Die taz Kulturredaktion zieht Bilanz: Heilige Texte und unheilige Orte
War da was? Blicke aufs Wattenmeer und Alpen, Israel und Westjordanland, Uni- und Kunststreits sowie eine Berliner Friedrichstraße mit Autoverkehr.
M ittelerde ist nicht Europa. Die fiktive Welt des Schriftstellers J. R. R. Tolkien hat gleichwohl Ähnlichkeiten mit diesem Kontinent. Und wenn es nach der italienischen Premierministerin Giorgia Meloni geht, hat das Zuhause von Figuren wie Frodo und Konsorten mit unserer Gegenwart sogar noch einiges mehr gemein.
Die „Postfaschistin“ lässt keine Gelegenheit ungenutzt, um auf Tolkien zu sprechen zu kommen, dessen Roman „Der Herr der Ringe“ für sie ein „heiliger Text“ ist. Im November etwa gab sie sich bei der Eröffnung einer großen Tolkien-Ausstellung in Rom als Fan zu erkennen. Mit ihrer Begeisterung für den Roman „Der Herr der Ringe“ steht sie in Italien dabei in einer längeren Tradition. Dort versucht man seit Jahrzehnten, Tolkien von rechts zu vereinnahmen. Mittelerde als utopischer Ort für Faschisten, pardon, Postfaschisten?
Meloni zumindest identifiziert sich im Kampf gegen das Böse regelmäßig mit den Hobbits. Man könnte meinen, dass ihre geistige Heimat Mittelerde ist, wobei unklar scheint, ob sie diese nicht großzügig mit der Realität verwechselt. In jedem Fall eine Beleidigung für den akribischen Philologen Tolkien. Der dachte sich seine mythologische Welt überhaupt erst aus, weil er begonnen hatte, alte Sprachen zu erfinden. Egal. Dass man sich die Wirklichkeit nach Wunsch bastelt, hat ja Konjunktur. Fantasiereiche braucht man dafür gar nicht.
Tim Caspar Boehme
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Kfar Aza, Israel. Wie fragil die Sicherheit in Israel ist, lässt sich schon anhand von Entfernungen erahnen. In der Metropole Tel Aviv ist man von der libanesischen Grenze, hinter der Hisbollah-Terroristen von der Vernichtung Israels träumen, bloß 130 Kilometer weit weg. Das ist in etwa die Entfernung zwischen Hamburg und Bremen, Berlin und Cottbus. 15 Kilometer ist Israel an seiner engsten Stelle breit. Die läuft man in drei bis vier Stunden.
In Fußwegen lässt sich auch die jüngste Geschichte von Kfar Aza erzählen. Vielleicht 30 Schritte sind nötig, um von den letzten Häusern des südisraelischen Kibbuz den Zaun zum Gazastreifen zu erreichen. Schritte, die am 7. Oktober über Leben und Tod entschieden. Es sind diese letzten beiden Häuserreihen, die von den Hamas-Terroristen am brutalsten und gründlichsten durchkämmt worden sind.
Kein Stein steht mehr auf dem anderen, Schutt vermischt sich mit Möbeln, mit Kleidung, Spielzeug. Die Wände sind schwarz verkohlt. Obwohl sich die meisten Kibbuzim von ihrer ursprünglich sozialistisch-altruistischen Organisationsweise verabschiedet haben, haftet den Gemeinden immer noch etwas Utopisches, Oasenhaftes, Lebenswertes an. Auch für Kfar Aza gab es einmal lange Wartelisten.
Julia Hubernagel
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Friedrichstraße, Berlin. An Variationen einer Frage hat sich Berlin im Jahr 2023 immer wieder aufgerieben: Wem gehört die Stadt? Besonders oft war dabei die Friedrichstraße Schauplatz, in der auch das Medienhaus der taz liegt. Gleich am südlichen Ende etwa, wo sie in den Mehringplatz mündet, eine Großwohnsiedlung aus den 1970ern. Im Sommer hat sich dort der Revolutionäre Anwohner*innen Rat gegründet, um gegen die Verwahrlosung der Mietshäuser zu kämpfen und für einen neuen Supermarkt. Erreicht hat er bislang: wenig.
Folgt man dem Verlauf der Friedrichstraße hingegen gen Norden, vorbei am Checkpoint Charlie, wo selfieschießende Touris einem den Weg blockieren, gelangt man zu dem Abschnitt, den der vorvorherige Senat zur autofreien Zone erklärt hatte. Erklären wollte. Denn seit Juli stehen dort keine Pflanzenkübel mehr, sondern wieder Autos im stockenden Verkehr. Die neue CDU-Verkehrssenatorin Manja Schreiner hält nichts von der „Flaniermeile“. Modellversuch gescheitert.
Auch das Quartier 207, aus dem das französische Luxuskaufhaus Galeries Lafayette Ende 2024 auszieht, befindet sich hier. Die Zentral- und Landesbibliothek würde gerne übernehmen. Es wäre die beste Nachricht für die Friedrichstraße seit Langem: Ein Konsumtempel wird zum Kulturort für alle. Im neuen Doppelhaushalt sind jedoch keine Mittel für den Erwerb aufgeführt. CDU-Kultursenator Joe Chialo arbeite an einer Lösung, so heißt es.
Dann, kurz bevor die Friedrich- zur Chausseestraße wird, lässt sich am früheren Kunsthaus Tacheles besichtigen, wie es aussieht, wenn man Gentrifizierung durchspielt. Dort recken sich jetzt hochpreisige Wohn- und Bürogebäude in die Höhe. Dekoriert von einer Dependance des schwedischen Privatmuseums Fotografiska.
Beate Scheder
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Bödele, Vorarlberg. Klassisch durch die Fohramoos-Loipe am Bödele. Hier am Rand des Bregenzerwalds in den österreichischen Alpen sollte sich heuer nicht die Frage nach BDS und PEN Berlin stellen, sondern die nach guten Schneeverhältnissen und köstlichen Spinatknödeln. Die Langlauf-Loipe liegt idyllisch auf 1.100 Metern. Doch da von Rheintal und Bodensee her wärmere Winde wehen, schmilzt der Schnee auch schon mal schnell dahin.
Aber so die Natur will, werde ich dieses Jahr hier bald wieder meine Runden ziehen. Berlin, die Arbeit und all jene vergessen, die 2023 die Kritik an antiisraelischer Literatur und Statements sogar juristisch verbieten lassen wollten. Und damit – zum Glück für Literaturkritik, Journalismus und Meinungsfreiheit – vor Gericht scheiterten. In der Hoffnung auf Tage mit Sonne und Schnee werde ich abends erneut in David Motadels Buch „Für Prophet und Führer“ blättern. Untertitel: „Die islamische Welt und das Dritte Reich“.
Und wie wunderbar absurd wäre es, hier auf der Loipe am Bödele das Board des PEN Berlin anzutreffen. Langlaufskier unter den Füßen, Motadels Buch im Gepäck, wild gestikulierend und Spinatknödel werfend. Sechs Kilometer Loipe durch ein Naturschutzgebiet, 200 Höhenmeter. Schwierigkeitsgrad: leicht bis mittel.
Andreas Fanizadeh
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Schiermonnikoog, Nordsee. „Freemantle Highway“, so hieß das Schiff. Die Nachricht war auf allen Kanälen. Der gewaltige Autotransporter brannte ein paar Seemeilen vor der Küste. Geladen hatte er 3.000 Luxusmodelle, 500 davon mit Elektroantrieb, die kaum löschbar waren. Wenn das Schiff untergehen würde, wäre das eine Katastrophe, so hieß es. Das gesamte Wattenmeer war in Gefahr.
Wir machten gerade Ferien auf Schiermonnikoog, der niederländischen Nordseeinsel, in deren Nähe der Frachter brannte. Wir tobten in den Wellen, und zwischendurch schauten wir auf den Horizont. Vom Strand aus war die „Freemantle Highway“ nicht zu sehen. Aber irgendwo da draußen musste sie sein. Und eine ganze Meeresregion bedrohen.
Dieses Schiermonnikoog-Gefühl hat mich durch das Jahr 2023 begleitet. Man steht auf, bringt die Kinder zur Schule, setzt sich an den Schreibtisch, liest, joggt. An alles, was am Alltag funktioniert, möchte man sich klammern; denn gleich nebenan gibt es Gefahren, Sorgen, Schrecken: Klimakatastrophen, AfD-Umfragen, ein wildgewordenes russisches Imperium, Massaker und aus ihnen resultierend einen neuen Krieg im Nahen Osten – und über all das hypernervöse Debatten. Das Brodeln, denkt man, ist ringsumher. Das Bild des hinter dem Horizont schwelenden Schiffes steht, denke ich manchmal, für die Weltlage.
Immerhin: Es ist vor Schiermonnikoog alles gutgegangen. Die „Freemantle Highway“ konnte schließlich gelöscht werden. Vielleicht muss man versuchen, sich an den ausgebliebenen oder überstandenen Katastrophen festzuhalten.
Dirk Knipphals
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Internet. Müsste ich einen Ort benennen, an dem ich in den letzten Jahren viel Zeit verbracht, mich ausgetauscht, gelernt habe, wäre dieser Ort das Internet, genauer gesagt, die sozialen Medien. Ich bin dankbar für diesen Ort, denn er hat mir in Zeiten der Isolation und Einsamkeit Hoffnung gegeben, mir geholfen mich besser kennenzulernen. Inzwischen aber fühlt er sich verkommen an, seine Selbstregulierung krankt, das Experiment eines urdemokratischen Raumes wirkt gescheitert. Hasskommentare, Denunziationen, Gewaltandrohungen und Bilder, die längst das Ertragbare übersteigen, all das ist real, obwohl es virtuell passiert.
Zwischen alldem, zu absurd, um sich der Absurdität wirklich gewahr zu werden: cute Tiervideos, personalisierte Werbung und Tipps für mentale Gesundheit, die ich mir beim Weiterscrollen sofort wieder versaue. Kognitive Dissonanz nennt sich dies in der Psychologie: Wir nehmen zwei konträre Dinge wahr, können die Information, die damit einhergeht, nicht verarbeiten – und verdrängen, was uns besonders beunruhigt.
Eigentlich ist es wie mit dem Rauchen, das sich ähnlich wie meine Social-Media-Nutzung seit der Pandemie potenziert hat: Ich weiß um die negativen Konsequenzen der Droge, schiebe dieses Wissen aber weit von mir weg, weil Krankheit erst real wird, wenn sie nicht mehr zu ignorieren ist. Wie auch das Rauchen kann uns kognitive Dissonanz auf Dauer krank machen.
Es entsteht, was Autorin Carolin Emcke als „Gefühl der Ohnmacht gegenüber der sozialen Wirklichkeit“ beschreibt. Sich in ihm zu verbünden ist nicht konstruktiv, nährt Hass, der, weil er auf unsichtbaren Ängsten beruht, nicht solidarisch mobilisiert, sondern spaltet, indem er ein „Wir“ gegen „Die“ kreiert. Um echte Solidarität entwickeln zu können, nicht nur eine, die sich unserem Lebensstil gerade besonders nah anfühlt, müssen wir einander real begegnen, miteinander sprechen, zuhören und manchmal auch aushalten, dass sich unser Blick auf die Welt nie gleicht. Denn wie sagte es letzthin ein deutscher Dichter und Denker: „Einander ist leider alles, was wir haben.“
Sophia Zessnik
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Universität. Dass Hochschulen ein Ort politischer Öffentlichkeit sein sollen, ist seit der 68er-Bewegung eigentlich eine beantwortete Frage. Doch soll nicht ein Haufen postpubertärer Komplexitätsverweigerer mit Hang zum Antisemitismus den Diskurs auf dem Campus beherrschen, gilt es für Unileitungen und Wissenschaften nachzulegen. Nicht nur an FU, HU, und UdK in Berlin.
Mehr professorale Expertise, mehr Podiumsdiskussionen, Workshops und kurzfristige Vorlesungsreihen. Etwa zu den Themen: Welche Geschichte hat der Staat Israel, welche das palästinensische Volk? Was ist ein Genozid? Was können postkoloniale Theorien beschreiben und was nicht? Was bedeutet Demokratie, was „Staatsräson“? Differenzierend debattierende Studierende fallen nicht vom Himmel.
Zum Thema Nahost beziehen die wenigsten Studierenden derzeit Stellung. Und die wenigen, die dies tun, baden ihre Hände manchmal in roter Farbe. Das sollte sich ändern.
Julian Sadeghi
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Efrat, Westjordanland. Der schreckliche Krieg in Gaza ist noch nicht vorbei, der Schock des 7. Oktober ist immer noch nicht verarbeitet. Fast ist darüber in Vergessenheit geraten, dass das Jahr 2023 in Israel von den Protesten gegen die ultrarechte Regierung geprägt war.
Ich erinnere mich gut daran, wie ich von Tel Aviv in die Siedlung Efrat östlich von Jerusalem fuhr. Sie existiert seit über vierzig Jahren und wird von orthodoxen Jüdinnen und Juden aus dem nationalreligiösen Lager bewohnt. Selbst dort, hatte ich gehört, wurde regelmäßig gegen die Regierung und für ein demokratisches Israel protestiert. Es war ein kleines Häuflein von Demonstranten, das sich nach dem Ende des Schabbat dort an einem Verkehrskreisel versammelte. Banner wurden aufgehängt, Reden wurden gehalten.
Eine Rednerin berichtete von einer Meinungsumfrage: Auch im nationalreligiösen Lager hatte sich der Wind gedreht. Viele waren mit der Regierung unzufrieden und lehnten die Justizreform ab. Würden jetzt Wahlen stattfinden, dann würden der Likud, die Partei Netanjahus, und die ultrarechte Partei des religiösen Zionismus deutlich weniger Stimmen erhalten. Am Ende der Kundgebung sagte mir ein Mann, er sei sich sicher: Die Protestbewegung werde Erfolg haben. Wir werden sehen, was im kommenden Jahr passiert.
Ulrich Gutmair
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Lublin, Polen. Eine vollkommen überfüllte Mailbox, das ist wohl der Ort, mit dem sich dieses Jahr beschreiben lässt. Und dieses virtuelle Postfach wird weniger mit Alltagskorrespondenzen gefüllt, es birst vor offenen Briefen eines Kunstbetriebs, der sich gerade an einem neuen Krieg im Nahen Osten zermürbt.
Schwere Worte wie „Genozid“, „Antisemitismus“ und „Zensur“ prasseln auf einen ein, Begriffe von politischem Gewicht werden in den Schreiben zu unscharfen und gleichsam polarisierenden Schlagworten. Und selten nur noch glaubt man den Unterzeichner:innen, wie ernst ihnen ihr Anliegen ist, oder ob hier nicht ein Aktivismus Gestalt annimmt, der einzig die Fronten verhärtet.
Sollen offene Briefe nicht eigentlich über einen Missstand aufklären und politisch differenzieren? Danach muss ich in meiner Mailbox suchen. Man möchte dann an einen Ort, einen wirklichen Ort reisen, an dem die Kunst über die Krisen nachdenkt, die dieses Jahr so düster machen.
In Lublin, im Osten Polens, habe ich im Oktober so einen Ort gesehen. Dort hatte sich aller rechtspopulistischen Agitation der lang regierenden PiS-Partei zum Trotz der linke Direktor einer Kunsthalle gehalten. Der stellt in seiner Galeria Labirynt nun ukrainische Künstlerinnen aus, die Russlands Angriffskrieg als Soldat:innen an die Front zwang. Es sind leise, angriffslose Stimmen aus einem festgefahrenen Krieg, den wir gerade zu überhören drohen.
Sophie Jung
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