Erhöhung des Mindestlohns um 41 Cent: Wo bleibt die Aufregung?

Die Mindestlohnerhöhung ist so minimal, dass sie einen Reallohnverlust bedeutet. Wer das berechnet hat und was Gewerkschaften sagen.

Ein leerer Einkaufswagen am Straßenrand

Lebensmittel werden immer teurer. 41 Cent mehr die Stunde helfen da kaum weiter Foto: Michael Gstettenbauer/imago

1 Der Mindestlohn steigt 2024 auf 12,41 Euro, 2025 dann auf 12,82 Euro. Warum?

Das hat die Mindestlohnkommission so festgelegt, die aus Unternehmerverbänden, Gewerkschaftsvertretern und einem neutralen Dritten besteht. Sie argumentieren, dass die Wirtschaft nach Corona und Energiepreisschock nur wenig wächst. Deshalb fällt die Erhöhung gering aus.

Berechnet wird der Mindestlohn nach einer Formel. Seine Höhe „orientiert sich nachlaufend an der Tarifentwicklung“. Das heißt: Wenn die Löhne im letzten Jahr um 10 Prozent gestiegen sind, steigt der Mindestlohn demnächst auch um 10 Prozent. Das soll dafür sorgen, dass Mindestlohn und Löhne sich in die gleiche Richtung bewegen. Allerdings steigt der Mindestlohn somit immer später als die Tariflöhne. Weil die Löhne in den letzten beiden Jahren nur um 3 Prozent gestiegen sind, wird der Mindestlohn zweimal nur um 41 Cent angehoben – 3 Prozent pro Jahr.

Aber wenn es nur dieses mechanische Verfahren gäbe, dann könnte man die Mindestlohnkommission auflösen. Da würde ein Beamter im Arbeitsministerium mit einem Taschenrechner reichen. Es ist komplexer. Die Kommission soll beim Taxieren des Mindestlohns mehrere Motive beachten, die sich widersprechen können. Er soll nämlich ein „angemessener Mindestschutz“ für Beschäftige sein – also hoch genug. Andererseits soll er keine Jobs gefährden – also nicht zu hoch sein. Der Mindestlohn ist daher keine Rechenaufgabe, sondern das Ergebnis politischer Kämpfe.

2 Warum gibt es einen Mindestlohn?

Als Gerhard Schröder 2003 die Hartz-Gesetze einführte, hätte es fast einen Mindestlohn gegeben. Die SPD wollte, die Gewerkschaften wollten nicht – Lohnpolitik sei ihre Sache. Sie fürchteten, entmachtet zu werden. Das war eine katastrophale Fehleinschätzung. Hartz IV ohne Lohnregulierung führte zu einem extrem großen Niedriglohnsektor und einer dramatischen Entwertung von Arbeit. Das sei eben Marktwirtschaft, befand die FDP. Doch wenn viele (vor allem Frauen, vor allem im Osten) weniger als 4 oder 5 Euro in der Stunde verdienen, während in der Finanzkrise Steuerzahler Banken mit Hunderten Milliarden stützen müssen, ist Marktwirtschaft vielleicht doch keine so gute Idee.

Je destruktiver die neoliberale Marktgläubigkeit wirkte, umso attraktiver wurde der Mindestlohn. 2015 führte die Große Koalition endlich und sehr spät den allgemeinen Mindestlohn von 8,50 Euro ein – auf Drängen von Linkspartei, SPD und DGB und gegen den Widerstand von Union, FDP und Unternehmern.

3 Wieso legt eine Kommission die Höhe fest – und nicht der Arbeitsminister?

Für die weiteren Erhöhungen ist seit 2015, nach dem Vorbild Großbritanniens, die unabhängige Kommission zuständig. Die Idee: Tarifpolitik ist Sache von Unternehmern und Gewerkschaften. Deshalb sollen sie staatsfern mit einem neutralen Vermittler den Mindestlohn anpassen. Denn dessen Höhe beeinflusst ja auch die Löhne oberhalb des Mindestniveaus. Konservative und Liberale argwöhnen zudem, dass (linke) Politiker aus wahltaktischen Gründen den Mindestlohn zu oft erhöhen würden. Außerdem passt so eine Kommission prima zum beteiligungsorientierten, sozialpartnerschaftlichen deutschen Modell.

4 War der Mindestlohn seit 2015 ein Erfolg?

Der Mindestlohn hatte höchst erfreuliche Auswirkungen. Die von neoliberalen Ökonomen an die Wand gemalten Schreckensszenarien – massive Jobverluste und Firmenpleiten – blieben aus. Dafür stieg die Kaufkraft – das half der schwachen Binnennachfrage. Die mit der „Agenda 2010“ drastisch gestiegene Ungleichheit der Einkommen ging wieder etwas zurück. Dabei war die Kommission mehr als vorsichtig, sie hob den Mindestlohn von 2015 bis 2021 gerade mal um 1 Euro an – auf 9,50 Euro. So recht verständlich war diese Zurückhaltung nicht. Olaf Scholz hatte 2017 daher die richtige Idee (das Copyright hat die Linkspartei): Wenn die Kommission es nicht hinbekommt, muss – Staatsferne hin, Tarifautonomie her – die Regierung eben 12 Euro Mindestlohn durchsetzen. Der gilt seit dem 1. Oktober 2022. Das war ein politischer Erfolg der SPD, die „Respekt“ auch für einfache Arbeit einforderte.

5 Warum sind angemessene Löhne wichtig?

Der US-Philosoph Michael Sandel hat die politische Notwendigkeit angemessener Löhne so beschrieben: „Im Vergleich zu den riesigen Finanzgewinnen scheint ganz normale Arbeit wenig wert. Und die Menschen, die sie verrichten, werden gering geschätzt. Das muss sich ändern.“ Beim Mindestlohn geht es also um die ganz großen politischen Themen: Gerechtigkeit, Gemeinsinn und den gesellschaftlichen Zusammenhalt, ohne den die Demokratie zerfällt. Wenn Menschen in einem reichen Land Vollzeit arbeiten und davon nicht anständig leben können, verdampft ihr Vertrauen in die Gesellschaft. Zu viel Ungleichheit ruiniert die Demokratie. Und macht nachweisbar empfänglich für rechtspopulistische Botschaften.

6 Interessieren sich Medien für den Mindestlohn?

Medial ist das Thema unterbelichtet. Kein Aufreger, nichts für Seite 1, höchstens Seite 10! Schwierige Materie, viele Zahlen. Und es geht um die Unterschicht, also Leute, die unterdurchschnittlich oft wählen gehen und nur bedingt teure Qualitätsmedien konsumieren. Alles unsexy. Dabei könnte man diese 41 Cent Erhöhung durchaus ein kleines bisschen wichtiger finden, als, sagen wir mal, die Krönung von Prinz Charles. Der Mindestlohn betrifft schließlich gut sechs Millionen Menschen. Plus deren Familien.

7 Warum sind die Gewerkschaften jetzt empört? Sind 41 Cent wirklich zu wenig?

41 Cent wären ein akzeptabler Kompromiss – wenn Putin die Ukraine nicht überfallen hätte, die Gaspreise nicht explodiert wären und Lebensmittel nicht drastisch teurer geworden wären. Angesichts der Inflation von knapp 7 Prozent 2022 bedeuten die 41 Cent einen Reallohnverlust für Ärmere. Die Gewerkschaften tragen den Entschluss der Kommission zum ersten Mal nicht mit. Und haben dafür gute Gründe. Marcel Fratzscher, Chef des DIW, weist zu Recht darauf hin, dass Ärmere von der Inflation heftiger betroffen sind als die Mittelschicht – denn sie müssen einen größeren Teil ihres Geldes für Lebensmittel ausgeben. Die sind aber um fast 20 Prozent teurer geworden. Die Kommission hätte also – ihren eigenen Kriterien folgend – auch 13 Euro aufwärts festlegen können, eben um einen „angemessenen Mindestschutz“ für Beschäftigte zu schaffen. Hat sie aber nicht. Weil die Unternehmervertreter blockierten.

8 Wie geht es jetzt weiter?

Die Gewerkschaften ­hoffen auf die EU-Richtlinie, die Deutschland spätestens im Herbst 2024 umsetzen muss. Dann muss der Mindestlohn 60 Prozent dessen betragen, was ein Durchschnitts­beschäftigter bekommt. Technisch ausgedrückt: 60 Prozent des Medianlohns. Das wären laut Gewerkschaften derzeit 13,50 Euro pro Stunde. Unternehmernahe Ökonomen und Medien deuten die EU-Richtlinie aber nicht als exakte Vorgabe, sondern als lose Orientierung, von der man auch abweichen kann. Und bei 60 Prozent vom Medianlohn kommen manche Rechenkünstler nicht auf 13,50 Euro, sondern auf 12,40.

9 Und nun?

Die Fixierung auf die vergangene Lohnentwicklung kann zu krassen Unwuchten führen. Die Kommissionskriterien müssten daher so verändert werden, dass der Mindestlohn nicht mehr zu niedrig angesetzt werden kann. Dafür müssten neben dem Medianlohn auch die Preisentwicklung oder aktuelle Tarifabschlüsse einkalkuliert werden. Aber ist das realistisch? Die Unternehmerverbände verfügen über eine schlagkräftige Lobby. Der Reform-Elan der SPD scheint mit 12 Euro Mindestlohn und Bürgergeld schon wieder gänzlich erschöpft zu sein. Die Linkspartei möchte in ihrer Selbstbeschäftigung nicht gestört werden.

Also alles verloren? Nicht ganz. Es gibt einen Faktor, der allen nutzt, die im Supermarkt und auf Baustellen, in Callcentern, Blumenläden und Schlachthöfen arbeiten: der Arbeitskräftemangel. Weil nicht nur gut ausgebildete Fachkräfte rar werden, sind Dumpinglöhne schwerer durchsetzbar. Und vielleicht könnten neue Bündnisse entstehen.

Karl-Josef Laumann, Chef des Arbeitnehmerflügels der CDU, hat die 41 Cent in Grund und Boden kritisiert. Die Erhöhung sei zu gering und weltfremd, die Kommission mache sich damit überflüssig. Der ­Mindestlohn bleibt ein politisches Kampffeld. Medial randständig, aber für Millionen von zentraler Bedeutung.

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