Friedrich Merz’ Notstandsfantasien: Verantwortungslos und kontraproduktiv
Friedrich Merz spricht wegen des Solingen-Anschlags von Kontrollverlust und „nationaler Notlage“. Das ist völlig überzogen und hilft nur der extremen Rechten.
D er mutmaßlich islamistische Anschlag von Solingen ist ohne Frage dramatisch. Neben dem Leid der Opfer und dem Unglück der Angehörigen hat die Tat viele auch fernab des Tatorts erschüttert und verunsichert. Das wiegt schwer. Und der Anschlag wirft viele Fragen auf: nach den Kompetenzen der Sicherheitsbehörden etwa oder dem Kurs in der Geflüchtetenpolitik. Ein Grund, den Notstand auszurufen, ist er aber ganz sicher nicht.
Genau das behauptet allerdings CDU-Chef Friedrich Merz, wenn er, wie am Dienstag, von einer „nationalen Notlage“ spricht, in der Deutschland sich befinde und die sich nur durch eine Wende in der Geflüchtetenpolitik beenden lasse. In eine ähnliche Richtung geht auch Merz’ Satz: „Dem Bundeskanzler entgleitet mittlerweile das eigene Land.“
Man sollte misstrauisch werden, wenn Politiker*innen in apokalyptischem Ton sprechen und die ganz große Staatskrise heraufbeschwören. Denn wenn es um alles geht – und nicht anderes suggeriert Merz ja, wenn er sagt, der Kanzler verliere die Kontrolle über „das Land“ –, dann fallen die Hemmungen und Schranken.
Im Notstand wird möglich, was sonst aus guten Gründen nicht möglich ist. Merz buchstabiert das sehr explizit aus: „Es gibt kein Tabu“, sagte er, angesprochen auf mögliche Grundgesetzänderungen. EU-Recht möchte er aushebeln, um einen „faktischen Aufnahmestopp“ zu erreichen.
Und zu Gesprächen mit den Regimen in Afghanistan und Syrien über mögliche Abschiebungen sagte Merz: „Man muss dann auch mit dem Teufel sprechen.“ Die quasireligiöse Metaphorik macht den vermeintlichen Ernst der Lage klar: Um aus Merz’ „nationaler Notlage“ herauszukommen, ist jedes Mittel recht, selbst das Gespräch mit dem Teufel.
Keine 100%ige Sicherheit im freien Land
Diese Rhetorik geht aber schlicht an der Realität vorbei. Ohne das Leid der Opfer und Angehörigen in Solingen schmälern zu wollen oder die Verunsicherung der vielen anderen in diesem Land kleinzureden: In einem freiheitlichen Rechtsstaat gibt es keine absolute Sicherheit. Das politische und gesellschaftliche System Deutschlands ist stabil – dem Anschlag zum Trotz.
Vor allem aber ist es unverantwortlich und kontraproduktiv, so zu sprechen. Es bestärkt die Rechtsextremen, die Deutschland durch die Aufnahme von Geflüchteten schon länger in einer existenziellen Krise wähnen. Nicht ohne Grund sind sie es, die seit jeher in Umsturzfantasien schwelgen und eine Obsession mit dem Ausnahmezustand pflegen, in dem Demokratie, Grundrechte und Moral kurzerhand beiseite gewischt werden.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Nan Goldin in Neuer Nationalgalerie
Claudia Roth entsetzt über Proteste
Politikwissenschaftlerin über Ukraine
„Land gegen Frieden funktioniert nicht“
taz-Recherche zu Gewalt gegen Frauen
Weil sie weiblich sind
Verein „Hand in Hand für unser Land“
Wenig Menschen und Traktoren bei Rechtspopulisten-Demo
Scholz und Pistorius
Journalismus oder Pferdewette?
Internationaler Strafgerichtshof
Ein Haftbefehl und seine Folgen