Einwanderung und Migration: Schluss mit Fluchtnostalgie

Deutschland braucht eine neue Einwanderungskultur. Das linke und grüne Narrativ, jede und jeder dürfe herkommen, spielt den Rechten in die Hände.

Illustration: ein Mann will nach einem deutschen Pass greifen, der viel zu hoch ist

Illustration: Katja Gendikova

In nichts ist die linke, alternative, grüne Szene so gut, so versiert, so rhetorisch sattelfest wie im Abwiegeln realer Alltagsprobleme. Jener Dinge, die die Mehrheit der in Deutschland lebenden Menschen betreffen. Die Wählermehrheit eben. Und eben auch jener, die der AfD ihre Stimme geben. Oder dem BSW, Sahra Wagenknechts Bündnis. Das betrifft auch alle Fragen, die um das Thema Migration kreisen.

Etwa für ein schwules Paar, das in Dresden von einem als Straftäter bekannten muslimischen Geflüchteten angegriffen wurde; für einen der beiden Männer endete der Angriff tödlich. Ein Anlass, über Homophobie nachzudenken, nicht aber über Islamismus und die aggressive Unbegabtheit junger Männer, mit den Umständen der Freiheit in liberalen Gesellschaften umzugehen? Oder eine Messerattacke auf einen Polizisten in Mannheim. Oder eine auf Passagiere eines Regionalzugs bei Hamburg.

Ja, schlimm, heißt es in der linken Szene nach solchen Ereignissen, aber Einzelfälle. Man dürfe weder über Geflüchtete und schon gar nicht über den Islam und den Islamismus reden, das wäre dämonisierend, menschenverachtend und nütze – das ist die argumentative Hauptwaffe in diesem Diskurs – nur den Rechten. Und soll man sie abschieben? Aber nein, wie menschenverachtend ist das denn! Und außerdem: Was droht ihnen nicht alles in den Herkunftsländern! Auch Islamisten, notorisch bei ihren Propagandaaktionen erwischt, sollen bleiben dürfen. Wer kriminell geworden ist, hat hier nichts zu suchen, auch nicht in einem Gefängnis.

Warum hat die Linke solche Furcht, sich auch nur in Krümeln auf real existierende Ängste in der Gesellschaft einzulassen? Warum steht der Islam nie in der Debatte? Er gehört selbstverständlich zu Deutschland und seinen Kulturen – aber unter allen Bedingungen? Warum sagen Linke nicht: Einwanderung, und sei es per Flucht, ist die Chance auf Teilhabe an einer reichen, europäischen Gesellschaft, aber nicht die Garantie. Wer die Regeln missachtet, kann keinen Platz hierzulande haben.

Was den Rechten aber am meisten dient, ist nicht das öffentliche Sprechen über Attacken im Alltag, sondern das begütigende Schweigen darüber. In der Tat sind nicht Menschen aus muslimischen Gesellschaften das Problem an sich. Aber ihren Milieus entstammen jene Täter, die in Deutschland die Idee des Willkommens zerstören. Es wird Zeit, dass die linke (alternative, grüne) Haltung zur ungesteuerten Einwanderung hinterfragt wird – aus Gründen der Humanität.

Linnemann hat nicht recht

Nicht bestritten werden kann, dass Deutschland massenhaft neue Bürger und Bürgerinnen braucht. Zugewanderte, am liebsten solche, wie sie bei vielen Einbürgerungszeremonien in deutschen Rathäusern vor Glück strahlen, wenn sie mit dem deutschen Pass als dazugehörig erklärt werden. Menschen, die ab der ersten Minute ihrer Ankunft in Deutschland nichts mehr wollen, als ihren Ehrgeiz in Taten umzusetzen, die ihren Aufstiegswillen realisieren wollen – inklusive aller Alltagsakte, die dazugehören: ihre Kinder in Kitas und Schulen, Deutschkurse, Arbeit von morgens bis abends.

CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann hat nicht recht, wenn er erklärt, in Deutschland sei Migration das größte Problem. Aber die ungeregelte, die über Schlepper und offene Grenzen ermöglichte Einwanderung markiert ein Problem, das politisch von Konservativen und Rechtsex­tremen bewirtschaftet wird. In den vergangenen 15 Jahren, insbesondere im „Wir schaffen das“-Jahr 2015, als Hunderttausende aus Syrien, Irak, Afghanistan nach Deutschland flüchteten, hatte diese Art der Einwanderung den Aufstieg der Rechten erheblich befördert. Über viele Monate füllten sich allerorten in der Republik Sporthallen, Schulen, Gewerbegebietshallen als Aufnahmequartiere.

Grüne und Linke haben das meistens nicht so recht realisiert. Die Quartiere, in denen die meisten der Geflüchteten leben, kennen sie in der Regel nicht. Sie wissen, wie man die eigenen Kinder nicht mit Flucht konfrontiert. Und sie wissen oft auch nicht, dass in vielen Grundschulen Kinder kein Deutsch können. Wer die eigene Brut sicher und störungsfrei durch das Bildungsmeer segeln lassen will, findet Wege: Privatschulen, christlich orientierte Schulen, alternative Schulen.

Unvermittelbare Themen

Die Lasten der nach Asylrecht strukturierten Migration tragen Städte vor allem an den Rändern, ebenso Dörfer und Kleinstädte. Dass das Wort Migration Probleme verhüllen kann, steht auf einem anderen Blatt. Es fehlt an Wohnungen in den Städten; es mangelt bei den aktuellen Grundstückspreisen an Möglichkeiten, selbst ein Haus zu bauen, ohne sich auf ewig zu verschulden.

Der öffentliche Nahverkehr kommt mittlerweile einem Desaster gleich. Über diese politischen Felder wird nicht genug gestritten, auch das ist wahr. Noch wahrer ist, dass es überall, bis in die letzte Ecke des ländlichen Raums, an sogenannten Fachkräften fehlt. Rund 250.000 Menschen pro Jahr müssten in die Bundesrepublik einwandern – nicht nur hochqualifizierte IT-Expertinnen* oder medizinisches Personal, sondern auch Arbeitswillige mit einer geringeren Qualifikation.

Es ist politisch gewollt, dass die Wege der legalen Migration viel zu selten in Erwägung gezogen werden, dafür umso mehr die, die sich wie Flucht und Asyl buchstabieren. Für die linksalternative und grüne Szene ist das eine Aufgabe, eine humanitär gut begründbare: Flüchtende zu retten, ihnen jeden Weg zu bahnen, auf dass viele von ihnen nicht mehr im Mittelmeer ertrinken. Die Crux ist nur: Diese Rettungsmissionen sind prinzipiell immer nötig, sie waren es vor Jahren schon, und sie werden es in den kommenden Jahren bleiben. Dass damit das Geschäft der Schlepperinnen* mit betrieben wird, will die linke Szene indes nicht akzeptieren. Ihr geht es um pure Menschlichkeit.

Nur ist das in den allermeisten europäischen Ländern politisch nicht mehr zu vermitteln. Selbst die Gutherzigen haben kaum noch Sinn für ein nicht menschenverachtendes Engagement. Dass die Linkspartei eine Topaktivistin wie Carola Rackete zur EU-Wahl-Spitzenkandidatin machte und mit ihr Schiffbruch erlitt: kein Wunder für eine Partei, die zuerst Deutschlands Probleme versuchte zu erörtern – und dann ihre Themen der AfD und vor allem dem BSW überließ.

Es muss über männliche Kulturen gesprochen werden

Wären, knapp gesagt, unsere Kreise nicht so selbstverseligend in puncto Geflüchtete, könnten sie sich den robusten Problemen zuwenden: Mieterkämpfe, Bildungspolitik, Mobilitätskonflikte. Sie könnten sich zudem im gesellschaftlichen Diskurs davonstehlen, wenn es mit den gescheiterten Einwanderern nicht so klappt, wie es alle multikulturelle Romantik bescheinigt. Dann ließe sich verhandeln, ob es nicht vielleicht doch sinnvoll wäre, die Geflüchteten möglichst rasch ohne schon schulabschlussfähige Deutschkenntnisse dem Arbeitsmarkt zu überlassen. Denn die Zugewanderten wollen ja (fast) alle arbeiten, Geld verdienen, meinetwegen auch zur Versorgung ihrer Angehörigen in ihrer alten Heimat beitragen. Und vielleicht muss vor allem über männliche Kulturen (und ihre weiblichen Komplizenschaften) gesprochen werden, denen zufolge ein Mann nur mit einem Messer ein echter Kerl ist.

Seitens der Grünen und Linken darf es kein Tabu sein, offensiv über Konzepte der Abschiebung von straffällig gewordenen Migranten und Migrantinnen nachzudenken. Zu diesen Delikten zählen natürlich nicht Bagatellen wie das Schwarzfahren und leichte Verkehrsvergehen. So weit wie in Dänemark sollte es nicht kommen: Wohnviertel aufzulösen, ja sie abzureißen, in denen sich Parallel­gesellschaften herausgebildet haben. Armut und Ausgrenzung dürfen keine weitere Stigmatisierung nach sich ziehen.

Klar muss sein, dass sich die neuen Bürgerinnen* auf ein (multikulturelles) Leben in Deutschland einzustellen haben, eines nach dem Grundgesetz, das versteht sich von selbst. Einen global umrissenen Opferkult darf es nicht mehr geben. Es darf aber auch nicht so sein wie in Frankreich, wo islamistisch Gesinnte einen säkular orientierten Lehrer wie Samuel Paty ermordeten, was von den Islamolinken kaum betrauert wurde, weil dies als Kritik am Islam und gar als Islamophobie ausgelegt werden könnte.

Über die Probleme sprechen

Im Übrigen käme es auf ein anderes „Wir schaffen das“ an: die Organisation legaler Einwanderung. Denn die ist mit der Ampelregierung möglich geworden. Denn, so sagen es alle Wirtschaftsforschungsinstitute, wir brauchen pro Jahr eine Viertelmillion neue Bürger und Bürgerinnen, um den Fachkräftemangel auszugleichen. Deutschland ohne seine in den vergangenen 150 Jahren Eingewanderten hätte als globalökonomischer Player keine tragende Rolle gespielt – und würde künftig auch keine spielen. Man braucht die neuen Bürgerinnen* für hoch dotierte wie auch „einfache“ Jobs. Wer hinguckt, wenn ein Paket angeliefert wird, der und die sieht, dass die Serviceleute von überall her auf der Welt rekrutiert wurden und werden.

Mit Geflüchteten, die schwierigste Anerkennungsprozeduren durchzustehen haben, ist das nicht zu schaffen, weder moralisch noch öko­nomisch. Sprechen wir also über die Probleme, die Migration mit sich bringt. Das liegt übrigens auch exakt im Interesse all jener Einwandernden, die sich nichts haben zuschulden kommen lassen. Die Deutschland bejahen und sehr oft einen dornigen Ankommensweg zu gehen haben. Genau diese Bürgerinnen* sind oft die ersten, die Abschiebungen von kriminellen Migrantinnen* fordern, die sagen: „Mit Islamisten habe ich nichts zu tun.“

Wer das alles nicht will, riskiert nicht nur die Thematisierung dieser Konflikte durch Konservative und Rechtsextremisten, sondern auch eine Schließung der Grenzen, gegen die die Eisernen Vorhänge ein Witz waren.

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Einst: Postbote, Möbelverkäufer, Versicherungskartensortierer, Verlagskaufmann in spe, Zeitungsausträger, Autor und Säzzer verschiedener linker Medien, etwa "Arbeiterkampf" und "Moderne Zeiten", Volo bei der taz in Hamburg - seit 1996 in Berlin bei der taz, zunächst in der Meinungsredaktion, dann im Inlandsressort, schließlich Entwicklung und Aufbau des Wochenendmagazin taz mag von 1997 bis 2009. Seither Kurator des taz lab, des taz-Kongresses in Berlin,und des taz Talks, sonst mit Hingabe Autor und Interview besonders für die taz am Wochenende. Interessen: Vergangenheitspolitik seit 1945, Popularkulturen aller Arten, besonders des Eurovision Song Contest, politische Analyse zu LGBTI*-Fragen sowie zu Fragen der Mittelschichtskritik. RB Leipzig-Fan, aktuell auch noch Bayer-Leverkusen-affin. Und er ist seit 2011 mit dem in Hamburg lebenden Historiker Rainer Nicolaysen in einer Eingetragenen Lebenspartnerschaft, seit 2018 mit ihm verheiratet. Lebensmotto: Da geht noch was!

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