Spekulation mit Wohnraum: Zu Schrott vermietet
Unser Autor lebte drei Jahre in einem Haus in Stuttgart, das der Besitzer verwahrlosen ließ. Die Stadt will es abreißen. Über Gier und fehlgeleitete Stadtplanung.
D ie Tür des Hauses, das einmal sehr schön war, steht immer offen. Irgendjemand hat sie aufgebrochen, im Rahmen kann man noch die Delle sehen. Die Briefkästen hängen lose herunter, kaum noch ein Name steht in den kleinen Fenstern. Die Post liegt auf dem Boden. Es riecht nach Urin und Rattenkot.
Hier habe ich drei Jahre gewohnt. Jetzt soll das Haus im Stuttgarter Norden abgerissen werden. Ab Herbst eröffnet ein neuer Autotunnel. Dessen Ausgang liegt direkt vor dem Haus. Jeden Tag wird er Tausende Wagen ausspucken. Deshalb wird die Luft vor dem Haus dann so dreckig sein, dass dort niemand mehr wohnen kann.
So sagt es zumindest die Stadtverwaltung Stuttgart. Sie will das Haus kaufen und anschließend abreißen. Die Menschen, die hier wohnen, hat niemand gefragt.
Aber noch gehört der Stadt das Haus nicht. Sie kann es erst abreißen, wenn der Besitzer es verkauft. Der will aber nicht verkaufen. Nicht weil er die Menschen, die in dem Haus wohnen, schützen will. Sondern weil er mit jedem Monat, in dem das Haus noch steht, weiter Miete einnimmt. Und weil er darauf spekuliert, noch einen höheren Preis für das Haus rausschlagen zu können.
Die Geschichte des Hauses, in dem ich gewohnt habe, ist eine Geschichte über Gier. Es geht um ein System, in dem Vermieter aus einer heruntergekommenen Immobilie so lang wie möglich so viel Geld wie möglich herauspressen. Es geht um Menschen, die sich nicht dagegen wehren können. Und es geht auch um eine Stadt, die irgendwie die 455.000 Autos in den Griff bekommen muss, die Tag für Tag durch sie hindurchrauschen.
Ich zog vor fünf Jahren für mein Studium nach Stuttgart. Das Zimmer im Haus mit der Adresse Bei der Meierei 1 fand ich auf wg-gesucht.de: Fünfer-WG, 24 Quadratmeter großes Zimmer, 430 Euro. Stuttgart ist die drittteuerste Stadt Deutschlands. 430 Euro für ein Zimmer waren ein guter Preis.
Das Haus ist ungefähr 80 Jahre alt. Viele der Verzierungen in der Fassade werden von Satellitenschüsseln verdeckt. Die Erker, die sich aus der Mauer winden, sind vom Feinstaub ganz grau.
Die Meierei 1 ist das einzige Wohnhaus in der Gegend. Um das Haus herum sind Bürogebäude, eine Tankstelle und ein Autohaus von BMW. Oft parken Menschen in großen Limousinen und mit Polohemden die Parkplätze der Anwohner zu, weil sie sich den neuen 7er-BMW anschauen wollen.
Es sieht so aus, als hätte irgendjemand alles um dieses Haus herum aufgefressen. Früher stand hier mal ein Wohnviertel, jetzt gibt es nur noch Industrie und die Straße. Die Meierei 1 ist das letzte Wohnhaus in einer Gegend, in der eigentlich niemand mehr wohnt.
Plötzlich steht ein Mann im Flur
Das Haus ist in die Jahre gekommen. Die Jugendstilfliesen im Eingangsbereich sind kaputtgeschlagen. Nur in wenigen Zimmern ist noch Stuck, in den meisten hat man ihn beim Renovieren abgeschlagen. Die alten Dielen hat man rausgerissen und Klicklaminat darübergelegt.
In den ersten Nächten verfluchte ich das Haus und die Straße davor. Manchmal knarzte das Gebäude so, als breche es bald zusammen, und wenn man die Fenster offen ließ, fühlte es sich an, als würde man auf einer Verkehrsinsel schlafen.
Direkt vor meinem Fenster war ein Gullydeckel. Immer wenn die Lkws über ihn hinwegdonnerten, knallte es wie ein Böller an Silvester. Am schlimmsten waren die großen 30-Tonner-Lkws mit ihren drei Achsen. Pro Rad ein Schlag, bum, bum, bum.
Ein paar Monate später – ich kochte gerade Nudeln in der Küche – stand auf einmal ein Mann im Flur. Seine Zähne waren sehr weiß, er trug eine Mütze von Prada. Es war Winter, aber seine Haut war gebräunt, als käme er gerade aus dem Urlaub. „Was soll die Scheiße?“, rief er. Die Heizung im Flur stand auf 5. Er drehte sie auf 0.
„Ich hab doch gesagt, ihr sollt nicht immer so viel heizen, das ist teuer.“ Ich war so verwirrt, dass ich nichts sagte. An diesem Tag habe ich also meinen Vermieter kennengelernt.
Herr L. kam immer wieder einfach so in unsere Wohnung. Er hatte einen Schlüssel, oft kam er, wenn wir nicht da waren. Er drehte die Heizungen runter und kontrollierte, ob die Fenster zu waren. Einmal zahlte mein Mitbewohner die Miete nicht pünktlich. Herr L. schloss sein Zimmer mit einem Zentralschlüssel ab. Er machte es erst wieder auf, als mein Mitbewohner die Miete überwiesen hatte.
Wir sagten ihm, dass er nicht einfach in unsere Wohnung kommen könne, wann es ihm passte. Und dass wir ihn anzeigen würden, wenn er noch mal einfach so die Zimmer abschließe. Er sagte: „Dann zieht doch aus!“
Die anderen Jungs zogen tatsächlich bald aus. Sie wohnten schon eine ganze Weile in der Meierei 1 und hatten irgendwann genug von Herr L. Ich blieb.
Ein Freund aus meiner alten Fußballmannschaft zog in die Wohnung ein. Dann eine Kommilitonin, mit der ich mich gut verstand. Dann ein Junge, der damals auch neu in Stuttgart war. Wir wurden Freunde. So gute Freunde, dass er die Fassade der Meierei 1 mit ihren Erkern heute auf seinem Oberschenkel tätowiert hat.
Wir mochten das Haus, auch wenn es manchmal eklig zu uns war. Es war uns egal, dass im Hinterhof bestimmt 30 Ratten wohnten, die so groß waren wie Meerschweinchen. Sie fraßen sich durch die Mülltonnen durch, als wäre der Inhalt aus Zucker.
Aber wir fühlten uns wohl in der Wohnung mit den großen Fenstern und den hohen Decken. Trotz des Verkehrs da draußen. Mein Zimmer war eines mit Erker, dort stand ein Tisch, an dem wir oft lange saßen und redeten. Wir schauten der U13 hinterher, wie sie hinunter nach Bad Cannstatt fuhr, und blickten auf den Zoo im Rosensteinpark gegenüber. Im Winter, wenn die Bäume keine Blätter mehr hatten, sahen wir da manchmal die Kamele.
Irgendwann legte Herr L. Rattengift aus. Bald lagen die Ratten tot auf dem Gang. Wir räumten sie mit einer Schaufel von den zerbrochenen Jugendstilfliesen. Im Gegensatz zu uns war Herr L. das Haus egal. Wann immer wir uns über die Ratten beschwerten, sagte er: „Dann zieht doch aus!“
Einmal kam Herr L. wieder in die Wohnung, er hatte einen Handwerker dabei. Die alten Milchglasscheiben in unserer Tür entsprächen nicht der neuen Brandverordnung der Stadt, sagte Herr L. Der Handwerker schraubte die Milchglasscheiben einfach mit Holzbrettern zu, sodass sie keiner mehr sehen konnte. Dass das auch nicht ganz brandschutzgerecht war, war ihm egal. Es war Herr L.s Art, als Vermieter Probleme zu lösen: schnell und billig.
Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.
Irgendwann baute mein Freund aus der Fußballmannschaft eine Siebdruckmaschine und machte uns allen T-Shirts mit dem Schriftzug „Meierei“. Das Haus war uns so wichtig, weil wir dort tun konnten, was wir wollten. Es gab uns Freiheit. Es nahm sich nicht so ernst – und wir es deshalb auch nicht. Wir fingen an, die Wände zu bemalen, wir luden fremde Menschen ein und hörten so laut Musik, wie wir wollten.
Dann kam im Sommer 2019 ein Brief von Herr L: Mieterhöhung um 20 Prozent. Gerade noch so viel, dass das legal war, aber doch mehr, als wir uns leisten konnten. Wir zogen aus.
Ich packte gerade meine Sachen in Kartons, als Herr L. hereinkam. Er hatte wieder nicht geklingelt. Hinter ihm standen drei Männer, sie trugen Kartons von Ikea. Herr L. dirigierte sie in die Mitte des Zimmers, dort stellten sie die Kartons ab. Sofort begannen die Männer, die Kartons aufzureißen und Hochbetten aufzubauen.
Herr L., Vermieter
Herr L. machte unsere Wohnung zu Monteurzimmern. Er vermietete unsere 5-Zimmer-Wohnung nun an 30 Menschen, die sich eine Dusche teilen mussten. Er wollte mehr Geld verdienen. Von 30 Menschen kann man mehr Geld verlangen als von fünf. In dem Zimmer mit dem Erker würde am nächsten Tag nicht mehr ich wohnen, sondern sechs Arbeiter auf Montage in Stockbetten aus Stahl schlafen.
Im Sommer 2021, zwei Jahre nach dem Auszug, stehe ich jetzt wieder vor der Meierei 1 und schaue auf den Gullydeckel, der sich direkt unter meinem alten Fenster befindet. Ein Lkw fährt darüber. Drei Achsen, der vertraute Rhythmus, bum, bum, bum.
Vom Eingang des Hauses kann ich den Eingang des Tunnels sehen. Der Rosensteintunnel soll den Verkehr durch Stuttgart wieder bündeln, so steht es auf der Webseite des Projekts. Er soll Hunderttausende Autos, die täglich durch Stuttgart fahren, vor den BewohnerInnen verstecken. Nur die BewohnerInnen der Meierei 1 haben Pech, dass der Tunnel genau vor ihrem Haus wieder aus der Erde herauskommt.
Jemand hat den Eingang vernagelt
Ich schaue auf die andere Straßenseite. Hier war früher der Eingang zum Rosensteinpark und zum Zoo mit den Kamelen. Man musste nur ein paar Meter hineinlaufen, und schon verschluckten die Bäume die Geräusche der Autos. Ich will in den Park, aber jemand hat den Eingang vernagelt. Es scheint so, als wollte wirklich niemand mehr, dass Menschen sich hier zu Hause fühlen.
Während ich vor der Meierei 1 stehe, rollt der Feierabendverkehr mit 60 Kilometern pro Stunde. Stuttgart ist eine Autostadt. Auf dem Turm des Hauptbahnhofs dreht sich seit 1952 der Stern von Mercedes-Benz. Täglich wird die Stadtgrenze 912.000-mal von Autos überquert. Im Schnitt hat jeder zweite Mensch, der hier wohnt, einen Pkw. Viele arbeiten bei Porsche, Daimler oder Autozulieferern wie Mahle und Bosch. Die Innenstadt ist zerschnitten von großen Straßen.
Im Hauseingang der Meierei 1 riecht es immer noch nach Rattenkot. Auch die Tür hängt immer noch in den Angeln. Der Tunnel eröffnet in drei Monaten. Ich frage mich, wie es den Menschen, die noch hier wohnen, damit geht, dass sie bald hier rausmüssen.
Im Erdgeschoss sind die Rollläden unten. Ich klingle. Noch mal. Hier wohnt niemand mehr.
Dann stehe ich vor meiner alten Wohnung. Die dunkelgrüne Fußmatte, die immer vor der Tür lag, ist weg. Ob in meinem alten Zimmer immer noch Männer in Stockbetten übernachten? Ich klingle. Niemand öffnet. Wegen der Bretter kann ich nicht mehr durch die Milchglasscheiben schauen. Ich klingle noch mal und klopfe. Niemand macht auf. Unsere alte Wohnung steht offenbar leer.
Vor der Tür im zweiten Stock steht ein Einkaufstrolli mit Blumenmuster. „Bitte nicht nimmen!!!“ steht darauf.
Ich drücke auf die Klingel. Eine junge Frau öffnet. Ich frage sie, ob sie etwas von dem Abriss weiß. Sie schiebt die Tür wieder zu.
Auch im dritten Stockwerk öffnet eine Frau. Sie trägt rosafarbene Crocs. Der Flur der Wohnung steht leer, es riecht nach Maggi. Die Frau sagt, dass sie seit zwei Monaten hier wohnt. Dann kommt ein Mann mit Gesichtstattoos und Zahnlücke. „Sie weiß nichts“, sagt er und schließt die Tür.
Das vierte Stockwerk sieht sauberer aus. Auf einem Sims neben der Wohnungstür steht ein weißer Schwan aus Porzellan. Darin ein Blumengesteck, das gerade anfängt zu welken.
Hier wohnt Frank Stadelmann. Er trägt eine dreiviertellange Hose mit Camouflage-Muster, ein graues T-Shirt und einen goldenen Ohrring. Seine Schultern hängen. Auf dem rechten Arm hat er den Kopf einer Katze eintätowiert. Sie hat gelbe Augen und starrt mich an, während ich mit ihm spreche.
Frank Stadelmann ist 54 und kriegt Sozialhilfe. Er sagt, dass er hier seit 1999 wohnt. „Früher haben unten Studenten gewohnt, die haben oft laute Techno-Partys gefeiert“, sagt er. „Das hat genervt.“
Mir ist das ein bisschen peinlich, ich entschuldige mich drei Jahre zu spät dafür.
Über Herrn L. weiß Stadelmann wenig. Einmal, vor Jahren, da habe die Polizei bei ihm geklingelt und Herrn L. gesucht.
Tobias Döring, Lokalpolitiker
Die Arbeiter aus unserer alten Wohnung seien vor drei Monaten ausgezogen, sagt Frank Stadelmann. Im Haus würden nur noch ein paar Frauen aus Bulgarien wohnen. „Die werden oft von aggressiven Männern begleitet“, erzählt er.
Ich muss daran denken, dass Herr L. mal erzählte, er wolle aus dem Haus ein Bordell machen. „Hier, direkt an der Straße, kann man sicher viel Geld mit einem Puff machen“, sagte er. Das Gewerbeamt gab ihm damals keine Lizenz dafür.
Frank Stadelmann erzählt, dass erst heute Morgen jemand von der Stadt da war. „Der hat meine Wohnung ausgemessen und Fotos gemacht.“ Die Stadt muss erst den Preis der Wohnungen ermitteln, bevor sie Herrn L. ein Angebot für das Haus macht. Nur wenn die Stadt alle Wohnungen von Herr L. abgekauft hat, kann sie das Haus abreißen.
In meinem Handy habe ich noch die Nummer von Herr L. gespeichert. Ich will ihn fragen, warum er die Arbeiter rausgeschmissen hat und warum er Frank Stadelmann und die bulgarischen Frauen in einem dreckigen Haus leben lässt.
Herr L. erinnert sich nicht an mich. Er erzählt mir, dass die Stadt seit 2012 versucht, das Haus zu kaufen. Aber Herr L. sagt, dass er das Haus nicht verkaufen will. Zumindest noch nicht jetzt. „Ich will 5 bis 6 Millionen Euro für das Haus. Und das zahlen die nicht.“
Er habe über die Jahre verschiedene „Geschäftsmodelle“ bei diesem Haus angewendet, sagt Herr L. Geschäftsmodelle sind für ihn die Arbeiter in den Stockbetten, die Frauen aus Bulgarien und Frank Stadelmeier. Und ein Geschäftsmodell waren auch meine Freunde und ich, die Studi-WG.
„Ich könnte renovieren“, sagt Herr L. „Aber das kostet Geld.“ Und Geld könne er mit dem Haus auch anders verdienen. „Wenn ein Haus in so schlechtem Zustand ist, dann nimmst du Leute, die keinen Anspruch haben. Dann verändert sich das Geschäft. Das ist ganz normal“, sagt Herr L.
„Auf dem Immobilienmarkt muss man sein wie ein Hai“, meint er. „Das habe ich begriffen, und deshalb verdiene ich mit diesem Haus viel Geld.“
Das, was Herr L. mit der Meierei 1 macht, hat in Deutschland System. Das sagt Christina Simon-Philipp, sie ist Professorin für Stadtplanung an der Stuttgarter Hochschule für Technik.
Christina Simon-Philipp wohnt auch in Stuttgart. Sie sitzt im Homeoffice. Immer mal wieder muss sie das Gespräch unterbrechen, weil der Verkehr vor ihrem Fenster zu laut ist. In ihrem Zoom-Fenster schaut sie dann nach rechts, wo ihr Fenster ist, und atmet genervt aus.
„In Altbauten an großen Straßen wohnen meistens Menschen, die es sich nicht woanders leisten können“, sagt Simon-Philipp. Herr L. sei nicht der einzige Vermieter, der das verstanden habe. „Diese Häuser werden heruntergewohnt, nicht renoviert, und dann holen sich die Vermieter dort Menschen rein, die sich nicht wehren können.“
Simon-Philipp sagt, dass das Vermieten von Schrottimmobilien an einkommensschwache Menschen die Umweltungerechtigkeit in Deutschland steigere. „Diese Menschen sind Umweltbelastungen mehr ausgesetzt als zahlungskräftige Leute“, sagt sie.
Der Vermieter lacht mich aus
Ich rufe Herr L. noch mal an. Ich frage ihn, ob er Menschen, die sich nicht wehren können, absichtlich ausnutzt. Er lacht mich aus. Er sagt, das sei eine dumme Frage. „Ich bin doch nur eine kleine Maus. Was wollen Sie von mir? Es gibt so viele Firmen auf dieser Welt, die Milliarden mit krummen Dingern machen. Lassen Sie mich und mein Haus in Ruhe!“
Als ich ihn nach seinem moralischen Gewissen frage, lacht Herr L. wieder. „Hier auf dem Immobilienmarkt gibt es keine Idealisten“, sagt er. „Hier denkt niemand an Wohnraum oder Mietsenkungen. Diese Welt ist wild. Immobilienmarkt ist Kampf. Und die Schwachen verlieren immer.“
Es scheint, als würde sich nur noch ein Mensch in Stuttgart für das Haus an der Meierei 1 interessieren. Er sitzt auf dem Geländer der U-Bahn-Haltestelle Rosensteinpark, direkt vor der Tür. Tobias Döring raucht eine Zigarette. Er streicht seinen Ziegenbart glatt, die Maske hatte ihn in der Bahn zerdrückt. Auf seinem Shirt steht „NASA“, darüber trägt er ein Sakko und auf dem Kopf einen Hut.
Döring sitzt für die Grünen im Bezirksrat von Bad Cannstatt. Er will das Haus retten. Er sagt, dass eine Stadt solche Häuser wie die Meierei 1 brauche. „Solche Häuser bieten ein Dach für Menschen, die sich Stuttgart-Mitte nicht leisten können“, sagt Döring. „Günstiger Wohnraum ist in Stuttgart so rar, dass man Bestandsbauten nicht unreflektiert abreißen sollte.“
Döring zeigt auf die Autos, die an ihm vorbeifahren, „Häuser in solchen Gegenden sind Einstiegswohnungen. Wohnungen für Menschen, die neu nach Stuttgart kommen und auf dem normalen Immobilienmarkt keine Chance haben. Gastarbeiter, SozialhilfeempfängerInnen, Geflüchtete und Studierende.“
Wir laufen zu dem Haus. Döring steht vor der aufgebrochenen Tür und streicht mit seiner Hand über die Mauer des Hauses. „Sandstein“ sagt er und fährt mit den Fingern die Linien der Ornamente nach. „Das hier sollte eigentlich unter Denkmalschutz stehen.“
Döring würde gern erreichen, dass die Stadt das Haus kauft, saniert und dann günstigen Wohnraum schafft. Das kostet Geld. Und zwar Geld, das die Stadt Stuttgart lieber für den Abriss ausgeben will.
„Es ist natürlich einfacher, wenn man das hier abreißt“, sagt Döring. „Aber wollen wir eine Stadt sein, die einfach so sagt: Mach kaputt und bau neu? Mit ein wenig mehr Geld könnte man sanieren und günstigen Wohnraum schaffen.“
Warum will die Stadt das Haus dann trotzdem abreißen? Döring ist Architekt. Er erzählt, dass er deshalb oft aus Interesse die Abrissgenehmigungen der Stadt Stuttgart durchgucke. Irgendwann stieß er dabei auf ein Haus, das der Stadt eigentlich gar nicht gehört – und für das diese trotzdem eine Abrissgenehmigung erteilte. Das Haus Meierei 1. „Dieses Haus wird wohl von einigen in der Stadtverwaltung als Schandfleck gesehen“, sagt er.
Die Stadtverwaltung will den Bereich vor der Meierei 1 boulevardartig ausbauen. Breite Radwege sollen dort dann entstehen, vier Spuren für die Autos, in der Mitte die Straßenbahn und links und rechts lange Baumreihen. Für Döring ist das der Grund, warum das Haus abgerissen werden soll. „Es gibt Leute in der Verwaltung, die es weghaben wollen, weil ein Haus wie dieses nicht mehr ins Bild der modernen Stadt passt“, sagt er.
Und was sagt die Stadt dazu? Sie schreibt in einem Statement, dass „aufgrund der zu erwartenden Lärm- und Luftschadstoffentwicklung nach Inbetriebnahme des Tunnels Anfang November 2021 eine Wohnnutzung in der bisherigen Art und Weise nicht mehr möglich“ wäre.
Was ist wichtiger: Verkehr oder Wohnraum?
Christina Simon-Philipp, die Stadtplanerin, sagt, dass das Quatsch sei. „Man reißt kein Haus ab, nur weil dort die Luft so schlecht ist.“
Ich frage mich, was in Stuttgart wichtiger ist: Verkehr oder Wohnraum?
„Nur wenn das öffentliche Interesse am Verkehrsprojekt deutlich gegenüber dem Erhalt des Wohnhauses überwiegt, ist dies überhaupt eine Option“, schreibt die Stadtverwaltung. „Dies ist beim Rosensteintunnel der Fall.“
Der Rosensteintunnel würde viel Verkehrsentlastung bringen, sagt die Stadt. Der Tunnel sorgt dafür, dass der Pendelverkehr in die Randbezirke Zuffenhausen und Bad Cannstatt einfach so unter der Erde verschwindet. Das ist der Stadt wichtiger als das Haus. Und es ist ihr wichtiger als die paar Menschen, die dort noch wohnen.
„Verkehr“, sagt Tobias Döring, wenn man ihm die Was-ist-hier-wichtiger-Frage stellt. „Ich habe es in sechs Jahren Lokalpolitik in Stuttgart noch nie anders erlebt.“
Christina Simon-Philipp lacht, als ich sie frage. „Verkehr!“, ruft sie, dann erinnert sie sich daran, dass sie Professorin ist, und formuliert es diplomatischer: „Wohnraum ist politisch ein sehr hoch angesiedeltes Thema“, sagt sie. „Man merkt, dass sich die Stadt da Mühe gibt. Aber es gibt immer noch viel zu wenig bezahlbaren Wohnraum.“
Weil sie sich um bezahlbaren Wohnraum bemühen will, hat die Stadtverwaltung Herrn L. einen Kompromiss angeboten. Einen Kompromiss, der den Abriss noch verhindern könnte. Den bietet die Stadt aber nur an, weil fünf Millionen für ein Haus, das man nach dem Kauf direkt wegbaggert, doch sehr viel Geld sind.
Die Stadtverwaltung will Lüftungsanlagen in das Haus einbauen. Sie sollen saubere Luft hinter dem Haus ansaugen und in die Wohnungen pumpen. So würden die Menschen nicht zu sehr unter dem neuen Tunnel leiden.
Herr L. hat dieses Angebot abgelehnt. Er sagt am Telefon: „Das ist Verschwendung. Die sollen das Haus ruhig abreißen.“ Herr L. will keine Lüftungsanlagen. „Dieses Haus ist kaputt, es muss weg. Ich will es nicht mehr haben. Aber die dürfen es erst abreißen, wenn sie mir das bezahlen, was ich verlange.“
Wann das passiert, ist nicht klar. Aber eins ist sicher: Das Haus, in dem ich mal gewohnt habe, wird abgerissen. Es ist nur noch eine Frage der Zeit. Wenn die Stadt die 5 bis 6 Millionen Euro zahlt, dann wird sie den verbliebenen MieterInnen nach und nach kündigen. Sie werden ausziehen, und dann werden die Bagger kommen.
Wenn die Stadt die 5 bis 6 Millionen Euro bezahlt, Herr L. verkauft und die Meierei 1 abgerissen wird, dann will Frank Stadelmann, der Mann aus dem vierten Stock, zu seiner Freundin ziehen.
„Ich komme mir hier seit Jahren verarscht vor“, sagt er. „Die Ratten, der Lärm und Herr L., der sich um nichts kümmert.“ Auch Frank Stadelmann hat keine Lust mehr auf das Haus.
Was mit den bulgarischen Frauen und ihren Beschützern aus dem dritten Stockwerk passiert, weiß man nicht. Die Stadt sagt in ihrem Statement, dass sie allen MieterInnen bei der Wohnungssuche helfen werde, wenn das Haus abgerissen werde.
Wir Studierenden, eine der Stufen von Herrn L.s Geschäftsmodell, haben schon lange andere Zimmer gefunden. Viele von uns zahlen in den neuen Wohnungen mehr Miete als in der Meierei 1. Jedes Mal, wenn ich meinen Freund mit dem Tattoo treffe, will ich, dass er es mir wieder zeigt. Auf seinem Oberschenkel wird das Haus für immer stehen bleiben.
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