Biografie über Lenin: Goodbye, Lenin

Vor 100 Jahren starb Lenin und noch immer spukt er in den Köpfen vieler Linker herum. Nun ist eine neue, intellektuelle Biografie erschienen.

Verschiedene Personen in Kostümen vor einer Lenin-Statue

Folklore auf einem Weihnachtsmarkt in St. Petersburg Foto: Dmitri Lovetsky/ap

Ohne Lenin hätte es die Oktoberrevolution nicht gegeben. Es hätte die russische Revolutionspartei nicht gegeben, und 1917 nicht den voluntaristischen Griff nach der Staatsmacht, der zum Prototyp jeder Art von „Revolution“ werden sollte. Man kann sagen: Auch der Kommunismus wird sich von Lenin so schnell nicht mehr erholen.

Dennoch gilt Lenin auch über die engsten Kreise sektiererischer Aufstandsromantiker hinaus noch bis heute als attraktive Figur. Als Verkörperung eines Traums, der dann nur Stalins wegen im bösen Albtraum endete. Exakt 100 Jahre ist es nun her, dass Wladimir Iljitsch Uljanow – „Lenin“ – in Moskau gestorben ist. Da war er nach mehreren Schlaganfällen schon hinfällig und siech.

Lenin-Bewertung und -Rezeption folgten stets leicht berechenbaren Konjunkturen. Die moskautreuen Parteikommunisten haben ihn als Genie monumentalisiert. Reformer und antistalinistische Kommunisten wiederum bogen ihn zum Kontrast gegenüber den Entartungen der Tyrannei hin. Nach dem Sowjetkollaps in den 1990er Jahren wurde der Lichtkegel auf den „sadistischen Gewaltherrscher“ Lenin gerichtet.

Verena Moritz/Hannes Leidinger: „Lenin – Die Biografie. Eine Neubewertung“. Residenz Verlag, Wien 2023, 656 Seiten, 38 Euro

Verena Moritz und Hannes Leidinger, zwei österreichische Historikerinnen und Russlandkenner, haben nun zum 100. Todestag eine neue Biografie vorgelegt. Mit noch mehr Dokumentenzugang, mit Abstand und Gelassenheit. Vor allem ist es eine intellektuelle, theoretische Biografie. Soll heißen: Man erfährt viel von Schrifttum und Gedankenwelt Lenins und wenig von Leben und Alltag. Bemerkenswert – heute werden Biografien üblicherweise in ganz anderem Sound geschrieben.

Sein Erweckungsereignis

Wladimir Iljitsch Uljanow war der Sohn eines reformorientierten Schulinspektors in der Provinz. Sein Erweckungsereignis war gleich eine persönliche Tragödie. Uljanows geliebter großer Bruder, Sascha, ist Teil einer Konspiration zur Ermordung des Zaren, fliegt noch vor dem Attentat auf, wird zum Tode verurteilt und gehenkt. Damit ist der Hass auf den Zarismus im Herzen des kleinen Bruders.

Verena Moritz/Hannes Leidinger: „Lenin – Die Biografie. Eine Neubewertung“. Residenz Verlag, Wien 2023, 656 Seiten, 38 Euro

Wladimir Iljitsch selbst fliegt beinahe vom Gymnasium und wird, ein Treppenwitz der Weltgeschichte, vom Schuldirektor Fjodor Kerenski gerettet – ausgerechnet dem Vater jenes späteren Ministerpräsidenten, den Lenins Oktoberrevolution stürzen wird. An der Universität ist Wladimir in regimekritischen aufrührerischen Zirkeln, wendet sich 1889 dem Marxismus zu, wird nach Sibirien verbannt.

Die geistigen Prägungen sind: der westliche Marxismus und die Sozialdemokratie sowie die russische Tradition des terroristischen Untergrundkampfes.

Alles, was heute noch in der Sprache der Linksradikalen oft so unerträglich ist, geht auf Lenin zurück

Angesichts des Gewaltstaates mit seiner allmächtigen Geheimpolizei entwickelt Lenin innerhalb der losen russischen Sozialdemokratie zunächst sein Parteikonzept der „Avantgardepartei“, einer verschworenen Kadertruppe im Untergrund. Zu den russischen Realitäten hat er bald nur lose Verbindung. Zwischen 1895 und 1917 war er die meiste Zeit in Verbannung, auf der Flucht oder im Exil, vornehmlich in München, Genf, Paris, Zürich und Galizien.

Revolutionär ohne Moral

Vera Sassulitsch, die Aufrührerlegende, identifizierte Lenin schon bei ersten Begegnungen als den „Netschajew-Typ“, in Analogie zu Dostojewskis Figur aus den „Dämonen“, den Revolutionär, der ohne Moral sein Ziel verfolgt, kompromisslos in seiner Methodenwahl.

Lenin schreibt „Was tun?“, sein Handbuch der Kampfpartei. Die „Partei“ spaltet sich in „Bolschewiki“ und „Menschewiki“ und ist über die ganzen Jahre hindurch primär mit inneren Schlammschlachten beschäftigt. Westliche Sozialisten wollen gelegentlich vermitteln, Victor Adler spricht vom „übergeschnappten Lenin“.

Ein Mann der Kompromisse war Lenin nicht. Alles, was heute noch in der Sprache der Linksradikalen oft so unerträglich ist, geht auf Lenin zurück: Injurien wie „Renegat“, „Opportunist“, „Versöhnlertum“, „Abweichlerei“, „Schwätzer“, Vokabeln wie „Entschlossenheit“ oder „Erbarmungslosigkeit“.

Lenin hatte einen Hang zu jovialer Leutseligkeit, noch mehr zum Querulanten und Erbsenzähler, war fleißig bis zur Nerdhaftigkeit, und die persönliche Ausstrahlung hatte nichts Imposantes. Er wirke wie ein „Gemischtwarenhändler aus der Provinz“, wunderte sich später ein britischer Diplomat.

Das welthistorische Ereignis schaffen

Dennoch geht von Lenin bis heute für nicht wenige eine Faszination aus. Während andere an Verbesserung in kleinsten Schritten tüftelten, schuf Lenin das eminente welthistorische Ereignis.

Ein Lenin ist eben kein zögerlicher Hamlet, der poten­ziell negative Folgen des eigenen Tuns bis zur Handlungsunfähigkeit abwägt, sondern einer, der sich sagt: Was soll’s, wo gehobelt wird, da fallen Späne. Lenin, das steht für den, der „den Augenblick erkannte“, wie das Slavoj Ži­žek einmal formulierte. Lenins Lösung, so Žižek, ist „fürchterlich gescheitert“, und dennoch sollte man akzeptieren, dass in ihr „ein utopischer Funke war, der es wert ist, bewahrt zu werden.“

1917 kehrt Lenin nach Russland zurück und drängt seine zaudernden Genossen zum Griff nach der Macht. Kurz vor dem Oktoberumsturz beschreibt Lenin in „Staat und Revolution“ jede Staatlichkeit als Gewaltorganisation zur Unterdrückung einer Klasse durch eine Klasse der Herrschenden, die „bürgerliche Diktatur“ im Kapitalismus entsprechend als Gewaltherrschaft einer Minderheit über die Mehrheit.

Die „Diktatur des Proletariats“, die als erster Schritt in eine Übergangsperiode zu Sozialismus und Kommunismus zu etablieren sei, als Diktatur der Mehrheit über eine Minderheit, weshalb diese schon weniger Gewalt benötigen werden. Lenin theoretisiert über das Absterben der Staatsgewalt als solcher, die ins „Museum der Altertümer“ gehöre – und etabliert einen Gewaltstaat. Auch so ein Scherz der Weltgeschichte.

Der „Rote Terror“

Vor der Revolution werden „Massenterror“ und „Exzesse“ gefordert, nach dem „Roten Oktober“ wird gegen bisherige Mitstreiter und Koalitionäre der „Rote Terror“ ausgerufen. „Erschießen“ zählt zu Lenins Lieblingsvokabeln. Was die Stärke des Lenin’schen Typus ist – kühl kalkulierender Demiurg der Weltgeschichte ohne alle Sentimentalitäten zu sein –, ist zugleich sein Abgrund.

Opfer werden als kollaterale Ergebnisse gerechtfertigt, Gräuel als unschöne Randerscheinungen des Geschichtsverlaufs. Lenin verfällt immer mehr in das „dehumanisierende Vokabular einer hemmungslosen Gewaltsprache“ (Moritz/Leidinger).

Das Lenin-Bild zehrt von einer Fantasie, die niemals beweisen, aber auch nicht widerlegt werden kann: dass, hätte er länger gelebt, alles ganz anders gekommen wäre. Das ist auch die Folge seines berühmten „Testaments“, also der Abfolge von Briefen an die Partei, die Lenin, quasi schon halbtot, diktierte. Darin heißt es: „Stalin ist zu grob … Deshalb schlage ich den Genossen vor, sich zu überlegen, wie man Stalin ablösen könnte.“

Heute kennt man Lenins Telegramme und Anordnungen: „Der gnadenlose Massenterror gegen Kulaken, Popen und Weißgardisten ist durchzuführen.“ Bei anderer Gelegenheit befahl Lenin „die Verschwörer und Schwankenden zu erschießen, ohne um Erlaubnis zu bitten“.

Er war ein Robespierre, dem das Schafott erspart blieb.

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