Politisches Erdbeben in Thüringen: Den Osten verloren
Die AfD kann ihre Opfer-Erzählung weiterdrehen. Denn es waren Bundespolitiker von FDP und Union, die den Thüringer Dammbruch verdammt haben.
N ur 25 Stunden können Deutschland für immer verändern. Das ist die Lektion aus dem Drama in Thüringen. Der Eintagsministerpräsident Thomas Kemmerich hat zwar seinen Rücktritt angekündigt – dennoch hat der „Dammbruch“ in Erfurt alles verändert. In Thüringen wie im Bund.
In Thüringen ist die Stimmung zwischen den Parteien gründlich vergiftet, und die AfD hat bleibend triumphiert. Konkrete Macht hat sie zwar nur für einen einzigen Tag ausgeübt, aber der rechtsradikale „Flügel“ unter Björn Höcke hat drastisch vorgeführt, dass er taktisch weitaus raffinierter ist als die gehassten „Altparteien“. Die Anhänger sind begeistert.
Zudem kann die AfD nun erneut ihr Lieblingsthema variieren, dass die Ostdeutschen die Opfer der Nation seien. Denn es waren ja die Bundespolitiker in FDP und Union, die den Thüringer „Dammbruch“ verdammt haben. In Erfurt hätten die CDUler und Liberalen das Experiment liebend gern fortgesetzt. Ostdeutsche wurden entmachtet – diese vermeintliche Kränkung wird die AfD in weitere Stimmen umwandeln.
Für CDU und FDP bedeutet das Drama umgekehrt: Sie haben den Osten verloren. Doch ist die Spaltung zwischen Ost und West nicht die einzige Kluft, die sichtbar wurde. Noch dramatischer: Union und Liberale sind grundsätzlich gespalten, wie sie mit der AfD umgehen sollen.
Viele FDPler auf rechtsnationalem Kurs
FDP-Chef Lindner sah sich gezwungen, eine Vertrauensfrage im Parteivorstand anzukündigen, nachdem er Parteifreund Kemmerich zum Rücktritt genötigt hatte. Vertrauensfragen sind ein scharfes Schwert, das man nicht zu oft zücken kann, wenn sich diese Waffe nicht abnutzen soll. Dass Lindner seine Person zur Disposition stellen musste, zeigt nur: Der Unmut unter den Liberalen war heftig. Viele hätten sich gern von der AfD tolerieren lassen. Nicht wenige FDPler sind – auch bundesweit – auf dem Weg in die rechtsnationale Ecke.
Aber die eigentliche Schlammschlacht steht der CDU bevor. Es kursiert der böse Verdacht, dass die erzkonservative Werte-Union den Coup von Erfurt sorgsam geplant hat – um Kanzlerin Merkel und CDU-Chefin Kramp-Karrenbauer endgültig zu demontieren. Es ist kein Zufall, dass Friedrich Merz just gestern verkündet hat, dass er sein Aufsichtsratsmandat bei der umstrittenen Investmentfirma BlackRock aufgibt, um „die CDU noch stärker bei ihrer Erneuerung zu unterstützen“.
In der CDU ist der offene Machtkampf ausgebrochen, und Thüringen war dafür nur das Spielfeld. Längst geht es um Merkel und Kramp-Karrenbauer. Bei der Union ist nichts mehr undenkbar – dafür haben 25 Stunden genügt.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
Ungelöstes Problem der Erneuerbaren
Ein November voller Dunkelflauten
Autobranche in der Krise
Kaum einer will die E-Autos
Abschiebung von Pflegekräften
Grenzenlose Dummheit
Trumps Personalentscheidungen
Kabinett ohne Erwachsene
113 Erstunterzeichnende
Abgeordnete reichen AfD-Verbotsantrag im Bundestag ein
Bürgergeld-Empfänger:innen erzählen
„Die Selbstzweifel sind gewachsen“