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Shirin Ebadi über die Proteste im Iran„Sie wollen das Regime stürzen“

Ziel der Protestbewegung im Iran ist, das Regime der Mullahs zu stürzen. Das sagt die im Exil lebende iranische Nobelpreisträgerin Shirin Ebadi.

1980 kämpften iranische Frauen gegen die Verordnung, als Staatsbedienstete Kopftuch tragen zu müssen Foto: EPU Files/afp
Gilda Sahebi
Interview von Gilda Sahebi und Mina Khani

taz am wochenende: Frau Ebadi, die Proteste im Iran dauern nun seit sechs Wochen an. Was wissen wir über die aktuelle Situation?

Shirin Ebadi: Im Iran werden die Menschen von Tag zu Tag immer wütender. Sie wollen einen Regimewechsel. Die zentrale Parole überall im Land lautet: „Zan, Zendegi, Azadi.“ Frau, Leben, Freiheit. Die Parole zeigt deutlich, was für ein System die Menschen im Iran haben wollen: Demokratie und Säkularismus, denn nur in einem solchen System können Frauen die gleichen Rechte haben. Nur in solch einem politischen System kann die genderbasierte Diskriminierung beendet werden. Und nur in einem demokratischen System wird der Körper, das Leben an sich und die Würde des Menschen respektiert. Nur in einem säkularen und demokratischen System erhält der Begriff Freiheit eine Bedeutung. Die Menschen im Iran sind müde von der theokratischen Diktatur.

In Deutschland hört man in Politik und Medien immer wieder Stimmen, die sagen, dass nach einem Sturz des Regimes die Situation noch instabiler und schlechter werden könnte. Was sagen Sie dazu?

Das Schicksal und die Zukunft des Irans wird von der iranischen Bevölkerung bestimmt, nicht von der Politik im Westen. Die Bevölkerung im Iran ist gebildet und aufrecht genug, dass sie in der Lage sein werden, ihre eigenen An­füh­re­r*in­nen zu wählen. Wir brauchen auch keinen designierten Anführer, den die Welt schon kennt. Denn solche Führungsfiguren entwickeln sich ihrerseits oft zu Diktatoren. So wie Ruhollah Chomeini, der sich nach der Revolution als Diktator entpuppte.

Bild: picture alliance/dpa
Im Interview: Shirin Ebadi

Die Richterin wird von der iranischen Zivilgesellschaft, im Iran und außerhalb, hoch geachtet. Die Friedensnobelpreisträgerin und Juristin war die erste Richterin des Iran – bis 1979 die Islamische Revolution alles änderte. Das Recht, Richterin zu sein, wurde ihr entzogen, weil sie eine Frau ist.

Als Anwältin vertrat sie Angehörige von Todesopfern des iranischen Regimes.

Der Druck auf Ebadi, die sich für Menschen- und Frauenrechte einsetzte, wurde im Laufe der Zeit immer größer. Sie musste das Land verlassen. Seit 2009 lebt sie im Exil.

Wir haben jetzt schon einige An­füh­re­r*in­nen im Iran, die in unterschiedlichen Netzwerken aktiv sind. Man sieht, wie die Menschen gerade kämpfen und in was für einem Ausmaß sie es bisher schon geschafft haben, Widerstand zu leisten. Wir brauchen eine freie Wahl unter Aufsicht der Vereinten Nationen. Dann können freie Kan­di­da­t*in­nen aufgestellt werden und die Menschen können ihre Wahl treffen. Dann wird auch Europa verstehen, wer die echten Ver­tre­te­r*in­nen der iranischen Bevölkerung sind.

Die EU und Deutschland verhandeln seit vielen Jahren mit der Islamischen Republik und ihren offiziellen Vertretern, etwa über das Atomabkommen. Das iranische Regime war immer der zentrale Ansprechpartner westlicher Staaten. Was denken Sie darüber?

Die Ira­ne­r*in­nen erwarten jetzt von den westlichen Staaten, dass sie aufhören, mit der Islamischen Republik zu verhandeln. Sie erwarten, dass die Regierungen im Westen dieses Regime nicht auch noch stabilisieren. Sie sollten sich den Menschen im Iran zuwenden und sie fragen, was sie denn wollen. In der Vergangenheit hatten die europäischen Regierungen inklusive der deutschen Regierung ein gutes Verhältnis mit dem iranischen Regime. Sie haben die systematischen Menschenrechtsverletzungen und die Ermordung der Menschen durch diesen Staat ignoriert. Jetzt müssen sie darauf hören, was die Ira­ne­r*in­nen sagen. Und die Menschen im Iran sagen: Hören Sie auf, die Mörder im Iran zu unterstützen. Stellen Sie sich auf die richtige Seite der Geschichte.

Warum haben sich westliche Regierungen so lange so verhalten?

Wegen wirtschaftlicher Interessen, die diese Regierungen im Iran haben. Die Realität ist, dass die Menschenrechte am Verhandlungstisch vergessen wurden. Der Geruch von Öl hat es nicht erlaubt, genau hinzuschauen.

Sie erzählen in Ihrem Buch „Mein Iran“, wie sich nach der Islamischen Revolution von einem Tag auf den anderen für Frauen alles verändert hat. Wie erinnern Sie sich an diese Zeit?

Als es 1979 zur Revolution kam, war ich Richterin. Das neue Regime stufte uns herab zu einfachen Justizangestellten. Sie behaupteten, dass Frauen keine Richterinnen sein könnten. Wir wurden darüber hinaus vollständig entrechtet. Ich möchte Ihnen ein paar Beispiele dieser diskriminierenden und frauenverachtenden Gesetze nennen, die damals beschlossen wurden: Das Gesetz erlaubt Männern im Iran, ganz offiziell vier Ehefrauen zu haben. Während der Mann sich jederzeit scheiden lassen kann, hat die Frau dieses Recht nicht. Der Mann muss es der Frau auch erlauben, wenn sie reisen möchte.

Das Leben einer Frau ist außerdem nur die Hälfte des Lebens eines Mannes wert. Das heißt, wenn mein Bruder und ich bei einem Unfall zu Schaden kommen würden, bekäme mein Bruder doppelt so viel an Entschädigung wie ich. Vor Gericht ist die Aussage eines Mannes so viel wert wie die Aussage von zwei Frauen. Das sind Gesetze, die nach der Revolution beschlossen und durchgesetzt wurden. Aber Frauen haben sich von Anfang an gegen diese Vorschriften gewehrt, wo immer sie konnten, sei es auf der Straße, in der Kunst oder durch Schriften. Sie kämpfen seit Jahren an der vordersten Front gegen diesen Staat.

Wie fühlt man sich als Frau in so einer Situation, in der einem alle Rechte genommen werden?

Wütend und verbittert. Nicht nur ich habe mich so gefühlt. So ging es auch den anderen Frauen im Iran.

Überall im Land wird heute protestiert. Glauben Sie, dass diese Proteste anders sind als etwa die Proteste im Jahr 2019?

Ja. Der Unterschied liegt darin, dass die Forderungen während der letzten Proteste eher begrenzt waren, etwa im Jahr 2009. Damals bezogen sie sich in erster Linie auf die Wahlergebnisse: Hört auf mit dem Putsch! Bei den landesweiten Protesten im November 2019 ging es um die Wirtschaft: die Erhöhung der Preise durch das Regime. Den Anstoß dazu gaben die steigenden Benzinpreise. Jetzt sind die Proteste viel politischer. Heute wollen die Menschen den Staat stürzen.

Begonnen haben die Proteste damit, dass Frauen ihre Kopftücher abnehmen. Warum ist es bedeutsam, dass diese Proteste feministisch sind?

Weil es die Frauen sind, die am stärksten von der Diskriminierung in diesem Staat betroffen sind. Auch schon bei früheren Protesten waren Frauen dabei – aber sie wurden von der Mehrheitsgesellschaft, von politischen Gruppen und von den Männern nicht unterstützt. Die politischen Organisationen haben etwa während des Iran-Irak-Krieges in den 80er Jahren zum Teil gesagt: Wartet, bis der Krieg mit dem Irak vorbei ist, danach kümmern wir uns um eure Rechte.

Das war fatal, weil später auch andere soziale und politische Gruppen entrechtet und verfolgt wurden. Jetzt haben viele Menschen, darunter viele Männer, verstanden, dass das ein Fehler war. Jetzt sprechen sie anders. Um es klar zu sagen: Wir werden nur durch das Ermächtigen der Frauen zu einer Demokratie im Iran gelangen.

Welche Rolle spielen Menschenrechtsanwältinnen in den gegenwärtigen Diskussionen um Gleichberechtigung und Gerechtigkeit?

Ich schätze die Rolle der Anwältinnen und auch der Anwälte als sehr hoch ein. Allgemein tragen Anwält*innen, egal welchen Geschlechts, enorm viel dazu bei, dass der Diskurs um Gerechtigkeit in der iranischen Gesellschaft angekommen ist. Für ihre Arbeit werden sie inhaftiert und müssen einen hohen Preis bezahlen. Ich schätze ihre Arbeit sehr.

Müssen die Ira­ne­r*in­nen jetzt eine Art Opposition bilden oder wird der Protest wie bisher organisch weitergehen?

Als Erstes muss das Regime gestürzt werden. Die iranische Bevölkerung ist am Ende ihrer Geduld mit diesem Staat. Alle Versuche, das System zu reformieren, sind gescheitert. Die Menschen sind fertig mit dem System. Wie es weitergeht, hängt vom Sturz des Regimes ab. Es gibt Stimmen, die sagen: Diese Proteste haben keine Anführer*innen. Das stimmt nicht.

Es gibt viele An­füh­re­r*in­nen in der Bevölkerung. Und sie haben auch klare Vorstellungen. Schauen Sie sich doch an, wie lange diese ­Proteste anhalten. Das wäre ohne An­füh­re­r*in­nen nicht möglich. Was wir wirklich brauchen, ist eine Chance, frei unter Aufsicht der Vereinten Nationen eine Wahl durchzuführen. Wir müssen uns jetzt vereint auf die Proteste und auf den Sturz des Systems konzentrieren.

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6 Kommentare

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  • Bitte helft mit snowflake

    Wer hier in Deutschland die Erweiterung „Snowflake“ in seinem Browser installiert (derzeit Chrome und Firefox), eröffnet quasi eine virtuelle Startrampe für Menschen im Iran. Diese Startrampe befindet sich – unsichtbar – auf dem eigenen Rechner.



    Darüber können dann Menschen im Iran (oder einem anderen Land mit blockierten Netzangeboten) ins Tor-Netzwerk einsteigen und völlig anonym im Netz surfen. Auch wenn das etwas kompliziert klingt: Der Tor-Browser erledigt die ganze Arbeit. Die Menschen im Iran müssen auch nicht wissen, wer im Westen „Snowflake“ installiert hat. Ein „Broker“ findet heraus, wo Snowflake installiert und aktuell aktiv ist – und stellt automatisch die Verbindung her. In Sekundenbruchteilen.

    Der Vorteil dieser Vorgehensweise: Da jeder Rechner, auf dem die Erweiterung „Snowflake“ installiert ist, nun plötzlich zum Tor-Netzwerk gehört, gibt es derart viele IP-Adressen als Einstiegsrampe – auch von Privatleuten –, dass eine Blockade all dieser „Gateways“ für die Mächtigen in Iran, Russland und Co. praktisch unmöglich ist.

  • Inzwischen haben die Revolutionsgarden eine Art Ultimatum rausgegeben. Ab jetzt kann es sehr, sehr blutig werden.

  • Der größte Witz ist ja die ganzen Marjas (höchste religiöse Instanz im Schia Islam) die die islamische Republik als unislamisch ablehnen. Dazu kommen auch Proteste in tief religiösen Orten wie Qoms etc. Das Regime repräsentiert schlichtweg nur noch die Gewinner die an Schaltstellen sitzen und sich mit Korruption bereichern können.

  • "Im Iran werden die Menschen von Tag zu Tag immer wütender. Sie wollen einen Regimewechsel."

    Das wird sich m.M. erst zeigen, wenn es noch blutiger wird, wenn die Bevölkerung wirklich geschlossen gegen die Unterdrücker ran muss, wenn es um den entscheidenden Kampf geht. Nachweislich wird dieses Regime dann implodieren.

    Aber: Dieses Regime wird bitter kämpfen, es könnte ähnlich wie in Syrien zu langen Konflikten kommen. Dazu kommt noch, dass die Opposition eher ein Ausdruck der momentanen Unzufriedenheit ist. Beim Shah waren es Bazar, Handwerker, Klerus und niedrige Angestellte, die nicht mehr wollten, gerade Klerus, Bazar und Handwerker hatten über die Moscheen in den Bazaren ihr Netzwerk, das der Staat nicht auf dem Schirm hatte und die 'Revolutionäre' von damals konnten dann von den Geistlichen schnell eingefangen werden. Die UdSSR war mit der Tudeh-Partei mehr am Regimesturz als an der eigenen Machtübernahme interessiert. Das wird heute auch vergessen, die Tudeh-Partei hatte aus Moskau die Anweisung mit Khomeinie zu laufen, koste es, was es wolle. Damit sollte verhindert werden, dass der Shah über den Westen eine Konterrevolution macht und der Iran wieder in westliche Hände rutscht.

    Heute sind die Oppositionsgruppen nicht unbedingt an politischen Parteien orientiert und wenigstens die Mujahedin-e Khalq haben auch totalitaristische Elemente, sie haben eine eigene Minischreckensherrschaft in ihren Lagern in Irak gehabt. Solche Gruppen könnten schnell Ministerien erhalten oder Regierungsanteile bekommen.

    Natürlich kann die Straße kontern, aber sie muss sich irgendwie organisieren und sie muss eine Agenda haben, die funktioniert und zwar mindestens ein paar Jahre. Demokratie, Freiheit und Rechtsstaat sind schön und gut, aber es wird zunächst um den Machtwechsel gehen und wie der gemacht wird. Chancen haben sie, weil sie so mutig und breit aufgestellt sind. Aber können sie das schaffen?

  • Danke für den innenpolitischen Einblick, gerade auch was die Rechte der Frauen betrifft; manche dieser entwürdigenden Gesetze war für mich neu. Und dennoch halte ich dieses Interview und die Aussagen von Frau Ebadi als Mutmacher. Wünschen wir, dass Frau Ebadis Hoffnung, und dadurch natürlich die aller iranischen Frauen, in Erfüllung geht.

    • @Klaus Waldhans:

      Ich schließe mich an.

      Aus berufenem Munde werden dem Westen die Leviten gelesen.

      Danke für diese klaren Worte. Ich hoffe, sie kommen dort an, wo sie gehört werden sollten.