperiale Macht erhält durch den Gebietshunger und die Gier der Trump-Administration neue Nahrung, der russische Neokolonialismus wird weiter ignoriert.
Das politische Establishment der Weißwäscher spielt diese Disruption herunter und beschwichtigt die Furchtsamen: Nichts werde so heiß gegessen, wie es gekocht wurde. BDA-Arbeitgeberpräsident Rainer Dulger meinte etwa, Trump werde Europa durchrütteln: „Das tut uns vielleicht gut.“ Dass Friedrich Merz, der sich dank seiner Unternehmenserfahrung mit Trump verstehen zu können hoffte, nach der rüden Absage ehrlich schockiert war, darf man ihm abnehmen.
Damit treten die „Realisten“ des Weltgeistes auf den Plan: Gewiss werde die Trump-Administration einiges weltpolitische Porzellan zertrümmern, aber unterm Strich auch Positives bewirken, im Bunde mit ebendem Hegel’schen Weltgeist. Die Rede von JD Vance in München, in der er die Meinungsfreiheit in Deutschland unterdrückt fand und die AfD in der Regierung sehen wollte, fand Springer-Vorstand Mathias Döpfner „inspirierend“, die europäischen Reaktionen „weinerlich“.
Im Ernst jetzt? Trump als die Kraft, die Böses will, aber stets das Gute bewirkt und zum Beispiel den Krieg in der Ukraine beenden kann? Und den im Nahen Osten? Und wer weiß: Wie weiland Stalin der ungewollte Mitgründer der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft wurde, könnte Trump zum Deus ex machina des Fortschritts der EU-Wirtschafts- und Währungsgemeinschaft zum Bundesstaat werden – mit einer gemeinsamen Armee und der Ukraine als Mitglied?
Von allein geschieht das gewiss nicht. Die Appelle, die Emmanuel Macron 2017 für ein „Europa, das uns schützt“ ausbrachte, verhallten vor allem in Berlin folgenlos. Weiter wursteln 27 Armeen, ohne ernstgemeinte Unterstützung in der breiten Bevölkerung, und drei Dutzend Rüstungsbetriebe, hierzulande missmutig beäugt, vor sich hin. Der Schritt in eine nach innen und außen wehrhafte Demokratie ist nie getan worden; in den Ämtern wie in den Köpfen herrschen nationale Engstirnigkeit und Kurzfristdenken vor.
Dieses alte Denken beherrschte die jüngsten Wahlkämpfe aller EU-Staaten, wo man virtuelle Milliarden in sozial- und industriepolitische Luftschlösser investierte, namentlich in sichere Renten, ohne zu bedenken, dass solche unter russisch-amerikanischem und notabene chinesischem Druck von vornherein Makulatur sind. Und unter „sicheren Grenzen“ verstand man vor allem den Pushback unerwünschter Geflüchteter, weniger den Schutz vor hybriden und handfesten Angriffen des Kriegsherrn im Kreml.
Daniel Cohn-Bendit ist ein deutsch-französischer Publizist und Grünen-Politiker
Claus Leggewie ist Politikwissenschaftler und Mitherausgeber der „Blätter für deutsche und internationale Politik“
Dass diese geschehen und zunehmen werden, muss man der triumphierenden Linken ins Stammbuch schreiben. Die Herstellung der Verteidigungsfähigkeit Europas wird auf mittlere Dauer Trillionen Euro kosten. Man darf sie, wie die Linke zu Recht sagt, nicht ausgerechnet den Ärmsten abverlangen und von einer verrottenden Infrastruktur und Industrie abzwacken. Aber überfällige Mehreinnahmen durch die gerechtere Besteuerung der Besserverdienenden und Superreichen kann man nicht für sozialpolitische Wohltaten reservieren und sich der überfälligen Nachrüstung verweigern, auch nicht einer unkonditionierten Reform der Schuldenbremse, für die eine breite Mehrheit im Bundestag notwendig sein wird.
Wird da die Linke mit der AfD stimmen? Dann hat sie das Merz-Problem. Und frisches Geld benötigt man, wie Mario Draghi vorgerechnet hat, nicht nur für Umverteilung und äußere Sicherheit, sondern auch für eine wirklich nachhaltige europäische Wirtschaft, die zur Gewährleistung äußerer Sicherheit unabdingbar ist.
Der Rückzug Amerikas aus der westlichen Werte- und Sicherheitsgemeinschaft hat noch dramatischere Aussichten. Wenn der „Atomschirm“ zugeklappt wird und eine nukleare Abschreckung gegen Putin und Xi Jinping notwendig bleibt, muss Deutschland seine Rolle als Trittbrettfahrer der Atommächte Großbritannien und Frankreich überprüfen und an einer europäischen Sicherheitsarchitektur mitwirken, die auch nukleare Abschreckung einschließt. Das schließt historisch an eine Debatte der 1950er Jahre an, als frankreichgeneigte „Gaullisten“ den amerikafreundlichen „Atlantikern“ unterlagen, weil die USA damals noch ein verlässlicher Partner waren.
Doch zu den Eventualitäten der Zeitenwende, mit denen sich Friedrich Merz und seine sozialdemokratischen Kabinettskollegen auseinandersetzen müssen, gehört, dass sie – mit der AfD im Rücken – mit zwei „Politikwechseln“ in London und Paris rechnen müssen, die Trump- und Putin-freundliche Radikale wie Nigel Farage und Marine Le Pen vorantreiben.
Wir leben in einer anderen Welt, denn der Krieg, den wir alle partout verhindern wollten, hat bereits begonnen. Ebenso wenig, wie sich kein CDU-Kanzler der letzten 76 Jahre hätte träumen lassen, dass er – wie nun Friedrich Merz – zu Washington und Moskau Äquidistanz halten müsste, hätten wir uns je vorstellen können, dass wir uns nun für Kriegstüchtigkeit, mehr Anerkennung für die Bundeswehr und eine effektive Rüstungsindustrie erwärmen. Doch in der globalen Auseinandersetzung zwischen Autokraten und Demokraten ist es nur die Fortsetzung des Widerstands gegen Feinde der Freiheit, der auch Hitler und Stalin zu Fall gebracht hat.
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