Der Fall Kathleen Stock: Woke-sein als Erweckungsbewegung
Eine Debatte über das biologische und soziale Geschlecht wäre spannend – nur geht es bei „Wokeness“ um einen fundamentalistischen Wahrheitsanspruch.
I n England geraten Satiriker gerade ins Visier der Wokeness-Bewegung. Die Behauptung steht im Raum, dass sich Monty Python über Behinderte und Menschen mit differenten sexuellen Orientierungen lustig gemacht hat. Entschuldigungen werden gefordert. Doch die Satire auf die Ausdehnung der Olympiade auf körperlich eingeschränkte Menschen zielte nicht auf diese, sondern auf die mediale Eventisierung des Sports. Und im Sketch „The Mouse Problem“ richtete sich die satirische De(kon)struktion nicht gegen vermeintlich von der Norm abweichende Menschen, sondern gegen betulich-pseudotolerante Stereotype der Medienberichterstattung und deren latente Aggressivität.
Im Format eines Magazinbeitrags sprechen ein besorgter TV-Moderator und ein Experte über junge Männer, die sich heimlich in Maus-Kostümen treffen und zusammen Käse essen. Warum wollen „certain men“ Mäuse sein? Warum fühlen sie sich „sexually attracted to mice“? Es geht um das Pathologisieren und Kriminalisieren der „disgusting little perverts“ und um den autoritären Hass in der Bevölkerung auf junge Menschen, die Zugang zu ihren eigenen Bedürfnissen suchen.
Aber nicht nur Satire ist zurzeit im Fadenkreuz, sondern auch die Philosophie. Kathleen Stock hat entnervt ihre Philosophieprofessur an der Universität Sussex niedergelegt und wechselt nun an die University of Austin in Texas. Die lesbische Feministin war auf ihrem Campus und in den sozialen Medien Zielscheibe einer Kampagne geworden. Denn sie vertritt die These, dass das biologische Geschlecht der Menschen – ein biologisches Geschlecht ist. Diese These lässt sich vertreten. Es ist keineswegs zwingend oder wissenschaftlicher Konsens, dass es nur ein kulturelles Geschlecht gibt. Diese These besagt: Der biologische Körper ist in höchstem Maße von kulturellen Parametern und sozialen Herrschaftsverhältnissen überformt, und dem liegt ein biologischer Geschlechtsunterschied zugrunde.
Es sind die „bodies that matter“, also die Körper, auf die es ankommt (Judith Butler). Die werden nicht vom Diskurs erschaffen. Sie werden von ihm geformt – so, wie in der traditionellen Philosophie die materia durch die forma. Eine naturalistische Bestimmung des biologischen Geschlechts wäre demnach falsch, weil unvollständig. Aber die Annahme, dass Menschen ein biologisches Geschlecht haben, welches sich stets in soziokulturellen Zuschreibungen und Überformungen manifestiert, ist nicht per se naturalistisch.
Kathleen Stocks Kritiker:innen argumentieren allerdings nicht im Rahmen der philosophischen Debatte über Naturalismus und Kulturalismus. Ihr Rahmen sind die Affekte. Sie geben sich verletzt, weil sie sich in ihrer nicht-binären Identität gekränkt fühlen, wenn sich eine Philosophin herausnimmt, eine These aufzustellen, welche das philosophische Fundament des eigenen Lebensentwurfs in Frage stellt.
Die Verletztheit der Kritiker:innen erinnert an die von religiösen Menschen, die es nicht ertragen können, wenn andere die theologisch-philosophischen Grundlagen ihres Lebensentwurfs in Frage stellen – etwa mit der These, dass von der Existenz eines Gottes nicht die Rede sein kann. Und dass folglich Menschen, die als Propheten, also als Botschafter:innen jenes Gottes auftreten, diesen Status objektiv nicht für sich beanspruchen können.
Atheistische Religionskritik kann durchaus bewirken, dass sich Menschen, deren Denken und Empfinden religiös geprägt ist, verletzt fühlen. Gleichwohl kann von den Gekränkten erwartet werden, dass sie sich mit den Argumenten der Religionskritik auseinandersetzen, anstatt Religionskritiker:innen den Mund zu verbieten oder Platzverweise auszusprechen.
Nehmen wir an, eine Vertreterin des Kreationismus, die sich mit Argumenten der Evolutionstheorie auseinandersetzen muss, fühlt sich verletzt und in ihrer Weltsicht herausgefordert. Niemand sollte ihr das Recht streitig machen, anderen ihre Affekte mitzuteilen. Aber sollten Wissenschaftler:innen Redeverbot erhalten, weil Menschen, die sich mit den Lehren des Kreationismus identifizieren, sich durch evolutionstheoretische Beweisführungen verletzt fühlen könnten?
Die Militanz der Woke Culture erinnert an die Wiederkehr des religiösen Fundamentalismus. Doch womöglich steckt ja hinter dem Drang, die Naturgegebenheit des soziokulturell überformten Körpers wissenschaftlich-medizinisch zu verändern, ein post-religiöses Paradox; Gesellschaftliche Verhältnisse erweisen sich als veränderungsresistent, sozusagen als eine zweite Natur. Im Gegenzug wird die „Natur, die wir selbst sind“, also der Leib, zum Stoff, der in viele Richtungen optimiert werden kann. Der Eigensinn des Leibes wird verschiedensten Identitätswünschen unterworfen.
Wokeness als Ersatz für den Ersatz
Nun spielt das Geschlecht wirtschaftlich eine immer geringere Rolle; dem Kapital ist es im Prinzip gleichgültig, wem es Arbeitskraft abkauft. Umgekehrt wird die kulturell-symbolische Bedeutung des Geschlechts verabsolutiert: Der Wunsch nach Selbstbestimmung wird zum Wunsch nach radikaler Bestimmung über den eigenen Körper. Könnte es sich um eine Verschiebung handeln? Wenn Emanzipation als soziale Selbstbestimmung in Freiheit und Nichtidentität nicht realisierbar scheint, sucht die Befreiungsenergie ein Ziel, das im Hier und Jetzt erreichbar scheint.
Wenn es heißt, die Schwäche der Linken liege vor allem daran, dass sie sich in kulturellen Diskussionen und in Identitätsdiskussionen verzettelt, anstatt sich um die soziale Frage zu kümmern, dann ist das nicht die ganze Wahrheit. Zur Wahrheit gehört auch, dass wir es bei Wokeness mit Religionsersatz zu tun haben. Das wird nicht zuletzt am Namen der Bewegung deutlich: Wokeness und Woke Culture – eine Erweckungsbewegung?
Und wenn es stimmt, dass Religion ein Ersatz für den Kampf um ein besseres Leben im Diesseits sein kann, dann ist die Woke Culture als gottlose Erweckungsbewegung womöglich ein Ersatz für den Ersatz.
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