Debatte um Patriotismus: „Wir“ und „die“, was soll das sein?
Manche Linke berufen sich auf ihre Liebe zur Heimat. Dabei ist es nötig, ein „Wir“ zu schaffen, das sich auf Werte bezieht – und nicht auf Herkunft.
D ie Idee der Nation wurde in den letzten Jahrzehnten immer weniger wichtig. Aber seit einigen Jahren feiert sie eine teilweise Renaissance. Es sind nicht nur Rechtsextreme und Rechtspopulisten, die die Liebe zur Nation hochhalten – auch Progressive treten vermehrt für eine eigene positive Haltung zum eigenen Land ein. Sie propagieren eine freundliche Vaterlandsliebe, die alle Menschen einschließt, die ein Land bewohnen.
Eine offene und pluralistische Nation forderte beispielsweise der Grünenpolitiker Cem Özdemir mit einer Rede im Bundestag, für die er die Auszeichnung „Rede des Jahres 2018“ erhielt. Damit machte er explizit den Rechten die Deutungshoheit über den Patriotismus streitig.
Ähnliches fordert auch der amerikanische Präsidentschaftskandidat Bernie Sanders. In einer Rede, in der er sein Konzept eines demokratischen Sozialismus erklärt, sagt er: „Wir müssen uns als Teil einer Nation sehen, einer Community, einer Gesellschaft – unabhängig von Rasse, Geschlecht, Religion, sexueller Orientierung oder Herkunftsland.“
Die Idee ist die: Es ist sinnvoll, die Vaterlandsliebe zu integrieren und weltoffen zu definieren. Wenn diejenigen, die ein emotionales Verhältnis zur Nation haben, nur als reaktionär angegriffen werden, überlässt man es der Rechten, die Liebe zur Nation zu bestimmen. An diesem Argument ist etwas dran.
Gemeinsame Geschichte und Werte
Die Art von offenem Patriotismus, wie sie von Sanders, Özdemir und vielen anderen vertreten wird, nennt man in Deutschland Verfassungspatriotismus. Das ist ein staatsbürgerschaftliches Konzept, das auf gemeinsamen politischen Werten wie Demokratie und Meinungsfreiheit beruhen soll, statt auf Abstammungs- oder Sprachgemeinschaften. Die Nation wird durch eine gemeinsam erlebte Geschichte und gemeinsame Werte zusammengehalten.
Der Sozialphilosoph Charles Taylor hält den Verfassungspatriotismus für den Motor moderner Demokratien. Er beinhalte Stolz und Scham. Wenn ein Gesetz verabschiedet werde, das allen den gleichen Platz in der Gesellschaft gebe, fühle er stolz, während er sich schäme, wenn ein Gesetz Menschen diskriminiere.
Das Problem daran ist: Vieles spricht dafür, dass der abwertende, aggressive Nationalismus nur die andere Seite dieses freundlichen Patriotismus ist. Das hieße, wer das eine fördert, fördert gleichzeitig auch das andere. Selbst in den USA, wo der nationale „Gründungsmythos“ als einschließender und offener gedacht ist, wurde ein Nationalchauvinist zum Präsidenten gewählt. Mindestens in Deutschland sind die Begriffe Volk und Nation außerdem stark von völkischen Assoziationen bestimmt.
Werte sind unabhängig von der Herkunft
Aber auch ohne solche Traditionen begünstigt die innere Logik des Nationalen Ausgrenzung und Unterdrückung. Das Kernproblem ist, dass der „Verfassungspatriotismus“ sich nicht zwischen Universalismus und Partikularismus entscheiden kann. Im Kern will er universalistisch sein, schließlich wird im ersten Satz des Grundgesetzes nicht die Würde des Deutschen ausgerufen, sondern die Würde des Menschen. Der Begriff „Nation“ bezieht sich aber eben auf die Herkunft. Werte sind unabhängig von der Herkunft.
Sobald wir Menschen als Iren, Italiener oder Deutsche bezeichnen, ziehen wir eine Linie und müssen diesen „Unterschied“ markieren. Unterschiede werden in Gegensätzen ausgedrückt. Wenn Deutsche „fleißig“ sind, muss es woanders welche geben, die „faul“ sind. Wenn wir von verschiedenen „Kulturkreisen“ sprechen, die über nationale Begriffe vermittelt werden, dann neigen wir dazu, den Angehörigen einer Nation bestimmte, feste Eigenschaften zuzuweisen, entlang dieser Unterschiedslogik.
Bei Fußball behaupten Kommentatoren gerne, dass Italiener oder Argentinier besonders „heißblütig“ seien, was im Umkehrschluss heißt, dass diese ihre Gefühle nicht kontrollieren können. Die Nazis erfanden sogar das Wort „undeutsch“, mit dem alle und alles ausgeschlossen und abgewertet werden, die nicht den festgelegten Eigenschaften entsprechen.
Neigungen sind keine Naturgesetze
Laut dem französischen Philosophen François Jullien ist es sinnvoller, von kulturellen „Abständen“ statt von „Unterschieden“ zu sprechen. Demnach gibt es zwar Abstände, doch die Übergänge sind fließend und überbrückbar und im Dazwischen passiert ganz viel. Unterschiede definieren sich über Gegensätze. Und nur in Gegensätzen zu denken verzerrt die Wahrnehmung.
Solche festlegenden Zuschreibungen entstehen, wenn Menschen nach Herkunft bezeichnet oder gedacht werden. Es ist sozialpsychologisch gut belegt, dass Menschen dazu neigen, die „Eigengruppe“ zu erhöhen und zu vereinheitlichen, die Fremdgruppe wird abgewertet und ebenfalls vereinheitlicht.
Neigungen wie diese sind keine Naturgesetze. Sie können durch Wissen und Nachdenken an Macht verlieren. Dennoch sollten wir uns gut überlegen, entlang welcher Grenze zwischen „wir“ und „die“ unterschieden wird. Gewinnbringender wäre es, die Grenze zwischen denen zu ziehen, die Solidarität und Freiheit lieben, und solchen, die es nicht tun.
Liebe zur Freiheit und Menschlichkeit
Warum sollten sich überhaupt Rechte und Linke, Ausbeutende und Ausgebeutete, Gerechtigkeitsliebende und Nach-unten-Treter einer Gemeinschaft zugehörig fühlen? Die Nation vereint, was nicht zusammenpasst. Dennoch hat das Konzept eines freundlichen Patriotismus Vorteile: Es stellt die rechten Deutungen von Nation und Vaterlandsliebe in Frage. Daher sollte man VerfassungspatriotInnen nicht als latente Rechtsextreme diffamieren.
Es ist bestens möglich, ein „Wir“ zu schaffen, das sich konsequent auf Werte und nicht auf Herkunft bezieht, wie es die riesige Unteilbar-Demo in Berlin 2018 so erfolgreich zeigte. Was diese Menschen einte, war die Liebe zur Menschlichkeit und zur Freiheit, nicht zur Nation.
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