AfD-Bürgermeister in Pirna: Weihnachtsgeschenk für die Rechten
Der AfD-Erfolg in Pirna ist von den konservativen Kräften selbst verschuldet. Demokrat*innen müssen ihre Kräfte gegen die extremen Rechten bündeln.
E s war ein Versagen der demokratischen Kräfte mit Ansage. Die AfD hat von der CDU und den Freien Wählern ein vorgezogenes Weihnachtsgeschenk am dritten Advent bekommen. Weil die konservativen Kräfte es versäumten, im zweiten Wahlgang die Kräfte zu bündeln, und sich gegenseitig die Stimmenanteile wegnahmen, hat Tim Lochner für die AfD die erste Oberbürgermeisterwahl überhaupt gewonnen.
Die vor gut einer Woche vom Verfassungsschutz mit reichlich Verspätung als gesichert rechtsextrem eingestufte AfD Sachsen wird das vorweihnachtliche Geschenk gerne annehmen: Darin befindet sich die Rathausleitung für einen Tischlermeister, der vor Ort verschwörungsideologische Corona-Proteste organisierte und auf Facebook mit gewaltbereiten Neonazis von den Freien Sachsen befreundet ist. Lochner ist jetzt sieben Jahre lang Chef der Stadtverwaltung mit mehr als 250 Mitarbeiter*innen und wird unter anderem die Stadtratssitzungen der 40.000-Einwohner-Stadt leiten.
Im zweiten Wahlgang reichte Lochner gemäß sächsischem Kommunalgesetz eine einfache Mehrheit – die er mit 38,5 Prozent locker erreichte. Den ersten Wahlgang hatte er bereits mit 10 Prozentpunkten Vorsprung und 32,9 Prozent gewonnen. Anstatt sich gegen die rechtsextreme Partei zu verbünden und sich gemeinsam auf einen Kandidaten oder eine Kandidatin zu einigen, sind für die Freien Wähler Ralf Thiele und für die CDU Kathrin Dollinger-Knuth beide trotzig im zweiten Wahlgang erneut angetreten.
Es kam, was kommen musste: Sie nahmen sich gegenseitig die Stimmen weg. Freie Wähler kamen auf 30 Prozent, die CDU auf 31,3 Prozent. Keiner wollte zurückstecken, um die AfD zu verhindern. Und nun brennt neben der dritten Kerze auf dem Adventskranz auch die Demokratie in Pirna. Frohe Weihnachten.
Den meisten scheint der Rechtsruck egal
Nach dem ersten Wahlgang demonstrierten die Neonazis von den Freien Sachsen zusammen mit AfDlern vor dem Kreistag und der dort befindlichen NS-Gedenkstätte Pirna-Sonnenstein. Im Wahlkampf bekam Lochner Unterstützung von den völkisch-nationalistischen Parteinetzwerken.
In dem Ort, wo die Nazis über 14.000 psychisch kranke, behinderte Menschen und KZ-Häftlinge in einer Gaskammer ermordeten, hatte EU-Spitzenkandidat Maximilian Krah auf dem Marktplatz Wahlkampf mit der Legende von der „Umvolkung“ und Geschichtsrevisionismus gemacht – man wolle den Deutschen nur einreden, dass ihre Vorfahren Verbrecher gewesen seinen. Auch die Neonazis von den Freien Sachsen riefen zur Wahl Lochners auf.
6.541 Pirnaer folgten ihrer Empfehlung und wählten den AfD-Kandidaten zum Oberbürgermeister. Die Stimmen von CDU (5.327) und Freien Wählern (5.105) zusammen hätten recht deutlich gereicht, um eine komfortable Mehrheit zu holen, wenn nur einer von beiden angetreten wäre. Nicht weniger erschreckend ist, wie vielen der Rechtsruck und die rechtsextreme Hegemonie in ihrer Heimatstadt herzlich egal ist: Rund 15.000 Wahlberechtigte gingen gar nicht erst zur Wahl.
Der republikweit erste AfD-Oberbürgermeister ist ein von konservativen Kräften selbst verschuldeter Ernstfall. Angesichts der derzeitigen Zustimmungswerte der AfD ist das Ergebnis von Lochner nicht einmal ein besonders guter Wahlsieg – bereits 2017 hatte Lochner für die AfD ähnlich viele Stimmen geholt. Das zeigt, wie normalisiert die extrem rechte AfD lokal bereits ist – sie kann davon profitieren, dass rechtsextreme Einstellungen hier jahrzehntelang verharmlost wurden und fest etabliert sind –, und die gibt es nicht nur in Pirna.
Ein Schritt in die Normalisierung
Gerade deswegen müssen Kommunen und Lokalpolitiker*innen in Sachsen aus der Wahl lernen. Das Wahlergebnis hätte genauso anderswo passieren können. Die AfD ist in Sachsen flächendeckend so stark wie in Pirna, teilweise auch stärker. Wenn sich hier Demokrat*innen im zweiten Wahlgang die Stimmen streitig machen, ist die AfD der lachende Dritte. Wer sich Demokrat nennt, muss sich darüber Gedanken machen, wie man die Kräfte für den kleinsten gemeinsamen Nenner bündeln kann – und der muss lauten, die AfD zu verhindern.
Denn Pirna ist nach Sonneberg ein weiterer Schritt in Richtung Normalisierung und letztlich Macht einer extrem rechten Partei, die die Demokratie aushebeln will und Rassismus gesellschaftlich normalisiert. Die AfD hoffte schon länger auf den Gewinn einer Oberbürgermeisterwahl als weiteres Sprungbrett für die Landtagswahlen 2024 in Sachsen, Thüringen und Brandenburg.
Sie fiel dabei bereits mehrfach auf die Nase: Im thüringischen Nordhausen entfaltete ein zivilgesellschaftliches Bündnis so viel Kraft, dass es der AfD den sicher geglaubten Stichwahlsieg regelrecht entriss, auch in der AfD-Hochburg Bitterfeld-Wolfen, Sachsen-Anhalt, hatte ein Bündnis für den Gegenkandidaten erfolgreich mobilisiert.
AfD-Erfolg darf kein normaler Zustand werden
Pirna hat jetzt gezeigt, wie man es auf keinen Fall machen sollte. Es gab zwar einen späten Wahlaufruf eines zivilgesellschaftlichen Bündnisses – aber da war bereits klar, dass CDU und Freie Wähler sich gegenseitig kannibalisieren.
Bittere Zeiten brechen nun in Pirna vor allem für diejenigen an, die nicht ins Weltbild der Rassist*innen von der AfD passen und die sich dem Rechtsruck entgegenstellen – umso wichtiger ist ihre Unterstützung. Denn es steht viel auf dem Spiel. Und das übrigens nicht nur im Osten.
Denn dass die AfD nicht nur ein Ostproblem ist, sollte jedem spätestens mit den Wahlerfolgen der AfD in Bayern und Hessen und den rassistischen Diskursen zu Flucht und Migration klar geworden sein. Mit jedem Wahlerfolg normalisiert sich die AfD weiter und bekommt mehr Mittel in die Hand, um Schritt für Schritt die offene Gesellschaft abzuschaffen. Das mit allen erforderlichen Mitteln aufzuhalten, sollte Grundkonsens sein.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Vorgezogene Bundestagswahl
Ist Scholz noch der richtige Kandidat?
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
USA
Effizienter sparen mit Elon Musk
Ein-Euro-Jobs als Druckmittel
Die Zwangsarbeit kehrt zurück
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“
Aus dem Leben eines Flaschensammlers
„Sie nehmen mich wahr als Müll“