Systemrelevante Jobs in Coronakrise: Ihr beklatscht euch selbst
Unser Autor findet das Klatschen für Pflegekräfte verlogen. Er ist selbst Pfleger und fordert: Kümmert euch lieber um die Alten und Vulnerablen.
P unkt 18 Uhr stehen sie auf den Balkonen und klatschen und jubeln und freuen sich. Zu Ehren aller Systemrelevanten, unter anderem in der Pflege. Selbst der Bundestag ist aufgestanden und hat applaudiert. Auch zu meinen Ehren. Neulich schrieb eine Kollegin auf Twitter, das sei wie jeden Tag Muttertag, wenn es immerzu Blumen gäbe, aber den Haushalt müsse die Frau dann trotzdem allein schmeißen. Sie wollen nett sein, die Klatschenden, aber nett hat eine große Schwester.
Ich arbeite in einer Wohngruppe mit Menschen mit sogenannter geistiger Behinderung. Mit Glückwünschen und warmen Worten kenne ich mich aus. Ich weiß auch, was diese Glückwünsche heißen: „Schön, dass du diese Arbeit machst, ich könnte das nicht. Zum Glück muss ich mich da nicht drum kümmern.“ In dem Lob versteckt sich immer eine satte Prise Abwehr: Ich werde gelobt, damit sich niemand mit den Bewohner*innen auseinandersetzen muss, also jenen Menschen, die im Falle der Triage dann als Erste dem Tod überlassen werden, weil die halt keinen jucken.
Den Klatschenden möchte ich drei Dinge sagen, erstens: Hört auf, den Pflegenden die Wange zu tätscheln, und kümmert euch um die alten, kranken, vulnerablen Menschen. Ja, auch die, die Europa gerade in Moria verrecken lässt; ein besonderer Platz in der Hölle ist für jene reserviert, die abends angesichts dieser Katastrophe im Ernst die Europahymne von den Balkonen singen.
Zweitens: Der Applaus schmeckt schal. Seit Jahrzehnten hat man unsere Forderungen, die der Pflegenden, ignoriert, weggedrückt, abgetan. Dass die Zustände immer schlechter werden, dass die Arbeitsbedingungen beschissen sind, ist bekannt – und das schon seit unfassbar langer Zeit. Aber wen kümmert es?
Keine Heiligen
Und nein, da geht es (nicht nur) um mein Gehalt, das lässt sich nicht mit 500 netto pro Nase einfach zuschütten. Es geht darum, wie es in den Heimen, den Krankenhäusern, den Wohngruppen aussieht. Ich kann mich an keine Reform erinnern, deren Ankündigung ohne den Zusatz „Kostenneutralität“ auskam, obwohl allen klar ist, dass die Bedarfe steigen. Und kaum eine*n hat es gejuckt.
Das kann ein bisschen klatsch-klatsch-klatsch nicht kaschieren. Nutzt die fünf Minuten und denkt an die Zeit nach der Pandemie. Was wir dann brauchen werden: Verbesserung der Selbstorganisation in den Pflegeberufen inklusive Ersetzung des sogenannten dritten Wegs, Abschaffung der Fallpauschalen in den Krankenhäusern, zusätzliches Personal, kein Outsourcing mehr aus finanziellen Überlegungen. Und kommt mit auf die Straße, wenn wir streiken (falls wir überhaupt streiken dürfen – ich zum Beispiel darf es nicht, danke, dritter Weg).
Und drittens: Nein, Pflegende sind keine Heiligen. Ich will auf keinen Sockel gehoben werden, bloß damit ihr euch besser fühlt. Unter den Pflegenden sind Arschlöcher, Ignoranten und – ja – auch Rassist*innen. Wer die Pflege jetzt in den Himmel hebt, verdeckt das. Gerade jetzt hat das die Journalistin Ferda Ataman spüren müssen, die kürzlich auf Twitter Zweifel daran geäußert hat, ob Marginalisierte in Krisenzeiten gleich gut behandelt werden würden wie Mitglieder der Mehrheitsgesellschaft.
Fehlende Empathie
Absolut berechtigte Zweifel, trotzdem war der Aufschrei gegen Ataman groß. Leute, die vor vier Wochen noch lieber tot vom Stuhl gefallen wären, als das Wort Solidarität in den Mund zu nehmen, griffen sie mit totalem Furor an. Alles im Namen der heldenhaften Pflege.
Wenn ihr eure sogenannte Solidarität dafür ausnutzt, um People of Color zum Schweigen zu bringen, um sie daran zu hindern, ihre Erfahrungen zu teilen, dann will ich eure Solidarität nicht. Die Augen zuzumachen vor dem, was in der Pflege alles schiefläuft, hilft niemandem.
Klatscht, wenn ihr euch besser fühlt. Es ist aber völlig klar: Ihr beklatscht euch selbst, und ihr tut das öffentlich, damit jede*r von eurer Großherzigkeit erfährt. Davon, dass ihr euch besser fühlt, wird nichts gut, es macht euch nur unempfindlicher gegenüber dem Leid der anderen.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Debatte um Termin für Bundestagswahl
Vor März wird das nichts
Energiepläne der Union
Der die Windräder abbauen will
Bewertung aus dem Bundesinnenministerium
Auch Hamas-Dreiecke nun verboten
SPD nach Ampel-Aus
It’s soziale Sicherheit, stupid
Wirbel um Berichterstattung in Amsterdam
Medien zeigen falsches Hetz-Video
Einigung zwischen Union und SPD
Vorgezogene Neuwahlen am 23. Februar