Ausgangsbeschränkungen wegen Corona: Ringen um jeden Millimeter
Die Kanzlerin scheut im Kampf gegen die Epidemie drastische Schritte. Zu Recht. Denn Eingriffe in Freiheitsrechte dürfen nicht unumkehrbar sein.
W er den Menschen ihre essenziellsten Freiheitsrechte nimmt, muss auch sagen, dass und wann sie sie wieder zurückbekommen.
Die Corona-Krise wird nicht zwei Wochen dauern, wie mancher politische Beschluss suggeriert, sondern es sind eher Monate, auf die wir uns einstellen müssen. Deshalb ist es richtig, dass die Bundesregierung und die Länder um jeden Millimeter an weiteren Einschränkungen der Freiheit ringen.
Zugleich liefert sich Deutschland mit Spanien und den USA einen bizarren Wettkampf in der weltweiten Rangliste der am stärksten infizierten Länder hinter China und Italien. Der Blick nach Italien macht Angst, obwohl Deutschland ein weit besseres Gesundheitssystem hat, eine starke Wirtschaft und leistungsfähige medizintechnische Firmen. Wer eine Entwicklung wie in Italien verhindern will, muss die Eskalation der Einschränkungen hinnehmen. Der Appell der Bundeskanzlerin Angela Merkel vom Mittwoch reichte noch nicht.
Dass die Kanzlerin mit drastischen Schritten zögert, verdient dabei großen Respekt. Ausgangssperre klingt in einem Land mit zwei Diktaturen in der jüngeren Vergangenheit grundfalsch. Merkel teilt mit vielen Menschen in Ostdeutschland die Erfahrungen aus einer repressiven Gesellschaft. Ausgangssperren zu vermeiden ist deshalb auch eine kritische Scheidemarke für das Vertrauen in die Politik.
Um ein hohes Niveau der Kooperation in dieser Krise zu erreichen, schrieb der israelische Historiker Yuval Harari diese Woche, „braucht man Vertrauen“. Bislang vertrauen viele Millionen in Deutschland auf die Besonnenheit ihrer politischen Führung und akzeptieren immer drastischere Einschränkungen. Zu Recht.
Die Kontaktverbote, die Bund und Länder am Sonntag vereinbart haben, sind ein extremer Eingriff in die Freiheitsrechte. Sie sperren aber nicht Millionen Menschen in ihren Wohnungen ein. Und: Man kann sie wieder zurücknehmen.
Ein Beispiel dafür, wie schmal der Grad der Eskalation ist und wie leicht man ihn überschreiten kann, ist ein Gesetzentwurf von Gesundheitsminister Jens Spahn. Er wollte mithilfe einer Handyortung auch Kontaktpersonen von Kranken identifizieren und lokalisieren. Die Gesundheitsbehörden hätten danach die Befugnis, von Telekom-Dienstleistern die Herausgabe der entsprechenden Verkehrsdaten zu verlangen. Das chinesische und israelische Modell wäre in Deutschland möglich geworden.
Kanzlerin und Ministerpräsident:innen haben das Vorhaben fürs Erste blockiert. Jens Spahn aber will nachlegen. Doch dieses Vorhaben darf auch später nicht Gesetz werden. Die Freiheit vor dieser Form der Überwachung würden die Menschen nie wieder zurückbekommen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Kampf gegen die Klimakrise
Eine Hoffnung, die nicht glitzert
Müntefering und die K-Frage bei der SPD
Pistorius statt Scholz!
Krieg in der Ukraine
Biden erlaubt Raketenangriffe mit größerer Reichweite
Zweite Woche der UN-Klimakonferenz
Habeck wirbt für den weltweiten Ausbau des Emissionshandels
Rentner beleidigt Habeck
Beleidigung hat Grenzen
Haldenwang über Wechsel in die Politik
„Ich habe mir nichts vorzuwerfen“