Die steile These: Urlaubsreisen sind überbewertet
Die Menschen glauben, dass sie reisen müssen, um zu sein. Ein Irrtum, gerade in Zeiten der Pandemie. Daheimbleiben bietet hingegen Offenbarung.
W as ist mir von Bangkok in Erinnerung geblieben? Die hohen Fußgängerbrücken über schlimm befahrene vielspurige Straßen.
Was von Athen? Das Hotelwaschbecken, in dem alle Klamotten ausgewaschen werden mussten, weil auf dem Flug das braune Tiroler Nussöl, ein Sonnenschutzmittel, im Koffer auslief.
Was fällt mir bei London ein? Die Wand voller Cornflakes im Sainsbury’s-Supermarkt – ein Kulturschock.
Als ich vor den Regalen im Supermarkt stand, habe ich kapiert: Freiheit ist die Wahl zwischen dem, was die Warenwelt mir bietet. In London habe ich immerhin drei Jahre gelebt. Da hätte mir spontan auch etwas anderes einfallen können.
Wie auch immer, für diese Welterfahrungen hätte ich nicht wegfahren müssen. Die Reisen sind schon lange her, aber die Frage, was vom Reisen bleibt außer Anekdoten, die bestenfalls für Smalltalk taugen, wird immer drängender. Gerade jetzt, wenn es keine Reisen gibt ohne Fragen nach dem Infektionsrisiko.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Es gibt Leute, die unstet sind, die an keinem Ort lange bleiben können. Leute, die sich und die Welt nur spüren, wenn sie in Bewegung sind. Unglückliche eigentlich, wenn man Olga Tokarczuk, der Nobelpreisträgerin 2018 folgt, die ein Buch geschrieben hat, das „Unrast“ heißt. Darin spricht eine getriebene Ich-Erzählerin, eine, die sich verorten will und für die alle Verortung doch nur Vorwand ist, um weiterzugehen. Solche Leute machen keine Urlaubsreisen, sie sind Suchende, die nie das finden, dem sie auf der Spur sind.
Die Eltern dieses von Unrast getriebenen, erzählenden Ichs im Roman dagegen machen genau das, was erwartet wird: Sie machen jeden Sommer eine Reise, und es ist mehr Pflichterfüllung als Begehren. Für zwei, drei Wochen wird losgezogen. Das Ziel: wieder heimzukehren; erst zu Hause sind sie glücklich. Die Eltern des erzählenden Ich sitzen einem Irrtum auf. Sie meinen, dass sie verreisen müssen.
Ein Irrtum, der sich durchgesetzt hat
Dieser Irrtum hat sich durchgesetzt und kommt als Selbstverständlichkeit daher, wie früher die Annahme, man müsse sonntags in die Kirche. Der Irrtum ist eine Glaubenssache, und das ist wichtig, denn eine Riesenindustrie hängt daran, die Tourismusbranche, und der nutzt es, wenn die Notwendigkeit des Reisens ein Dogma ist. Dogmen haben einen normativen Wahrheitsanspruch. Dahinter muss man nicht zurück. Das wird angesichts einer durch Urlaubsreisen gefördeten zweiten Coronawelle gerade zum Problem.
Wer die superlativlastige Wortkombination „die schönsten Wochen des Jahres“ in einer Suchmaschine im Netz eingibt, bekommt Hinweise, die belegen, dass die Phrase synonym und unwidersprochen für Urlaubsreise benutzt wird. Wer will da Einhalt gebieten, wenn es doch die schönste Zeit ist? Die Hinweise im Netz bestätigen aber auch den Warencharakter des Reisens.
Auf tourismusanalyse.de, wo der Reisemarkt 2019 unter die Lupe genommen wurde, steht: „Singles und Jungsenioren ließen sich die schönsten Wochen des Jahres etwas kosten.“
Der Deutschlandfunk informiert über Rechtsfragen im Urlaub: „Paragrafen für die schönsten Wochen des Jahres“.
Die Spardabank hilft bei der Finanzierung: „Genießen Sie die schönsten Wochen des Jahres mit SpardaCleverReisen“,
Der Stern wiederum fragte coronabedingt im März 2020: „Müssen die schönsten Wochen des Jahres in diesem Jahr ausfallen?“ Nein, wie man sieht.
Es sind nur Beispiele, sie lassen sich beliebig fortsetzen. Die Frage aber, woher man wissen will, dass es „die schönsten Wochen des Jahres“ sind, wird weder gestellt noch beantwortet. Darum geht es auch nicht, denn einzig der Konsum von Reisen ist das Muss. Dass das so hingenommen wird, daran zeigt sich die Manipulierbarkeit der Menschen. Bilder von blauem Himmel, blauen Bergen, blauem Wasser, uniformen Palmen und Sonnenschirmen sind die Ikonen der Moderne.
„Urlaub ist also längst eine Ware?“, fragte die SZ schon vor zehn Jahren den Psychologen und Dozenten für Tourismuswissenschaft Jürgen Kagelmann. Und der antwortete: „Ja, denn er wird häufig gekauft wie eine Packung Müsli oder eine Dose Cola.“ Am Anfang der Coronakrise glaubte Kagelmann noch, dass das Virus das Reisen nachhaltig verändern werde, dass es weniger und teurer werde. Die aktuellen Bilder aus Mallorca oder vom Wolfgangsee sprechen dagegen. Urlaubsreisen sind so wichtig, dass in Kauf genommen wird, dass die Zahl der Infizierten – und damit die gesellschaftlichen Folgekosten – wieder steigen.
„Reiseglück“ ist ein weiteres Wort mit interessanter Genese. Vermutlich einst einfach Beschreibung, hört es sich beim Tourismusforscher Horst Opaschowski kürzlich im Merkur nach kausalem Zusammenhang an: „Reisen ist die populärste Form von Glück“.
In seiner Erklärung, warum Reisen notwendige Glückserfüllung sei, verweist er auf den Philosophen Blaise Pascal, der im 17. Jahrhundert lebte und gesagt haben soll, alles Unglück sei darauf zurückzuführen, dass die Leute nicht still in ihrem Zimmer sitzen können.
Mit dieser Pascal’schen Beobachtung die Notwendigkeit des Reisens zu begründen, ist bizarr. Weshalb sollen die Leute im Zimmer hocken, als wäre es eine Zelle? Sie sollen rausgehen, aber nicht aus idiotischem Konsumbedürfnis und wider jede gesellschaftliche Vernunft bis ans andere Ende der Welt.
Welterfahrung im Kleinen
Es gibt einen Weg, mit dem die Zwangsläufigkeit des Reisens durchbrochen werden kann: Man muss sich den Daheimbleibenden zuwenden. Sie suchen die Welterfahrung im Kleinen, sehen das Neue im Bekannten, finden, „Jedes Buch ist besser als Urlaub“, wie Sigrid Grajek, Schauspielerin, Comedian, Nichtreisende, mir auf Twitter schrieb.
Dableibende wie sie stellen die Anstrengung, die Reisen bedeutet, infrage. Denn auf der Suche nach Erfüllung vergeht Lebenszeit an Check-ins und Rezeptionen, in Hotelzimmern, an Schnellstraßen und Tankstellen, in Bahnhöfen und Transithallen. Die Dableibenden machen das nicht mit, und ich habe schon lange auch keine Lust mehr darauf. Gern allerdings gehe ich dahin, wo Freunde sind.
Der portugiesische Dichter Fernando Pessoa soll ein großer Daheimbleiber gewesen sein. Er hat darüber geschrieben, dass das Leben das sei, was wir daraus machen. „Die Reisen sind die Reisenden. Was wir sehen, ist nicht, was wir sehen, sondern was wir sind.“ Sein bekanntestes Buch heißt: „Das Buch der Unruhe“. Hier ein Zitat daraus:
„Reisen? Existieren ist reisen genug. Ich fahre von Tag zu Tag wie von Bahnhof zu Bahnhof im Zug meines Körpers oder meines Schicksals und blicke auf Straßen und Plätze, auf Gesichter und Gesten, immer gleich und immer verschieden, wie auch Landschaften es sind.
Was ich mir vorstelle, sehe ich. Was anders tue ich, wenn ich reise? Nur eine äußerst schwache Vorstellungskraft rechtfertigt einen Ortswechsel, um empfinden zu können.“
Niemals hätte ich das so schön sagen können. Aber jetzt sind mir doch noch zwei Erinnerungen gekommen: In Thailand bin ich im Linienbus den Mekong entlang an der Schulter eines mir unbekannten Menschen eingeschlafen.
Und im Londoner Vorortzug, es war in einem Winter vor über dreißig Jahren, habe ich mit eiskalten Händen, ohne hinzuschauen, nach einem Haltegriff über mir gegriffen. Meine Hände so steif, dass ich nicht merkte, dass ich das Handgelenk eines Menschen umfasste. Er hielt still. Es war etwas wie Liebe.
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