40 Jahre Grüne: Schluss mit Dagegengeschwätz

Wenn die Grünen es wirklich ernst meinen mit der Politik für das Ganze, dann müssen sie jetzt aufs Kanzleramt zielen. Weniger geht nicht mehr.

Illustration: Katja Gendikova

Die Wahl von Winfried Kretschmann zum Ministerpräsidenten von Baden-Württemberg im Frühjahr 2011 ist der historische Moment, der die Grünen fundamental verändert hat. So sehr sich manche von ihnen auch noch jahrelang dagegenstemmten. Es war eine zufällige Konstellation der Geschichte, die sie aus ihrer bequemen Minderheiten- und Besserwisserposition herauskatapultierte und zwang, Verantwortung für das Große und Ganze zu übernehmen.

Dafür sind sie vor 40 Jahren nicht gegründet worden, aber das ist jetzt ihre Chance und Verpflichtung, angesichts der gravierenden politischen Lücke in der erodierenden Volksparteienlandschaft. Unsere alte Privilegierten-Erzählung der liberalen Moderne mit ihrem linearen und scheinbar unendlichen Fortschritt an Wohlstand, Freiheit, Gerechtigkeit und Emanzipation ist zu Ende.

Zum einen wurde das Versprechen der sozialen Gerechtigkeit auch in reichen Gesellschaften nicht eingelöst, zum anderen wird langsam durch die Klimakrise klar: Die Welt ist zu klein für diesen an fossiles Wirtschaftswachstum gekoppelten Fortschrittsgedanken. Alles hängt zusammen und auch unsere emanzipatorischen Fortschritte und der Freiheitsgewinn des Einzelnen werden fossil angetrieben.

Das nächste große Ding ist die Moderation der Angleichung von globalen Lebensverhältnissen bei gleichzeitiger Bewahrung der Lebensgrundlagen aller. Das geht nicht dadurch, dass die SPD das fossil Erwirtschaftete etwas anders verteilt oder die Union sich ein Fossil als Kanzlerkandidat wählt. Es braucht eine zügige Transformation ins Postfossile. Ich verzichte auf den handelsüblich-romantischen Rückblick auf die grüne Geschichte.

Es braucht eine zügige Transformation ins Postfossile

Erstens übernehmen sie das selbst. Zweitens ist es nicht angebracht. So weitsichtig die Grünen und die sie tragenden Milieus mit ihrem frühen Insistieren auf die sozialökologische Herausforderung waren, so verbohrt und realitätsfeindlich waren sie bei der Bearbeitung. Das meint: die Ablehnung der Politik als Profession und Handwerk, die Liebe zu absoluten Ansprüchen und das Desinteresse an parlamentarischen Mehrheiten.

Die Unfähigkeit, realitätsnotwendige Positionen zu Nato und Militäreinsätzen zu klären, was zur Schocktherapie in Regierungsverantwortung führte. Die Ablehnung der EU und des Maastrichter Vertrages als neoliberales Monster und das späte Engagement für die europäische Idee in ihrer konkreten Form als EU. Die Skepsis gegenüber einem wiedervereinigten Deutschland und den kulturellen Werten vieler Ostdeutscher.

Die ideologischen Bremsen waren allgegenwärtig, und wenn man unter großem Gestöhn eine gelöst hatte, dann war schon die nächste da. Für diese Selbstfixierung, „Strömungsdiskussionen“ genannt, wurden riesige Mengen an Energie verbraucht, unter anderem zur internen Hassproduktion. „Man hätte allein mit dieser Energie drei Atomkraftwerke ersetzen können“, sagt der langjährige grüne EU-Fraktionsvorsitzende Daniel Cohn-Bendit.

Das Problem der Grünen und großer Teile der linken, emanzipatorischen Milieus war das Verwechseln von Kultur und Politik. Diese grüne Kultur ging weit über die Partei hinaus und ist eine Fortsetzung der 68er-Gegenkultur. Ihr politischer Kern besteht im Proklamieren berechtigter Ansprüche diskriminierter Minderheiten und der eigenen Haltung als höherer Wahrheit.

Die Grünen haben Kultur und Politik verwechselt

Als habitueller Sprech- und Identitätsentwurf läuft das auf eine Abspaltung von der Mehrheitsgesellschaft hinaus, einem vermeintlich moralisch minderwertigen Mainstream. Vereinfacht gesagt: Die von grüner Kultur geprägten Leute, zu denen ich auch gehörte, dachten zu lange, dass sie „die Welt“ mit Woodstock, Wohngemeinschaften, alternativer Mikroökonomie und Dagegengeschwätz verändern. Sie hatten nicht kapiert, was Politik eigentlich ist.

Die Vorstellung, sich mit anderstickenden Teilen der Gesellschaft auf etwas Gemeinsames zu verständigen und sich dafür arbeitend in der Realität die Hände schmutzig zu machen, ist für Hardcore-Vertreter der grünen Kultur heute noch ästhetisch unerträglich. Das belegt die anhaltende Wut und Enttäuschung klassischer Kulturlinker über einen grünen Ministerpräsidenten, der von 30 Prozent gewählt wurde und für alle Politik machen muss und will.

Das Verwechseln von Kultur und Politik führte zum maximalen Desaster der Post-68er-Teilgesellschaft: die Fehleinschätzung der rot-grünen Jahre 1998 bis 2005 und das Wegschenken des Jahrzehnts danach durch diejenigen, die rot-grün gewählt hatten.

Vizekanzler Joschka Fischer und die Regierungsgrünen wurschelten viel rum, zeigten aber auch, dass man unter den schwierigen Umständen der globalen Realität (Kriege, Koalitionspartner, neue globale Wirtschaftsmächte) in Teilen Zukunftspolitik hinkriegen kann. Aber gerade die Milieus, die sich für progressiv hielten, ließen Rot-Grün im Stich, weil ihnen die Realität von Krieg und Ende der nationalen Industriegesellschaft unangenehm war. Damit wollte man nichts zu tun haben.

Dann lieber CDU, da konnte man wieder mit ruhigem Gewissen dagegen sein. Und statt den nächsten Schritt zu gehen, vergeudete auch die wieder von grüner Gegenkultur dominierte Bundespartei wertvolle Jahre mit kleingeistiger Abwicklung der Weltpolitikeraura Fischers und einem dysfunktionalen Mix aus Belehrungsansprachen und Kirchentagsatmo.

Die Partei vergeudete Jahre mit Belehrungsansprachen

Und dann kam der grüne Ministerpräsident und in der Folge ein interner Generationenwechsel, der den von Kretschmann personifizierten Paradigmenwechsel in den Bundesländern vorantrieb: von der Dagegen- zur Dafür-Partei, von den Lobbyisten der identitätspolitischen und kulturellen Mainstream-Opposition zum Zentrum der ganzen Gesellschaft, vom Besserwissertum zu Dia­logfähigkeit, von der Öko- und Gender-App zur Orientierungspartei.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Wenn ganz normale Leute 2018 eine handelsübliche Fernsehtalkshow sahen, kriegten sie einen Schock: Der „Vernünftige“, der Moderate, der Zuhörende schien plötzlich der Grüne zu sein. Irre. Inzwischen haben sie sich daran gewöhnt. Diesen kulturellen Wandel haben die Parteivorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck seit Anfang 2018 konzipiert, verkörpert und in der Partei durchgesetzt.

Ihre erste Sommertour unter den Titel „Einigkeit und Recht und Freiheit“ zu stellen war ein kommunikationsstrategischer Move, um die Grünen als Verteidiger:innen der res publica, ihrer Institutionen und des bundes­republikanischen Grundgesetzes neu zu erfinden.

Das war eine überfällige Reaktion auf die veränderte gesellschaftliche Lage, in der Rechtspopulisten eine Revolte gegen den demokratischen Staat und die liberalen Errungenschaften planen und der jetzige Innenminister („Herrschaft des Unrechts“) zeitweise assistierte.

Vorstandsduo verkörpert kulturellen Wandel

Während die linkskonservativen Trittinisten sich mit durchaus verständlichen Interessen bis heute dagegen verwahren, das erfolgreiche Kretschmann-Vorbild umzusetzen – je mehr Leute die Grünen wählen, desto geringer wird der Anteil und Einfluss dieser „Linken“ –, machte Habeck als Vizeministerpräsident mit seinem post­ideologischen Thinktank in Schleswig-Holstein mit gerade mal 13 Prozent schon ab 2012 Regierungspolitik, die auf das Ganze und Allgemeine zielte.

Seit 2013 regiert auch Tarek Al-Wazir in Hessen nach dem neuen Muster, mittlerweile von knapp 20 Prozent Wählern legitimiert. Dass Katharina Fegebank in Hamburg die Regierung anführen will, gilt inzwischen als selbstverständlich. Die einen (FDP, Union) zeichnen die Grünen aus strategischen Gründen aber immer noch als linksideologische Möchtegern-Sozialisten, während die anderen (SPD, Linkspartei) sie als asoziale Besserverdiener definieren.

Von der Mediengesellschaft werden die Grünen auch heute noch gerne eher moralisch und weniger politisch bewertet. Dann werden sie gemessen an der Abweichung von ihren Überschuss-Idealen von Anno Tobak und nicht an der Lösungskraft ihrer Politik im Hinblick auf die zentralen politischen Probleme des 21. Jahrhunderts. Ob sie diese Kraft wirklich haben und eine grundsätzliche Orientierung vorgeben und durchsetzen können, mit der die verschiedenen Systeme sich modernisieren, ist unklar. Aber darum geht es.

Das Niveau des öffentlichen politischen Gesprächs ist nicht der Problemlage angemessen, sondern wie die ehemaligen Volksparteien immer noch weitgehend im 20. Jahrhundert verhaftet und weitgehend nationalstaatlich orientiert. Ob Wahl im Saarland oder in der EU – es geht immer um die „bundespolitischen Auswirkungen“.

Die zukunftsentscheidende Frage ist aber schon lange nicht mehr, ob und mit wem die Grünen in Deutschland denn nun koalieren, sondern was sie als zentraler Teil der nächsten Bundesregierung in Brüssel mit den Regierungen in Skandinavien, den Benelux-Ländern, nicht zuletzt mit Emmanuel Macron – oder sagen wir Frankreich – für die Sozialökologisierung, die Verteidigung der liberalen Demokratie, aber eben auch den Wohlstand und die Sicherheit Europas hinkriegen können.

Und ob es ihnen gelingt, mit Christdemokraten, Sozial­demokraten, Liberalen und Linken im Europäischen Parlament Mehrheiten für progressive Kompromisspolitik zu bilden.Und nun das Wichtigste: Wenn die Grünen von Annalena Baerbock, Robert Habeck und Winfried Kretschmann es nach 40 Jahren mit echten Verdiensten, aber viel zu viel Pillepalle und Lähmung durch den selbstfixierten Irrsinn endlich ernst meinen sollten mit der Politik für das Ganze, dann müssen sie jetzt auch aufs Ganze zielen.

Das bedeutet: Weltpolitik aus dem Kanzleramt heraus. Kleiner geht es nicht mehr.

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Chefreporter der taz, Chefredakteur taz FUTURZWEI, Kolumnist und Autor des Neo-Öko-Klassikers „Öko. Al Gore, der neue Kühlschrank und ich“ (Dumont). Bruder von Politologe und „Ökosex“-Kolumnist Martin Unfried

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