Dekan der Gaza-Uni über den Krieg: „Das wäre eine weitere Nakba“
Israel will die Palästinenser in Gaza zur Auswanderung zwingen, sagt Wesam Amer, Dekan an der Gaza-Uni. Er selbst lebt mittlerweile in Hamburg.
Nach dem Hamas-Massaker vom 7. Oktober 2023 hat die taz mehrfach mit Wesam Amer im Gazastreifen gesprochen, der von der Lage vor Ort berichtete. Im November wurde er als deutscher Staatsbürger mit seiner Familie evakuiert und lebt nun in Hamburg. Am zweiten Tag nach der Ankunft brachte seine Frau Zwillinge zur Welt.
taz: Herr Amer, wie ist es, den Gazakrieg nun von Hamburg aus zu verfolgen?
Wesam Amer: Ich habe Angst um meine Familie und Freunde. Jede Minute könnte ein Anruf kommen. Die Luftangriffe hören nicht auf. Nur wenige Krankenhäuser sind noch intakt. Diesen Horror kenne ich, nun beobachte ich ihn aus der Ferne.
Wie geht es Ihren Verwandten vor Ort?
wuchs in Chan Junis im Gazastreifen auf. Er hat in Gaza-Stadt, Cambridge und Harvard studiert und gelehrt. In Hamburg promovierte er in Medien- und Kulturwissenschaften. 2020 kehrte er als Dekan der Fakultät Kommunikation und Sprachen der Gaza-Universität in den Gazastreifen zurück.
Meine Brüder und Schwestern wohnen jetzt bei Freunden oder Verwandten in Rafah. Ich sage ihnen immer, dass sie damit rechnen müssen, auf die Sinai-Halbinsel zu gehen.
Laut Netanjahu gibt es keinen Plan, die Palästinenser nach Ägypten zu vertreiben. Aber wäre es aus humanitärer Sicht nicht sogar die beste Option, wenn die Menschen Schutz auf dem Sinai fänden, zumindest temporär?
Ich gehe schon davon aus, dass es der Plan ist, die Menschen zum Auswandern zu zwingen. Aber das wäre eine weitere Nakba, wie sie schon 1948 meinen Großeltern widerfahren ist. Sie wurden gezwungen, ihre Dörfer zu verlassen, und kehrten nie zurück.
Sie haben in Chan Yunis gelebt und an der Universität in Gaza-Stadt gearbeitet. Wie haben Sie den 7. Oktober erlebt?
Meine Töchter und ich machten uns morgens gerade fertig, als wir das Geräusch von Raketen hörten, die auf Israel abgefeuert wurden. Zuerst verstanden wir nicht, was los war. Dann erfuhren wir von den Autos mit militanten Kämpfern in den israelischen Siedlungen um Gaza. Das war schockierend.
Stimmt es nicht, dass das gefeiert wurde?
Niemand um uns herum feierte. Der Ernst der Lage war uns bewusst. Die Fortschritte, die wir beim Wiederaufbau unseres Lebens gemacht hatten, waren in Gefahr. Die Fähigkeiten des Widerstands und der Hamas-Milizen überraschten alle. Sie waren in die Siedlungen eingedrungen, hatten Menschen entführt und Soldaten gefangen genommen.
Gab es in Ihrem Umfeld ein Bewusstsein dafür, dass sich die Angriffe gegen Zivilisten richteten?
Ich will ehrlich sein, wenn es um Begriffe wie Zivilisten und Soldaten geht: Beide werden in Gaza als gefährlich angesehen. Die Siedler tragen Waffen und verletzen regelmäßig Palästinenser. Ich persönlich bin mit der Gewalt, die wir erlebt haben, natürlich nicht einverstanden. Wenn Sie mich fragen, ob das, was die Hamas getan hat, legitim ist, ist meine Antwort ein klares Nein. Aber Sie müssen verstehen, dass die Menschen die Siedler genauso fürchten wie die Soldaten.
Sie sprechen von Siedlungen und Siedlern. Dabei handelt es sich bei den Orten um den Gazastreifen völkerrechtlich nicht um Siedlungen. Beziehen Sie sich mit dem Begriff auf alle Dörfer und Städte in Israel?
Nein, natürlich nicht. Nur auf die Siedlungen, die den Gazastreifen umgeben. Das ist die palästinensische Perspektive.
Aber diese Orte liegen auf israelischem Staatsgebiet, innerhalb der Grenzen von 1967. Ist für Sie auch Tel Aviv eine Siedlung?
Die Leute, die in Tel Aviv, Jaffa oder anderen Städten leben, sind keine Siedler. Wir haben uns vor Jahren geeinigt, eine friedliche Lösung innerhalb dieser Grenzen anzustreben.
Was ist der Unterschied zwischen Tel Aviv und einem Kibbuz wie Kfar Aza?
Wenn wir über eine nachhaltige Lösung des Konflikts sprechen, über eine Zweistaatenlösung entlang der Grenzen von 1967, dann braucht es ein zusammenhängendes Territorium zwischen Gaza und dem Westjordanland. Das ist unmöglich, wenn die Siedlungen rund um Gaza weiter bestehen. Palästinensische Inseln mit Siedlungen dazwischen sind keine Lösung.
Wie hat der Krieg Ihre Arbeit an der Universität verändert?
Wir hatten gerade das neue Semester begonnen, dann kam alles zum Stillstand. Die Gaza-Universität wurde teilweise zerstört. Eine andere Universität, an der ich unterrichtete, wurde vollständig dem Erdboden gleichgemacht. Selbst wenn der Krieg morgen zu Ende ginge, wäre eine Rückkehr an den Arbeitsplatz nicht möglich. Der Wiederaufbau des Bildungssystems wird eine gewaltige Aufgabe sein.
Haben Sie mitbekommen, dass zivile Einrichtungen von der Hamas militärisch genutzt werden?
Israel mag etwas anderes behaupten, aber Universitäten sind Bildungseinrichtungen. Sie werden nicht für die Lagerung oder den Einsatz von Waffen genutzt.
Sie persönlich haben nichts dergleichen gesehen?
Nein, niemals.
Wie erklären Sie sich, dass Israel zivile Einrichtungen angreift?
Israel will die Menschen in Gaza zur Auswanderung zwingen. Dazu dienen Angriffe auf alles, auch auf Krankenhäuser, in denen sich Personal, Babys und ältere Menschen befinden. Israel spricht zwar von Tunneln und Waffenlagern unter zivilen Einrichtungen, aber es gibt kaum Beweise, dass diese Einrichtungen direkt der Hamas dienen.
Journalisten wurden schon vor Wochen in das Schifa-Krankenhaus geführt. Sie haben die Tunnel gesehen und darüber berichtet.
Unabhängige Journalisten oder solche, die in die IDF (israelische Armee, d. Red.) eingebettet waren?
Eingebettet in die IDF.
Diese Journalisten werden von Israel zensiert, um genau das zu vermitteln, was die IDF wollen. Das ist Teil der Propaganda.
Natürlich sind die Journalisten-Trips nach Gaza Teil der strategischen Pressearbeit der IDF. Aber behaupten Sie, dass die Tunnel, die Reporter der New York Times oder der Zeit beschrieben haben, nicht existieren?
Es gibt unterirdische Verbindungen zwischen Krankenhausgebäuden, z.B. Korridore oder Garagen. Ohne objektive Nachforschungen ist aber davon auszugehen, dass die meisten dieser Tunnel für Patienten und Personal waren. Nach allgemeiner Auffassung befinden sich die meisten Hamas-Tunnel in der Nähe der Grenze zu Israel, nicht in Wohngebieten. Die IDF haben erhebliche Ressourcen bereitgestellt, um die Medienberichterstattung zu steuern und einzuschränken, und schrecken vor Falschdarstellungen nicht zurück.
Sie sind Medienforscher. Wie sehen Sie die Rolle der Medien im Gazakrieg?
Es gibt einen großen Unterschied zwischen westlichen Medien und arabischen, insbesondere Al Jazeera. Al Jazeera hat Journalisten vor Ort, die Zugang zu den Menschen haben. Die westlichen Medien konzentrieren sich auf die israelische Perspektive und lassen oft die ganze Geschichte aus. Infolgedessen erhalten viele Menschen kein vollständiges Bild und unterstützen unwissentlich gewalttätige Aktionen, die sie in ihrem eigenen Land niemals gutheißen würden.
Was meinen Sie mit der „ganzen Geschichte?
Palästinensischen Stimmen wird nur sehr wenig Platz eingeräumt. Außerdem wird der Kontext im Allgemeinen übersehen. Als die Hamas 2006 in freien Wahlen gewählt wurde, lehnte Israel mit Unterstützung der USA das Wahlergebnis ab. Seit 2007 schnitten sie den Gazastreifen durch eine Betonmauer von der Welt ab. Westliche Medien berichten über den 7. Oktober, verlieren aber kein Wort über das elende Leben der Menschen in völliger Abhängigkeit von der Gnade Israels und unter wiederkehrenden Bombardierungen. Der 7. Oktober muss als Reaktion auf die Blockade betrachtet werden. Die lang aufgestaute Wut entlud sich.
Sie können nicht abstreiten, dass es eine grauenvolle Reaktion war, ein Angriff auf Alte, auf Babys, auf Frauen. Sie haben die Bilder der Unschuldigen doch selbst gesehen.
Natürlich! Es war ein schrecklicher Angriff auf israelische Zivilisten. Alle sind sich einig, dass solche Gewalt keine Lösung ist. Aber leider hat die internationale Gemeinschaft seit Jahrzehnten ignoriert, was die Menschen in Gaza seit vielen Jahren ertragen müssen.
Mittlerweile wird aber viel über das Leid in Gaza berichtet.
Richtig, westliche Medien betonen jetzt die humanitäre Lage. Das ist wichtig, allerdings kann die ausschließliche Konzentration darauf auch dazu führen, dass der gesamte Konflikt als ein humanitärer gesehen wird. Was wir brauchen, ist aber eine politische Lösung, die den Palästinensern eine echte Zukunft bietet.
Wie könnte die aussehen?
Es braucht einen Waffenstillstand und ernsthafte Verhandlungen mit allen palästinensischen Fraktionen. Die Hamas wurde jahrelang von der internationalen Gemeinschaft ignoriert. Wir können nicht leugnen, dass sie eine der großen Fraktionen ist.
Können Sie nicht nachvollziehen, dass Israel mit einer Organisation keine Verhandlungen führen will, die in einem einzigen Massaker mehr als 1.000 Menschen getötet hat?
Ich verurteile die Gewalt. Aber diejenigen, die solche Frage stellen, bringen nicht die gleiche Besorgnis über die zahlreichen Verbrechen gegen Palästinenser seit 1948 zum Ausdruck. Das ist Doppelmoral. Wenn wir uns wirklich für eine Lösung einsetzen wollen, müssen wir die Ungerechtigkeit auf allen Seiten anerkennen.
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