Wohnungslose Frauen in Deutschland: Durch das System gefallen

Frauen ohne Wohnung, wie Doris, sind kaum sichtbar. Zu ihrer Unterstützung gibt es neue Projekte und damit Hoffnung – zumindest für einige.

Drei Äpfel liegen auf einem Tisch

Im Gemeinschaftsraum der Berliner Unterkunft für wohnungslose Frauen „Evas Obdach“ Foto: Sophie Kirchner

BERLIN taz | Wenn Doris die Friedrichstraße entlang läuft, könnte man sie für eine Touristin halten. Schwarze Kleidung, die Sonnenbrille in die dunkelbraun getönten Haare gesteckt und die linke Hand fest um ihren Rucksack geklammert. Doch Doris ist keine Touristin, sie lebt seit 25 Jahren in Berlin – seit vier Jahren ohne Wohnung.

Doris heißt in Wirklichkeit anders, sie möchte ihren Namen nicht in der Zeitung lesen, er ist der Redaktion bekannt. Fast jeden Tag läuft Doris über die Friedrichstraße zur Amerika-Gedenkbibliothek am Halleschen Tor. Dort kann sie sich je nach Wetterlage im klimatisierten Gebäude oder auf der Wiese davor ausruhen. „Im Gegensatz zu öffentlich Parks gibt es hier Security, die aufpasst, dass man nicht beklaut wird“, sagt sie, als wir uns in einem Café in der Nähe verabreden. Zwischen den ganzen Tourist*innen fällt sie auf der Bibliothekswiese nicht auf: „Wenigstens am Tag möchte ich nicht wohnungslos sein.“ Und wie Doris da so sitzt und einen Schluck von ihrem Kaffee nimmt, würde das auch niemand denken.

Doris, 49 Jahre alt, ist eine von 68.000 wohnungslosen Frauen (geflüchtete Frauen nicht eingerechnet) in Deutschland. Die Zahl ist eine Schätzung der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e. V. (BAG W) für das Jahr 2017, die kürzlich veröffentlicht wurde. Wie viele Menschen in Deutschland wirklich ohne einen festen Wohnsitz leben, weiß niemand.

Es gibt Schätzungen, doch die Dunkelziffer ist groß. Wohnungslosigkeit wird meist als männliches Problem gesehen, doch rund 30 Prozent aller Wohnungslosen in Deutschland sind weiblich. Da sie im Straßenbild nicht so stark sichtbar sind, verschwinden sie aus der Wahrnehmung der Gesellschaft. „Die Menschen, die wir auf der Straße sehen, sind nur die Spitze des Eisbergs“, sagt Werena Rosenke, Geschäftsführerin der BAG Wohnungshilfe.

Für Frauen ist das Leben auf der Straße besonders gefährlich. Viele würden auf der Straße Opfer von Raub, Gewalt und sexueller Nötigung, so Rosenke. Um nicht auf der Straße zu landen, kommen viele wohnungslose Frauen erst einmal bei Bekannten unter. „ Doch wenn das nicht mehr funktioniert, gehen sie unter Umständen Zweckbeziehungen mit Männern ein“, sagt Rosenke. Eigentlich muss jede einzelne Kommune dafür sorgen, dass alle Menschen in Deutschland ein Dach über dem Kopf haben. „Auch Obdachlosenunterkünfte sind nicht unbedingt sichere Orte, und geschlechtergemischte Unterkünfte bieten häufig keinen Zufluchtsort für Frauen“, sagt Rosenke. Unterkünfte ausschließlich für Frauen sind in Deutschland keine Selbstverständlichkeit.

Tüten und Rucksäcke

Um 18 Uhr ist es an einem Abend Ende Juli in der Notunterkunft für Frauen „Evas Obdach“ noch ruhig. Eine studentische Aushilfe bereitet in der Küche das Abendessen vor. In jedem Zimmer stehen drei oder vier Stockbetten, dazwischen Schlafsäcke, Plastiktüten und Rucksäcke der Frauen, die zurzeit hier übernachten. Die Unterkunft vom Sozialdienst katholischer Frauen befindet sich neben der St. Hedwigs-Kathedrale in Berlin-Mitte.

Nadine Thomé, eine der Leiterinnen, sieht die Notunterkunft als Sprungbrett ins Hilfesystem: „Der Vorteil für die Frauen ist, dass es sehr niedrigschwellig ist, bei uns aufgenommen zu werden. Es gibt keine Hinderungsgründe oder bürokratisches Prozedere.“ Geöffnet ab 19 Uhr, 22 Schlafplätze für die Nacht, Abendessen und Frühstück sowie Begleitung von Sozialarbeiterinnen bieten sie an. Für die Frauen ist die Unterkunft kostenlos, ein Großteil zahlt der Senat, den Rest der Träger. Doch die Plätze reichen nicht aus, 758 Frauen musste Evas Obdach im Jahr 2018 abweisen.

Wohnungslosigkeit wird meist als männliches Problem gesehen, doch rund 30 Prozent aller Wohnungslosen in Deutschland sind weiblich

Wenige Stunden später sitzen die Frauen im Gemeinschaftsraum und essen, es gibt Nudelauflauf und Salat, andere haben sich auf die Zimmer zurückgezogen oder handeln aus, wer zuerst duschen oder Wäsche waschen darf. Eine der Frauen ist zum ersten Mal bei Evas Obdach, andere kommen seit Jahren immer wieder. Gesprochen wird über die Erlebnisse am Tag, über den Besuch beim Jobcenter oder das Wetter.

Keine von ihnen entspricht dem stereotypen Aussehen einer wohnungslosen Frau, im Gegenteil. Goldene Armbänder klirren beim Essen an die Teller. Die Gesichter sind stark geschminkt, die Klamotten und Haare sauber. „Vielen sieht man die missliche Lage nicht an, doch alle haben schlechte Erfahrungen gemacht und viele der Frauen befinden sich in psychischen Krisen oder leiden unter psychischen Erkrankungen“, sagt Thomé.

Antrag auf Hartz IV nie bearbeitet

Auch Doris sitzt an diesem Abend bei Evas Obdach alleine an einem Tisch in der Ecke des Gemeinschaftsraumes. Sie liest einen Krimi und isst ihr selbstgekochtes veganes Essen. Seit Februar kommt Doris immer wieder hier her, es ist ein Ort, an dem sie sich sicher fühlt. „Eigentlich dürfen die Frauen höchstens 14 Tage bei uns übernachten, doch häufig braucht der Hilfeprozess deutlich länger. Wenn eine Frau bei uns in der Sozialberatung ist, verlängern wir auch den Aufenthalt“, sagt Thomé. So auch bei Doris.

Als wir uns wenige Tage später in einem Café am Halleschen Tor treffen, ist Doris müde. Sie konnte wegen eines strengen Geruchs im Zimmer nicht schlafen, eine Frau hatte sich eingenässt. „Eigentlich passiert jede Nacht irgendetwas, eine Frau schreit, weil sie Albträume hat, oder fängt an zu kochen.“ Beschweren will sie sich trotzdem nicht: „Ich bin froh, ein Dach über dem Kopf zu haben.“

Doris hat lange Zeit als Pflegerin gearbeitet und mit ihren zwei Kindern in einer kleinen Wohnung im Norden Berlins gewohnt. Doch der Job wurde für sie immer schwerer. „Ich habe zu viel Ballast mit nach Hause genommen“, erzählt sie. Zuletzt arbeitete sie als Einzelbetreuerin, doch die Beziehung zu ihrer Betreuungsperson verschlechterte sich, bis Doris von ihr unerwartet gekündigt wurde. Ihr Antrag auf Hartz IV wurde nie bearbeitet, das Amt teilte ihr mit, dass ihr Antrag nie eingegangen sei. „Ich habe aber auch nur einmal beim Amt nachgefragt und es dann gelassen.“ Doris hatte kein Geld, konnte ihre Miete nicht mehr zahlen bis ihre Wohnung im Dezember 2015 zwangsgeräumt wurde. „Ich weiß nicht, was damals mit mir los war. Viele sagen heute zu mir, dass ich wohl einen Burn-out hatte“, sagt sie. Es war der Beginn ihres Lebens in der Wohnungslosigkeit.

Leben in verdeckter Obdachlosigkeit

Zunächst kam sie bei ihren erwachsenen Kindern unter, doch als das nicht mehr ging, versteckte sie sich in einem Laden von Bekannten im Norden Berlins, in dem sie ehrenamtlich gearbeitet hatte. Sie lebte in verdeckter Obdachlosigkeit, versteckte ihre Dinge hinter einem Regal und schlief dort auch nachts. Wenn sie einmal nicht die Letzte im Laden war, lief sie stundenlang durch die Straßen – ohne eine Minute Schlaf.

Dass sie wohnungslos ist, wusste dort keiner. Drei Jahre lang lebte sie ohne Geld und Krankenversicherung, ernährte sich von Essen aus dem Foodsharing-Regal. Eine Frau, die durch das System gefallen ist. Anfang 2019 musste der Laden schließen, und auf der Straße zu übernachten, kam nicht in Frage.

„Das war für mich der Moment, wo ich wusste: Ich muss mir Hilfe holen“, sagt sie. So kam Doris zu Evas Obdach. Seitdem ist sie beim Amt gemeldet, bezieht Hartz IV und hat wieder eine Krankenversicherung. Eine Wohnung fehlt ihr noch immer. Im Frühjahr hatte sie kurzzeitig einen Schlafplatz in einem Wohnungslosenheim in Charlottenburg. Doch von dort wollte sie schnell wieder weg. „Es herrschte eine Atmosphäre der Unterdrückung und es gab keinerlei Hilfestellung“, fasst sie ihre zwei Monate dort zusammen.

Lange Warteliste

Mittlerweile ist Doris wieder bei Evas Obdach untergekommen und hofft jetzt auf eine Wohnung. Sie hat sich beim „Housing First für Frauen“-Projekt angemeldet. Ein Modell, das aus den USA kommt und in europäischen Ländern wie Finnland sehr erfolgreich ist. Dabei kommt die Wohnung zuerst und alles andere danach. Doris hofft, dass sie die Nächste ist, doch es stehen 36 Frauen auf der Warteliste, die auf eine eigene Wohnung hoffen.

Einzige Bedingung für eine „Housing First“-Wohnung ist, dass die künftigen Bewohnerinnen die Miete durch Arbeit oder Sozialhilfe regelmäßig zahlen können. „Das ist ein Paradigmenwechsel, der ein weiteres Angebot in der Wohnungshilfe für Frauen darstellt: weil man hier davon ausgeht, dass ein Mensch in seinen eigenen vier Wänden einen Schutzraum findet und sich dann eher stabilisiert, um seine Probleme anzugehen“, sagt Beate Vetter-Gorowicz, Pressesprecherin und Zuständige für die Immobilienakquise des Projekts.

In Deutschland ist das Modell noch nicht stark verbreitet, in Berlin haben im Oktober 2018 zwei Modellprojekte, vom Senat gefördert, gestartet. Die 1- bis 1,5-Zimmer-Wohnungen kommen von Vermietungsgesellschaften aus der privaten Wirtschaft, zwölf Frauen konnten bisher in Mietverträge und Wohnungen untergebracht werden vom Sozialdienst katholischer Frauen.

Wochen später treffe ich Doris, sie wirkt niedergeschlagen, sitzt auf der Treppe vor Evas Obdach. Doris erzählt, dass sie die Unterkunft verlassen muss, ihre verabredete Zeit sei abgelaufen. Beim Housing-First-Projekt für Frauen stehe sie mittlerweile auf dem ersten Wartelistenplatz, erzählt Doris. Wenn sie wieder eine Wohnung hat, dann will sie sich einen Ausweis für die Bücherei holen und als Belohnung für die vier harten Jahre eine Dampferfahrt von Tegel nach Potsdam machen. Doch wie lange sie noch warten muss, weiß niemand. Es kann Tage, Wochen oder Monate dauern. Wo sie bis dahin übernachten soll? Das weiß Doris noch nicht.

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