Angriffe gegen Obdachlose: Und, schauen Sie hin?
Innerhalb weniger Tage kam es in Dortmund zu drei Tötungsversuchen an Obdachlosen. Was die Gleichgültigkeit der Gesellschaft damit zu tun hat.
W enn ich mit der U-Bahn zur Arbeit fahre, muss ich auf dem Weg über Menschen steigen. Fast jeden Tag sitzen oder liegen in der U-Bahn-Station obdachlose Menschen im Vorraum oder auf dem Treppenabsatz. Manchmal sind sie zugedeckt mit Schlafsäcken oder Folien, sodass auf den ersten Blick nicht zu erkennen ist, ob es sich um einen Stoffhaufen oder doch einen Menschen handelt. Wenn ich am Morgen an ihnen vorbeimuss, gucke ich nicht nach, ob unter dem Haufen jemand atmet, sondern steige einfach über ihre Körper.
An manchen Tagen sind diese Menschen nicht da, die U-Bahn-Station wirkt dann wie leer gefegt. Lediglich Reste von Alufolie und Zigarettenstummel erinnern daran, dass sich hier kürzlich noch jemand aufgehalten hat. Wohin die Menschen verschwunden sind, weiß ich nicht. Wurden sie von der Polizei, der Security oder Putzkräften vertrieben? Sind sie in einen anderen U-Bahnhof gegangen oder gar aus der Innenstadt vertrieben worden?
Das Leben von obdach- und wohnungslosen Menschen ist mir nicht egal. Im Gegenteil: Ich habe sowohl journalistisch dazu gearbeitet und war auch wiederholt ehrenamtlich in der Obdachlosenhilfe tätig. Doch im Alltag werden die Menschen für mich unsichtbar, verschwimmen zu einer Masse, die mich meistens nicht tangiert und manchmal nervt. An manchen Tagen so stark, dass ich lieber mit dem Fahrstuhl aufs Gleis fahre, um den Menschen auf der Treppe nicht begegnen zu müssen. Ich schäme mich dann, aber nicht genug, um an meinem Verhalten etwas zu ändern. Und damit bin ich nicht allein, mir tut es ein Großteil der Gesellschaft gleich.
Doch diese Gleichgültigkeit, diese Ignoranz, können wir uns nicht erlauben. Denn es ist dieses Unsichtbarmachen, das das Leben von obdachlosen Menschen – neben Drogenmissbrauch, Krankheit, Hitze und Kälte – gefährdet. Wohnungs- und obdachlose Menschen werden in der Öffentlichkeit bespuckt, beschimpft und mit Gegenständen beworfen, ihre Zelte und Schlafplätze werden angezündet, sie werden ausgeraubt, mit Messern bedroht oder zu Boden getreten. Und im schlimmsten Fall werden sie getötet – in Obdachlosenunterkünften, bei Polizeieinsätzen oder auf der Straße.
Mordversuche in Dortmund
Diese Gewalt gehört für sie zum Alltag, ihr Leben ist nicht sicher. Aktuell gab es allein in Dortmund drei Tötungsversuche an obdachlosen Menschen, zwei davon mit tödlichem Ausgang. Vor gut einer Woche erschoss ein Polizist einen 52-jährigen Mann bei einem Einsatz. Nur einen Tag später soll ein 13-jähriger Junge einen 31-Jährigen am Dortmunder Hafen erstochen haben. Und nun ist bekannt geworden, dass am Osterwochenende der Unterschlupf einer Frau angezündet wurde. Die 72-Jährige konnte sich verletzt aus ihrem brennenden Nachtlager retten. Die Staatsanwaltschaft bewertet die Tat als versuchten Mord aus Heimtücke. Die Polizei geht nicht davon aus, dass es Zusammenhänge zwischen den einzelnen Taten gibt.
Gewalt gegen obdach- und wohnungslose Menschen eint immer ein Hass, der auf Vorurteilen beruht. Nämlich, dass Menschen nichts zur Gesellschaft beitragen und damit minderwertig seien. Deswegen wollen Menschen mit Obdach darüber verfügen, wo Menschen ohne Obdach sich aufhalten dürfen – nämlich am besten außerhalb ihres Blickfeldes. Sie werden als Menschen zweiter Klasse angesehen, als einfache Opfer, mit denen man machen könne, was man will.
Dass dieser Hass der Menschen sich in Gewalt niederschlagen kann, liegt auch an der Gleichgültigkeit der Gesellschaft. Um die Menschen aus der Unsichtbarkeit zu holen, braucht es ein Hingucken von allen. Auch damit die Politik in die Verantwortung gezwungen wird.
Wohnungskrise verschärft sich
Die Bundesregierung will Obdach- und Wohnungslosigkeit bis 2030 überwinden, so steht es im Koalitionsvertrag. Hinweise darauf, dass dieses Vorhaben gelingt, gibt es wenige. An bezahlbarem Wohnraum fehlt es in Deutschland an allen Ecken und Enden, und durch politische Fehlentscheidungen wird sich die Wohnungskrise in den nächsten Jahren noch einmal verschärfen.
Besonders gefährlich ist das für alle Menschen ohne Obdach. Denn selbst wenn wir als Gesellschaft kollektiv anfangen hinzugucken und einzugreifen, bleibt der beste Schutz vor Gewalt für die Betroffenen noch immer die eigene Wohnung.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen
meistkommentiert
VW in der Krise
Schlicht nicht wettbewerbsfähig
Prognose zu KI und Stromverbrauch
Der Energiefresser
Kränkelnde Wirtschaft
Gegen die Stagnation gibt es schlechte und gute Therapien
Mögliche Neuwahlen in Deutschland
Nur Trump kann noch helfen
Anschläge auf „Programm-Schänke“
Unter Druck
Jeff Bezos und die Pressefreiheit
Für eine Zwangsabgabe an Qualitätszeitungen!