Politikwissenschaftler über Konservatismus: „Im Kern zutiefst reaktiv“

Gemäßigte Konservative würden oft zwischen Liberalen und Rechtsautoritären zerrieben, sagt Wissenschaftler Thomas Biebricher. Für die Demokratie sei das eine schlechte Nachricht.

Markus Söder sitzt in einer Kutsche

Das Bewahrenwollen – eine Schlacht, die immer schon verloren ist? Foto: Ernst Wukits/imago

wochentaz: Herr Biebricher, braucht der Konservatismus Feinde?

Thomas Biebricher: Ein Konservatismus ohne Feinde ist schwer vorstellbar. Der Grund­impuls des Konservativen ist das Bewahrenwollen. Aber eigentlich wissen Konservative nie so ganz genau, was zu bewahren ist – bis Leute sie herausfordern und Dinge verändern wollen. Deswegen sind diese Gegnerschaften, man kann auch Feindbilder sagen, so prägend.

geboren 1974, ist Heisenberg-Professor für Politische Theorie, Ideengeschichte und Theorien der Ökonomie an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. 2018 sorgte er mit seiner Studie „Geistig-moralische Wende. Die Erschöpfung des deutschen Konservatismus“ für Aufsehen. Zuletzt erschien von ihm „Die politische Theorie des Neoliberalismus“.

Konservativismus ist vor allem reaktiv?

Mittlerweile ist er angereichert durch eine technophile Zuversicht, die Hoffnung auf kapitalismusgetriebene Innovation. Aber im Kern ist er zutiefst reaktiv. Er reagiert auf Herausforderungen und wird auch erst in dem Moment auf den Plan gerufen. Darin liegt ein Problem: Konservative werden oft zu spät tätig. Sie versuchen dann nicht mehr, das Bestehende zu verteidigen, sondern das, was bereits am Vergehen ist.

Zum Beispiel?

Markus Söders Kruzifixerlass. 2018 war die Präsenz von Religion im öffentlichen Raum nicht mehr selbstverständlich. Söder versuchte, diese Präsenz auf eine gezwungene, künstliche Weise aufrechtzuerhalten. Aber eigentlich war es schon zu spät. Das ist die Tragik des Konservativen.

Was ist der ideelle Kern des Konservativen – das christliche Menschenbild und gesunder Menschenverstand?

Besonders für die deutschen Christdemokraten ist prägend, dass man immer im Namen des gesunden Menschenverstandes spricht. Man inszeniert sich als unideologisch, pragmatisch, normal und grenzt sich so von den ideologisch aufgeladenen Rändern ab. Dabei ist das Ganze natürlich hoch ideologisch, weil es nicht um das Normale, sondern um das Normalisierte geht.

Steigt der Bedarf an Feindbildern, wenn das eigene Profil schwächelt?

Ja, wenn man sich pragmatisch gibt, braucht man potente Feindbilder. Anfang der 90er Jahre war eine Zäsur. Mit dem Kommunismus ging das wirkmächtigste aller Feindbilder unter, die ewig einende Klammer für Konservative in aller Herren Länder. Leute wie Silvio Berlusconi redeten zwar noch bis weit in die 2000er Jahre von der kommunistischen Gefahr. Aber das wurde immer unglaubwürdiger.

Gibt es Ersatz für den Kommunismus?

Für Konservative ist die Identitätspolitik ein Geschenk des Himmels. Dieser „Woke-Warrior“ ist ein unglaublich potentes Feindbild. Die Konservativen sehen in Identitätspolitik eine Art 1968 reloaded. Wie damals lassen sich junge Leute von radikalen Intellektuellen verführen, die Vorstellungen verbreiten, die weit vom gesunden Menschenverstand entfernt sind. Wer etwa kann auf die Vorstellung kommen, dass es mehr als zwei Geschlechter gibt? Zudem kann man die „Woke-Warrior“ des Totalitarismus verdächtigen – ein wirklich perfektes Feindbild.

Überall?

Auf jeden Fall in Frankreich und Großbritannien. Es ist eine billige Art, Politik zu machen – sie kostet wenig Geld. Und man holt sich weniger blutige Nasen, als wenn man sich an einer Rentenreform oder Sparpolitik versucht. Und es ist als politische Kommunikation potent, weil es vermeintlich unkompliziert ist, leicht verfängt und ein enormes Empörungspotenzial hat. Allerdings ist dieser Feind für gemäßigte Konservative auch ein vergiftetes Geschenk. Denn bei diesem Diskurs verschwimmt der Unterschied zum rechten Rand. Das ist eine Falle, in die Konservative – etwa in Frankreich und Großbritannien – oft getappt sind.

Wie groß ist die Gefahr für die Union, dabei in Richtung AfD zu rutschen? Oder gibt es eine aufgeklärte Antiwokeness?

Natürlich muss man über diese Themen diskutieren. Aber gelingt es der CDU, diese Debatten auf eine Art und Weise zu führen, die sich von der Rhetorik, dem Stil und der Form der AfD abgrenzt? Das sehe ich nicht. Bei diesen Fragen geht es immer ums Ganze, das Kompromisspotenzial ist überschaubar. Deshalb sind diese Debatten ein sehr abschüssiges Gelände. Viele in der CDU sehen das auch so. Aber nicht alle. Die Denkfabrik 21 des Historikers Andreas Rödder, der immerhin die CDU-Grundwertekommission geleitet hat, setzt solche Akzente. Markus Söder wird diese Karte im bayerischen Wahlkampf spielen. Im Osten gibt es Versuche, dieses Feld zu besetzen, auch in der Hamburger CDU.

„Mitte/Rechts. Die internationale Krise des Konservatismus“. Suhrkamp Verlag, Berlin 2023, 638 Seiten, 30 Euro

Sie meinen den Ex-Landesvorsitzenden Christoph Ploß?

Ja, er springt auf diesen Zug auf, weil es ein einfacher Diskurs ist, der mobilisiert. Das ist auch ein wichtiger Punkt: Kulturkämpfe sind für Konservative auch interessant, weil sie damit an Milieus anschlussfähig werden, die sie wegen der Finanz- und der Wirtschaftspolitik nicht wählen würden, aber wegen kultureller Fragen. Das kennt man aus den USA, in Großbritannien war es für den Erfolg von Boris Johnson sehr wichtig.

Was können deutsche Konservative aus den Fehlern lernen, die Konservative in Italien, Großbritannien und Frankreich gemacht haben?

Genau das – die kulturellen Themen niedriger hängen. Denn das ist für die rechte Mitte mittelfristig kein Gewinnerthema, es nutzt den Rechtsautoritären. Und sie sollte AfD-artige Akteure nicht salonfähig machen. Das ist strategisch die beste Linie.

Sie befassen sich in ihrem Buch „Mitte/Rechts“ vor allem mit Italien, Frankreich und Großbritannien – das sind unterschiedliche Länder und politische Systeme. Was sind die verbindenden Elemente?

Es gibt bei allen Unterschieden drei Ähnlichkeiten. Zum einen diesen Trend zur Kulturalisierung gesellschaftlicher Konflikte. Zweitens eine extreme Personalisierung an der Spitze, die mit einer stärkeren Basis­orien­tierung verbunden ist. Und drittens: Die EU wird in unterschiedlichen Graden als Gegner verstanden. Das war offenkundig beim Brexit der Fall. Aber auch beim Nein zum Verfassungsreferendum in Frankreich. Michel Barnier, der für die Republikaner Präsidentschaftskandidat werden wollte, hat den Vorrang des EU-Rechts vor nationalem Recht infrage gestellt. Das wäre das Ende der EU, wie wir sie kennen. Auch in Italien haben Konservative das Feindbild EU gepflegt. In allen drei Ländern ist die konservative Mitte verwaist.

Weil die Konservativen in einen Zangengriff zwischen Rechtspopulisten und Liberalen geraten sind?

In Frankreich ist nach 2017 genau das passiert. Die Republikaner wurden zwischen Macron und Le Pen aufgerieben. Aber das lässt sich nicht verallgemeinern. In Italien sieht man dies nicht, schon weil es dort keine bedeutende liberale Partei gab. In Großbritannien gab es nach 2010 einen kurzen Moment, in dem die Tories in diese Klemme zu kommen schienen. Die Liberaldemokraten waren damals sehr stark, auf der anderen Seite formierte sich Ukip. Doch diese Zangenbewegung war instabil, weil die Liberaldemokraten in der Regierung mit Labour keine gute Figur machten. Danach zerstörten die Tories Ukip, indem sie den Brexit zu ihrer Forderung machen.

Johnson, Sarkozy und Berlusconi sind anders als klassische konservative Politiker: flatterhaft, unsolide, hochstaplerisch. Ist ihr Erfolg Ausdruck einer Krise des Konservativismus – oder ist das Zufall?

Nein, das ist kein Zufall, sondern Symptom einer Veränderung. Dass solche Leute nach ganz oben kommen, hat mit der stärkeren Basisorientierung der konservativen Parteien zu tun. Bei den Tories hat vor 25 Jahren die Fraktion den Kandidaten gewählt, jetzt entscheidet nach einer Vorauswahl der Fraktion die Basis. Das begünstigt hemdsärmelige Macher wie Boris Johnson, die rhetorisch zuspitzen. Auch dass Kommunikation direkt über Social Media läuft und die Parteiapparate eine geringe Rolle spielen, bevorteilt einen neuen Typus. Ein schlagendes Beispiel dafür ist Matteo Salvini oder auch Sebastian Kurz, der die ÖVP in eine Liste Kurz verwandelte.

Wolfgang Schäuble hat 2019 Markus Söder als Kanzlerkandidaten verhindert, weil er mit Söder eine ähnliche Gefahr für die Union sah. Ist das realistisch?

Die Basis der Union war eine Weile fasziniert von Sebastian Kurz. Kurz hat gezeigt, wie schnell Dinge ins Rutschen kommen können. Aber ich halte solche Szenarien für die Union für nicht sehr wahrscheinlich.

Warum?

Die Anreize sind anders. Die Union wird ja eher mit der SPD oder den Grünen regieren und muss gesprächsfähig bleiben. Das bremst den Weg nach rechts. In Italien wird mit der Regierung prämiert, wer die breiteste Koalition zusammenbringt – das schließt den rechten Rand ein. In Deutschland gibt es hingegen einen Fetisch der Mitte, den man in anderen Ländern so nicht findet.

Brauchen wir eigentlich eine gemäßigt konservative Partei?

Ich denke ja. Man kann in den USA sehen, was passiert, wenn die konservative Mitte verschwindet. Es entsteht eine Art Dauerpolitisierung aller Lebensbereiche mit extremen Polarisierungen. Es macht einen großen Unterschied, ob man bei Themen wie Migration im öffentlichen Diskurs versachlicht oder anheizt. Und Konservative können Wandel besser akzeptabel machen als Grüne oder Linke. Das ist der unique selling point des gemäßigten Konservativismus. Der wird gebraucht.

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