Bürgerräte: Demokratie erneuern
Bürgerräte haben Potenzial zur Konfliktvermeidung. Dafür müssen Entscheidungsträger*innen sie ernst nehmen!
D as Konzept Bürgerrat findet immer mehr Anklang. Einen Beitrag zur Demokratie leisten solche Prozesse allerdings nur, wenn die politisch Verantwortlichen es mit der Beteiligung ernst meinen. Beim neuen Bürgerrat „Gemeinsame Verkehrswende in Stadt und Land“ scheint das nicht der Fall zu sein. Auftraggeber des Bürgerrats ist das Bundesministerium für Bildung und Forschung. Schon das ist verwunderlich, denn für die Verkehrswende wäre wohl ein anderes Ministerium zuständig.
Das Ministerium selbst kommuniziert zudem nicht zum Bürgerrat. Es gibt weder Pressemitteilungen noch Posts auf den Social-Media-Kanälen des Ministeriums oder der Ministerin Bettina Stark-Watzinger. Wer Informationen sucht, muss auf separate Websites, wie die des mit der Umsetzung beauftragten nexus Institut zurückgreifen.
Bürgerräte werden meist in mehrstufigen Losverfahren zusammengesetzt. Ziel ist, dass sie für die Gesamtbevölkerung so repräsentativ sind, wie das mit einer begrenzten Anzahl an Personen eben geht. Teilnehmende erleben so einen politischen Austausch zwischen einer Vielfalt von Menschen und Lebensrealitäten, wie er im Alltag selten vorkommt.
In einem Zeitraum von mehreren Wochen oder Monaten, begleitet durch kompetente Moderation, kann dabei echtes Verständnis für gegensätzliche Positionen entstehen. Bürgerräte können Perspektiven in die Entscheidungsfindung einbringen, die sonst oft übersehen werden. Im Kleinen können gesellschaftliche Konflikte gelöst werden. Bürgerräte können die Demokratie abseits von Wahlen erlebbar machen.
arbeitet für das Innovation in Politics Institute als Chefredakteurin des Onlinemagazins „Democracy Technologies“, das sich mit digitaler Demokratie beschäftigt. In ihrer früheren Position leitete sie die Innovation in Politics Awards. Sie hat and der Wirtschaftsuniversität Wien Sozioökologische Wirtschaft und Politik studiert.
Brüssel zeigt, wie´s gemacht wird
Das Thema Verkehrswende ist also perfekt geeignet für einen Bürgerrat. Alle sind davon betroffen, aber auf sehr unterschiedliche Weise. Es gibt offene Konflikte, die gelöst werden müssen. Damit der Bürgerrat dieses Potenzial auch erfüllen kann, müssten die Ergebnisse aber auch in der Politik ankommen. Hardcore-Fans von Bürgerräten fordern, dass diese verbindliche Entscheidungen treffen können sollten. Eine solch massive Änderung des politischen Systems ist aber gar nicht nötig.
Was es braucht, ist Verlässlichkeit, dass sich die jeweils Zuständigen in der Politik ernsthaft mit den Ergebnissen beschäftigen und sie so weit wie möglich umsetzen. Das kann beim Bürgerrat zur Verkehrswende schon mal nicht funktionieren, wenn weder das Verkehrsministerium noch der Bundestag beteiligt ist. Das Bildungsministerium erklärt das so, dass die Ergebnisse in die Ausgestaltung von Mobilitätsforschung einfließen sollen. Ihr Einfluss ist also allenfalls sehr indirekt.
In Brüssel gibt es regelmäßig sogenannte Deliberative Komitees, die sich aus gelosten Einwohner*innen und Mitgliedern des Parlaments zusammensetzen. Auf die erarbeiteten Empfehlungen muss das Parlament reagieren. Innerhalb von sechs bis neun Monaten gibt es eine Anschlusssitzung, in der Fortschritt mit den Teilnehmenden besprochen wird.
Eigentlich sollte auch die Ampelkoalition in diesem Thema längst weiter sein. Im Koalitionsvertrag ist vereinbart, dass sie Bürgerräte durch den Bundestag einsetzen lassen und dieser sich auch mit den Ergebnissen befassen würde. Das war bisher einzig im Bürgerrat Ernährung der Fall. Dessen Ergebnisse werden am Dienstag diese Woche dem Bundestag übergeben.
Mehr Akzeptanz für schwierige Entscheidungen
Manche der Forderungen, wie die Tierwohlabgabe und das kostenlose Mittagessen an Schulen und Kindergärten, haben es schon bei ihrer Bekanntgabe in den öffentlichen Diskurs geschafft. Das ist eine weitere Funktion von Bürgerräten. Wenn alles gut läuft, gewinnen nicht nur Teilnehmende, sondern auch die beobachtende Öffentlichkeit ein besseres Gefühl für den Wert und die Herausforderungen gelebter Demokratie. Das kann die Akzeptanz für die erzielten Kompromisse stärken.
Wie das funktioniert, zeigt das viel zitierte Beispiel des Bürgerrats zur Änderung der Verfassung in Irland. In einem darauffolgenden Referendum wurde das sehr restriktive Abtreibungsrecht geändert. Ohne die öffentliche Debatte wäre das im katholischen Irland kaum denkbar gewesen. Für diese Art von gesellschaftlicher Befriedung muss es aber auch eine beobachtende Öffentlichkeit geben. Wie soll die entstehen, wenn nicht einmal das beauftragende Ministerium dazu kommuniziert?
Ein kürzlich durch die Bertelsmann Stiftung und das Innenministerium gestarteter Bürgerrat zum Thema Fake News ist, was Öffentlichkeitsarbeit angeht, deutlich besser aufgestellt. Es gibt eine breit angelegte Kampagne zur Bekanntmachung; auch das Ministerium hat dazu kommuniziert. In einem mehrstufigen Prozess wechseln sich Sitzungen des Bürgerrates und eine offene Beteiligung online ab.
Der Bürgerrat Verkehrswende ist natürlich weder das einzige noch das gravierendste Beispiel halbherziger Partizipation. Ähnlich läuft es auch häufig auf kommunaler Ebene. Kürzlich hat die Stadt Teltow eine digitale Beteiligungsplattform aufgesetzt. „Wir wollen die Menschen dieser Stadt an den für sie wichtigsten Entscheidungen teilhaben lassen“, heißt es auf der Webseite. Bisher gibt auf der Plattform aber nur ein einziges Thema, bei dem zur Beteiligung aufgerufen wird: die Namensfindung für ein Spielschiff auf einem Spielplatz.
Was einer wirklichen Erneuerung der Demokratie im Weg steht, sind Angst vor Kontrollverlust und ein veraltetes Demokratieverständnis, nach dem die Bürgerinnen und Bürger selbst nicht wissen, was gut für sie ist. Aber eine Demokratie ist nichts, was einmal schön aufgebaut wird und dann nie wieder verändern werden muss. Die Diversität heutiger Gesellschaften und die Komplexität der Herausforderungen setzen mehr Partizipation zwingend voraus. Wenn diese allerdings den Anschein erweckt, eher Beschäftigungsmaßnahme zu sein, schadet das der Demokratie und kostet weiteres Vertrauen.
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