Wissenschaftsjournalismus unter Druck: Nette Erklärbären war einmal
Die Pandemie hat auch in Medienhäusern Spuren hinterlassen. Besonders augenfällig: der Graben zwischen Wissensressort und Rest der Redaktion.
Wenn drei RedakteurInnen einer Zeitung auf einen Schlag kündigen, ist das auffällig. Wenn nach mehr als zwei Jahren Corona-Pandemie drei WissenschaftsredakteurInnen mit Kernkompetenzen aus den Bereichen Biologie, Biochemie und Medizin das Handtuch werfen, und zwar gleichzeitig und dann auch noch beim Springer-Blatt Welt – dann ist das ein Thema. Der Medieninsider, ein Magazin für Medienschaffende und Journalisten, hat es aufgegriffen und es zum Skandal stilisiert. Die Berichterstattung der Welt zur Pandemie soll demnach unerträglich geworden sein für die drei JournalistInnen.
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Dass WissenschaftsredakteurInnen im Konflikt mit der Corona-Berichterstattung ihrer Häuser stehen, ist allerdings kein Einzelfall und ganz sicher kein Sonderproblem der Welt. Auch in anderen Häusern haben WissenschaftsjournalistInnen die Redaktionen verlassen, weil der Evidenz, also der Faktenlage, gleichberechtigt Meinungen gegenübergestellt wurden. Weil die Wirkung nachweislich wirksamer Schulschließungen angezweifelt wurde, weil Pseudoexperten interviewt und dadurch erst aufgebaut, weil Impfzweifel ernst genommen und dadurch geschürt wurden.
Christian Drosten hat es zuletzt auf den Punkt gebracht, als er in einem Podcast der FAZ von „künstlichen Kontroversen“ sprach. Der Forscher ist selbst immer wieder in den Fokus solcher künstlichen Kontroversen geraten. Die stilisierte Expertenkontroverse mit dem Bonner Aids-Forscher Hendrik Streeck war nur eine erste – eine, die auch viele Qualitätsmedien mitmachten. Ein Teil der Medien aber hat sich regelrecht an dem Berliner Virologen abgearbeitet. Das ist nicht nur beschämend, sondern verdient eine nähere Betrachtung – und zwar deshalb, weil der „Fall Drosten“ in einem engen Zusammenhang zum Fall „Wissenschaftsjournalismus“ steht.
Graben zwischen Evidenz und Meinung
Die Konflikte, die medial zwischen echten und vermeintlichen ExpertInnen, zwischen Fakten und alternativen Fakten, zwischen einem großen Teil der Gesellschaft und der Wissenschaft aufgebaut worden sind, finden ihre Entsprechung im Verhältnis zwischen vielen Redaktionen und ihren Wissen-Ressorts. Selten in so großer Offensichtlichkeit wie bei der Welt, zu deren Marke es schon lange gehört, zu polarisieren, wo immer es möglich erscheint. Aber ein Graben tat sich von wenigen Ausnahmen abgesehen in fast allen Leitmedien auf. Es war der Graben zwischen Evidenz und Meinung.
Angefangen hat das früh, genau genommen in dem Moment, als das Virus auf der Weltbühne erschien. Die meisten Wissen-Ressorts hatten bis dahin ein relativ zurückgezogenes, fast inselhaftes Dasein geführt. Auf der Insel gab es Astronomie, Gesundheitsratgeber, Ernährung, Naturreportagen und Klimaforschung. Gelegentlich wurde „das Wissen“ zu politischen Entscheidungen befragt: zum EuGH-Urteil zur Gentechnik von 2018, zum Streit um Glyphosat oder zu den in China geborenen Crispr-Babys. Wissen-Ressorts erklärten nach Fukushima, was an radioaktiver Belastung zu erwarten war und wie sie sich auswirken würde. Sie erklärten, wie die Substanz wirkt, mit der Alexei Nawalny vergiftet worden war und was der aktuelle IPCC-Report aussagt. War alles erklärt, ging es zurück auf die Insel. Um die anhängige Politik, Wirtschaft und Kultur kümmerten sich andere.
Corona hat dieses Verhältnis auf den Kopf gestellt. Erstens, weil es zunächst einmal wenig zu erklären gab. Das Virus war unbekannt, neu, Daten mussten erst gesammelt und ausgewertet werden. Weder Wissenschaft noch Wissen konnten klare Antworten auf die vielen Fragen geben, die sich stellten. Würden Masken helfen? Die wenigen verfügbaren Daten legten zuerst nahe, dass dem nicht so sein würde. Waren Schulschließungen wirklich nötig oder überhaupt wirksam? Die ersten Studien zeichneten ein uneinheitliches Bild, so uneinheitlich wie die Situationen, in denen die Schulen in den verschiedenen Ländern steckten. Breitete sich das Virus über die Luft aus? Im Datenlimbo konnte man zunächst davon ausgehen, dass wie bei Sars-1 nicht Aerosole, sondern Tröpfchen ansteckend sein würden. Man wusste es aber noch nicht.
Nie dagewesene Nachfrage nach Wissen
Der zweite Punkt war, das die Nachfrage an Wissen eine bis dahin nicht dagewesene Dimension erreichte. Jede und jeder war (und ist noch immer) betroffen. Zunächst durch das Virus, dann durch die Maßnahmen – und zwar individuell sehr verschieden: Bewohnende von Altenheimen ganz anders, nämlich im Leben bedroht, als Eltern, die praktisch kaum noch arbeiten konnten, weil sie ihre Kinder zu Hause betreuen mussten. Kulturschaffende, die nicht mehr auftreten konnten, ganz anders als Forschende, die plötzlich mehr denn je zu tun hatten. Alle gemeinsam aber waren nun mit etwas konfrontiert, was ihnen fremd war: mit dem, was Forschung eigentlich ausmacht – dem Prozess, der Wissen in der Wissenschaft überhaupt erst schaffen kann.
Datenerhebungen, Studien, Analysen und dazwischen viel Unsicherheit. Es gibt gute und schlechte Studien. Eine Studie allein liefert selten endgültige Erkenntnisse. Wissenschaft ist ein mühsamer, annähernder Prozess, aus dem sich erst allmählich Gewissheiten formen. Das zu vermitteln ist nicht gerade einfach. Es nützt vor allem nichts, wenn in den Redaktionen wie in der Öffentlichkeit die Geduld fehlt, wenn Antworten und Content verlangt werden – und der Unmut in der Bevölkerung auf Biegen und Brechen gespiegelt werden muss.
Dass es aber keine Meinung ist, dass Kontaktbeschränkungen Sars-CoV-2 aufhalten, sondern eine Tatsache, fiel dabei genauso unter den Tisch wie die Frage, ob man einem Pseudoexperten mit Laborverschwörungstheorien oder einer Historikerin mit Leugnertendenzen tatsächlich eine Bühne bieten darf im Journalismus. Die Kommunikations-Professorin Annette Leßmöllmann hat den Wissenschaftsjournalismus Anfang 2021 in einem Beitrag für das Deutschlandradio als systemrelevant bezeichnet. Er sei, Corona habe das gezeigt, kein Nischenprodukt mehr. Forschung sei mit Macht im Alltag der Menschen angekommen. Es mag zu jenem Zeitpunkt so ausgesehen haben.
Die Erklärbären im Hintergrund
Aber jetzt, mehr als ein Jahr später, muss man fragen, ob der Wissenschaftsjournalismus im Zuge der Coronapandemie nicht gerade Gefahr läuft, in eine neue Nische gedrängt zu werden, in der auch Erklärungen nur noch Meinungen sind – oder völlig an Bedeutung zu verlieren. Denn wenn Meinungen genauso viel zählen wie die Faktenlage, wenn einzelne Studien benutzt werden dürfen, um die Evidenz – die gesamte Erkenntnislage – infrage zu stellen – wozu braucht man dann noch Journalistinnen und Journalisten, die sich die Mühe machen, wissenschaftliche Literatur zu wälzen, um zuverlässige Antworten anzubieten?
Es ist eine schwierige Situation, an der die Wissenschaftsjournalistinnen und Wissenschaftsjournalisten selbst nicht ganz unschuldig sind. Über viele Jahre waren sie die Erklärbären im Hintergrund und oft sogar ganz zufrieden damit. Aber in einer Gesellschaft voller Technologie, Forschung und Wissenschaft reicht das Erklärbärentum nicht aus. Es braucht faktenbasierte Argumente und den Willen, die Kontroversen politisch und gesellschaftlich orientiert zu führen, und zwar aktiv. Es geht um zu viel: Energiewende, Klimawandel, Welternährung, die nächste Pandemie. Ohne Wissen ist all das nicht zu bewältigen.
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