Debatten über extreme Wärme: Die Hitzediktatur
Die nächste deutsche Gesundheitskrise steht an. Sie dürfte der Coronapandemie ziemlich ähneln, zumindest was die politischen Diskussionen angeht.
Hitze ist tödlich. Dieses Jahr sollen schon 640 Menschen in Deutschland an der anhaltenden Hitze gestorben sein, schätzt das Robert-Koch-Institut. Und auch von spanischen Forscher:innen gibt es Zahlen: Im Sommer 2022 sind rund 8.200 Menschen in Deutschland an Hitze gestorben. Herausgefunden haben die Epidemiolog:innen das, indem sie die Todeszahlen in heißen Wochen mit vergleichbaren Wochen anderer Jahre verglichen haben, das Ergebnis ist die sogenannte Übersterblichkeit durch Hitze. „RKI“, „Übersterblichkeit“, „Epidemiolog:innen“ und die Vermeldung von Todeszahlen – alles weckt unangenehme Erinnerungen an längst verdrängte Coronajahre.
Die schlechte Nachricht: Die Todeszahlen werden sogar steigen – von europaweit aktuell rund 60.000 Hitzetoten pro Sommer auf 94.000 Todesfälle bis 2040 und laut spanischen Forscher:innen deutlich über 120.000 Toten bis 2050, der Klimawandel fordert seinen Tribut. Auch wenn es dieses Mal keine Pandemiewelle ist, die auf die deutsche Gesellschaft zurollt, sondern eine Hitzewelle – wir sind gewappnet! Zumindest verbal, denn die Debatten, die uns alle erwarten, dürften ähnlich ablaufen wie jene zur Coronapandemie.
Vor allem Menschen mit Vorerkrankungen oder ältere Personen werden unter den hohen Temperaturen leiden – und sterben. Wie auch zu Coronazeiten werden Einschränkungen notwendig werden, wenn wir die Schwächsten vor dem Hitzetod bewahren wollen. Nicht indem wir das Haus nicht mehr verlassen oder Maske tragen, sondern indem wir die Wirtschaft an CO2-Budgets fesseln, die Regierung beschließt, unsere Heizungen austauschen zu lassen, und wir alle weniger verkonsumieren.
Und das sind sie: die Zutaten für eine aufgeregte Diskussion à la Coronapandemie. Wer erinnert sich noch an die Aussage von Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer: „Wir retten möglicherweise Menschen, die in einem halben Jahr sowieso tot wären.“ Irgendeine Person, die seine Rolle diesmal übernimmt, wird sich finden, und sie wird sagen: Ob Opa nun im Sommer stirbt oder doch erst kurz vor Weihnachten, ist das nicht egal, wo sein Herz doch eh schon so schwach gewesen ist?
Politikstil je nach Wetterlage
Vielleicht werden die ein oder anderen ja auch die „Hitzediktatur“ anprangern in Anlehnung an die angebliche „Ökodiktatur“, wenn ihnen angesichts der notwendigen CO2-Einschränkungen das Tempolimit aufgedrückt und der Fleischkonsum verteuert wird. Denn wieso sollte ich mich einschränken, wenn ich es mir doch gesundheitlich und finanziell leisten kann?
Selbst das TV-Programm ist schon erprobt, man braucht sich nur Talkshows wie die von Markus Lanz vorzustellen: Da sitzt dann ein Hitzeexperte – das Pendant zu den Coronavirolog:innen – und plädiert für Kälteräume, die man präventiv einrichten müsse, während die Klimawissenschaftlerin – wie die Pandemieforscher:innen von einst – bereits vor den kommenden Sommern mit ihren Hitze- und Todeswellen warnt und langfristige Maßnahmen fordert.
Der Politikstil von Markus Söder, der sich bei Corona erst zum Schützer der Alten und Schwachen aufschwang, nur um dann das Ende der Maßnahmen zu fordern, könnte wieder zu einer gut geölten Wahlkampfstrategie werden. Vielleicht ändert sich die Klimaschutzagenda der Landesfürst:innen dann mit den Jahreszeiten, im Winter sterben schließlich deutlich weniger Menschen an Hitze. Und auch jene Personen, die die wirtschaftlichen Interessen gegen die Opfer der Hitzeepidemie ausspielen, werden vor den Kameras sitzen, nicht erkennend, dass eh niemand arbeiten kann, wenn die Bauarbeiter:innen zu ihrem Schutz ein Bauverbot in der prallen Sonne auferlegt bekommen.
Die Gesellschaft hat die Debatten, die auf sie durch die Klimakrise zukommen, alle schon einmal durchgespielt. Die Blockadehaltung vieler gesellschaftlicher Gruppen beim Klimaschutz wird sich auch dann schwer ändern, wenn sie uns als Gesundheitskrise die Großeltern raubt. Dafür kennen wir die Strecke durch das Hamsterrad schon zu gut – auf geht es in die nächste Runde.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kinderbetreuung in der DDR
„Alle haben funktioniert“
Hybride Kriegsführung
Angriff auf die Lebensadern
BSW in Koalitionen
Bald an der Macht – aber mit Risiko
Dieter Bohlen als CDU-Berater
Cheri, Cheri Friedrich
Niederlage für Baschar al-Assad
Zusammenbruch in Aleppo
Sport in Zeiten des Nahost-Kriegs
Die unheimliche Reise eines Basketballklubs