Christoph Butterwegge über Sozialstatistik: „Armut wird stark verharmlost“
Die offiziellen Zahlen des statistischen Bundesamts seien geschönt, sagt der Armutsforscher Christoph Butterwegge. Von der Politik fordert er höhere Entlastungen für Arme.
taz: Herr Butterwegge, das Statistische Bundesamt hat Zahlen zu Armut in Deutschland 2021 veröffentlicht. Wie schätzen Sie diese ein?
Christoph Butterwegge: Die Zahlen stellen die Armut eher verharmlosend dar. So wird nur die relative Einkommensarmut berücksichtigt und nicht die absolute Armut. Besonders finanzschwache Gruppen sind in der Statistik gar nicht enthalten, denn es geht bloß um Armut im Haushaltskontext. Obdachlose oder Menschen, die in Notunterkünften leben, bleiben zum Beispiel außen vor.
Anhand der vorliegenden Zahlen sollen 13 Millionen Menschen in Deutschland, also 15,8 Prozent der Bevölkerung, im Jahr 2020 armutsgefährdet gewesen sein, auf die sich die Erhebung bezieht, das heißt 200.000 Menschen weniger als vor der Pandemie.
Welche Zahlen werden hier verwendet?
ist 71 Jahre alt und Armutsforscher. Bis 2016 lehrte er an der Universität Köln. Im Mai 2022 erschien sein Buch „Die polarisierende Pandemie“.
Bei den Erstergebnissen von EU-SILC, auf die sich das Bundesamt stützt, liegt der Schwellenwert für die Armutsgefährdung bei 1.251 Euro pro Monat. Da fällt die Armutsgefährdung geringer aus als im Armutsbericht des Paritätischen Gesamtverbandes, der sich auf den Mikrozensus beruft, die größte und seriöseste Sozialstatistik Deutschlands. Dort ist die Armutsrisikoschwelle mit 1.148 Euro monatlich niedriger und die Zahl der Armutsbetroffenen mit 16,6 Prozent der Bevölkerung um 800.000 Personen höher.
Welches Problem liegt bei der Berechnung der Armut vor?
Mein größter Kritikpunkt ist, dass der Reichtum in Deutschland nicht erhoben wird. Man sieht in den Zahlen nicht die soziale Ungleichheit. Gerade in der Pandemie hat diese sich aber verschärft.
Der auf mehreren Ebenen zu beobachtende Polarisierungseffekt wurde von den Finanzhilfen des Staates verstärkt und nicht abgemildert. Die Armut wurde durch kleine Einmalzahlungen kaum gelindert, aber die großen Unternehmen und ihre Eigentümer sind zum Beispiel durch den Wirtschaftsstabilisierungsfonds mit einem Volumen von 600 Milliarden Euro sehr großzügig bedacht geworden. Ohne unnötig dramatisieren zu wollen, stelle ich fest: Unsere Gesellschaft fällt stärker auseinander.
Wird die soziale Ungleichheit in den Daten des Statistischen Bundesamts sichtbar?
Nein, diese Polarisierung wird in doppelter Hinsicht nicht abgebildet. Erstens, weil auf den Reichtum gar nicht erst geguckt wird, und zweitens wird die Armut stark verharmlost. Denn Arme können sich für ihr Geld immer weniger kaufen. Die Inflationsrate lag auf dem Höhepunkt der Pandemie zum Jahreswechsel bei über 5 Prozent. Zum 1. Januar wurde der früher „Regelsatz“ genannte Regelbedarf für Alleinstehende aber nur um weniger als 0,7 Prozent erhöht. Auch bei den Kindern und Jugendlichen erreichte die Anpassung nicht einmal 1 Prozent. Gerade die Ärmsten unter den Armen wurden somit noch ärmer gemacht.
Welche Menschen sind jetzt besonders stark durch Armut gefährdet?
Die relative Einkommensarmut schiebt sich gerade in die untere Mittelschicht vor. Das verschärfen die inflationären Tendenzen, die wir gerade haben. Betroffen sind längst Menschen, die früher aufgrund ihres „normalen“ Lohns oder Gehalts keine Probleme hatten, über die Runden zu kommen.
Und jetzt?
Die relative Einkommensarmut kann in absolute Armut umschlagen, was sich in Verelendungstendenzen bei Wohnungs- und Obdachlosen, Suchtkranken sowie illegalisierten Migrantinnen und Migranten niederschlägt. Wenn sich die Gaspreise verdoppeln oder verdreifachen, können Familien aus der Mittelschicht in arge Bedrängnis geraten. Die Entlastungspakete der Bundesregierung weisen genauso wie die Finanzhilfen in der Pandemie eine verteilungspolitische Schieflage auf.
Ihre Forderung an die Politik?
Es müssen die Regelbedarfe erhöht werden. Das gilt für die Grundsicherung im Alter, das Arbeitslosengeld II und auch die Asylbewerberleistungen. Die Preise steigen immer weiter, doch die Regelbedarfe bleiben zurück.
Als zweites fordere ich, dass die Stromkosten aus dem Regelbedarf herausgenommen werden. Zurzeit sind 38 Euro der 449 Euro für Strom vorgesehen, doch das reicht nicht. Die Stromkosten müssen den Miet- und Heizkosten zugeschlagen werden. Drittens sollten Strom- und Gassperren gesetzlich verboten werden. Im schlimmsten Fall müssen kälteempfindliche Rentner und Rentnerinnen frieren und Kinder im Dunkeln ihre Schularbeiten machen.
Viertens muss es auf Räumungsklagen und Zwangsräumen zumindest ein Moratorium geben. Solange die Inflationsrate und die Energiekosten steigen, darf niemand aus der Wohnung geklagt werden. Der Staat muss dem Sozialstaatsprinzip des Grundgesetzes gerecht werden und nicht nach dem neoliberalen Leistungsprinzip die Reichen noch mehr begünstigen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Lohneinbußen für Volkswagen-Manager
Der Witz des VW-Vorstands
Anschlag in Magdeburg
Vorsicht mit psychopathologischen Deutungen
Insolventer Flugtaxi-Entwickler
Lilium findet doch noch Käufer
Polizeigewalt gegen Geflüchtete
An der Hamburger Hafenkante sitzt die Dienstwaffe locker
Preise fürs Parken in der Schweiz
Fettes Auto, fette Gebühr
Rekordhoch beim Kirchenasyl – ein FAQ
Der Staat, die Kirchen und das Asyl