Buch zur Geschichte Russlands: Unterwerfung über alles
Was steckt hinter Putins Krieg gegen die Ukraine? Orlando Figes erklärt in „Eine Geschichte Russlands“ den russischen Autoritarismus historisch.
Putins Krieg gegen die Ukraine, der inzwischen Zehntausende Tote gekostet haben dürfte, gibt noch immer Rätsel auf. Dieses Rätsel besser zu verstehen, hilft das neue Buch des in London lehrenden Historikers Orlando Figes, dem wir bereits eine 2003 erschienene, großangelegte Kulturgeschichte Russlands unter dem Titel „Nataschas Tanz“ verdanken.
Seine soeben erschienene „Geschichte Russlands“ erzählt ebenso flüssig wie unterhaltsam von der Geschichte dieses Landes, das seit jeher zu Europa gehören wollte, freilich nie entsprechend anerkannt und zudem tiefgreifend von Asien geprägt wurde.
Nun sind in den letzten Jahren von Gerd Koenen, mit Blick auf die Geschichte des Kommunismus, und von Karl Schlögel, mit Blick vor allem auf die untergegangene Sowjetunion, umfangreiche Darstellungen erschienen, die jedoch weniger als Figes auf das asiatische Erbe der Sowjetunion und Russlands eingehen – ein asiatisches Erbe, das zumal der Historiker Karl August Wittfogel (1896–1988) als „orientalische Despotie“ bezeichnet hat: eine Form politischer Organisation, die auf der zentralistischen Herrschaft vor allem über das Lebensmittel Wasser in agrarischen Gesellschaften beruhte.
„Orientalische Despotien“ sind demnach auf dem Anspruch totaler Macht beruhende Regimes, die sich entsprechend in einer allbeherrschenden Bürokratie äußern.
Erklärungen für Putins Krieg gegen die Ukraine
Nach einer Lektüre von Figes „Eine Geschichte Russlands“ wird man den von Putin vom Zaun gebrochenen Krieg gegen die Ukraine schon deshalb besser verstehen, weil jetzt deutlich wird, wie sehr Putin selbst von Erzählungen über die Geschichte Russlands beeinflusst ist und sich daher als Former und Fortsetzer dieser Geschichte versteht.
Russland, das macht Figes unmissverständlich klar, war schon je eine Autokratie – nicht erst seit dem westlich orientierten, aufklärerischen Zaren Peter dem Großen sowie Katharina der Großen, sondern schon lange vorher, nämlich seit den Mongolen, und auch später, seit Lenin und Stalin.
Denn: „Die Autokratie in Russland“, so Figes, „entwickelte sich anders als die europäischen absolutistischen Monarchien. Während sie die Theorie von Byzanz übernahm, verdankte sie alles, was die Praxis betraf, eher dem Vermächtnis der Mongolen.“
Thron und Altar, ungetrennt
Mehr noch: Anders als der katholische Westen kannten Byzanz und das in Russland hegemoniale orthodoxe Christentum keine Trennung von Thron und Altar, während seit der mongolischen Herrschaft über Russland – von 1237 bis 1502 – absolute Unterwerfung unter den Willen der Khane geboten war.
Demgegenüber verstand sich die Ukraine seit jeher dem europäischen Westen zugewandt, was entsprechend zu Kriegen und Auseinandersetzungen zumal mit dem später von Moskau regierten Russischen Reich führte.
Orlando Figes: „Eine Geschichte Russlands“. Aus dem Englischen von Norbert Juraschitz. Klett-Cotta, Stuttgart 2022, 448 Seiten, 28 Euro
Insofern steht Putin mit seinem Krieg – wie Figes in aktualisierenden Einschüben seines historischen Narrativs zeigt – in einer Tradition, die weitaus älter als er selbst und die von ihm erlebte Geschichte ist.
Eine Tradition, die auch noch die frühe Sowjetunion sowie die Epoche unter Stalin prägte, denn: „Während Lenin in dem Kult um ihn als menschlicher Gott oder Heiliger erschien, ein erleuchteter Führer für die Partei, die durch seinen Tod verwaiste, präsentiert der Kult um Stalin diesen als Zaren, als ‚Väterchen Zar‘ oder Zar-Batjuschka des Volkstums, der das Volk wie seine Kinder beschützen und sie zu einem besseren Leben führen würde. ‚Die Russen brauchen einen Zaren‘, sagte Stalin nicht nur einmal.“
Figes reich bebildertes sowie flüssig erzähltes Werk macht verständlich und nachvollziehbar, warum Russland auch nach dem Ende des Kommunismus keine Demokratie westlichen Typus ausbilden konnte. Das jahrhundertealte Erbe von Byzanz und der mongolischen „Goldenen Horde“ prägen bis heute eine politische Kultur, die dem westlichen Verständnis von Demokratie ferner nicht sein könnte.
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