Ökonom über Inflation und Sozialpolitik: „Wir haben eine unsoziale Inflation“

Steigende Preise, miese Löhne, geringe Sparquote: Wir sind in einer sozialen Notlage, sagt Ökonom Marcel Fratzscher. Daran sei auch der Staat Schuld.

Ein Mann sitzt an einem Tisch

Ist gegen die Schuldenbremse: Marcel Fratzscher

taz am wochenende: Herr Fratzscher, explodierende Energiepreise, Engpässe bei den Lieferketten, noch mehr steigende Lebensmittelpreise nicht zuletzt aufgrund der Dürre auf der gesamten Nordhalbkugel – wie hart wird es für die Menschen hierzulande in den kommenden Monaten?

Marcel Fratzscher: Wir haben eine soziale Notlage. Das muss man ganz klar sagen. Und ich bin überrascht, dass das anscheinend bei vielen noch nicht angekommen ist. Auch in der Politik nicht.

Der Mann

Marcel Fratzscher, 51, ist Ökonom, Autor und Präsident des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung sowie Professor für Makroökonomie an der HU Berlin. Jüngstes Werk: „Geld oder Leben. Wie unser irrationales Verhältnis zum Geld die Gesellschaft spaltet“, erschienen im März 2022 beim Berlin Verlag.

Davor hat er Angst

Meine Sorge ist, dass wir die sozial-ökologische Transformation verschlafen und unseren Planeten vor die Wand fahren.

Das gibt ihm Hoffnung

Meine Hoffnung ist, dass wir wegkommen von dieser unsäglichen Lethargie in Deutschland, am Alten festzuhalten. Um den Wohlstand auch für künftige Generationen zu sichern, müssen wir jetzt Tempo machen. Das können wir aber auch.

Woran erkennen Sie das?

Wir erkennen das bei den Sorgen der Menschen, aber man sieht es auch ganz konkret: Die Tafeln und Schuldnerberatungen haben Zulauf. Und die Menschen schränken ihren Konsum ein. Im ersten Halbjahr haben viele Leute nachgeholt, was sie in den Pandemiejahren nicht machen konnten. Wenn die Energiekosten der Menschen jedoch um 40 Prozent und mehr steigen, müssen sie bei anderen Ausgaben sparen. Das passiert gerade. Ich gehe davon aus, dass wir im Winter in eine Rezession schlittern werden. Schon jetzt im dritten Quartal schrumpft die Wirtschaft. Das wird sich wohl im vierten Quartal fortsetzen.

Wir haben derzeit die höchste Inflation der Nachkriegszeit. Viele von uns können sich nicht vorstellen, was auf uns zukommt. In den Sommerferien sind wir so munter gereist wie in Zeiten vor Corona.

Wir erleben momentan zwar noch keinen wirtschaftlichen Einbruch. Wir haben aber eine höchst unsoziale Inflation. In der Regel kommt eine Inflation dann, wenn es uns zu gut geht, es also einen Nachfrage-Boom nach heimischen Dienstleistungen und Waren gibt. Inflation lässt sich dann ganz gut verkraften. Denn die Wirtschaft brummt und damit einher gehen normalerweise ordentliche Lohnerhöhungen. Jetzt geschieht aber genau das Umgekehrte: Wir haben eine Inflation von 8 Prozent, aber nur Lohnabschlüsse von 4,5 Prozent. Menschen mit geringen Einkommen – das haben unsere Studien gezeigt – sind von den hohen Energiekosten und steigenden Lebensmittelpreisen drei- bis viermal so stark betroffen wie Menschen mit hohen Einkommen, weil Erstere einen höheren Anteil ihres Einkommens für Dinge des Alltags ausgeben müssen, die jetzt teurer werden.

Zugleich haben wir Arbeitskräftemangel. Dämpft das womöglich die Folgen der drohenden Wirtschaftskrise?

Dieser Arbeitskräftemangel ist massiv. Wir haben zwei Millionen offene Jobs. Das geht quer durch alle Qualifikationsschichten. Und das ist ein gutes Zeichen zumindest jetzt für die Krise, denn wir müssen nicht mit einem starken Anstieg der Arbeitslosigkeit rechnen. Die schlechte Nachricht aber ist: Viele Jobs sind nicht gut bezahlt und die Kaufkraft der Löhne sinkt. Wir könnten in den kommenden Monaten eine ungewöhnliche Rezession erleben, in der wir keinen Anstieg von Arbeitslosigkeit verzeichnen, der Lebensstandard für viele dennoch massiv zurückgeht.

Warum glauben Sie, ist die derzeitige Lage für viele so schwierig zu verstehen?

Wir sind hierzulande hohe Inflation nicht mehr gewohnt. Kaum ein anderes westliches Land hatte in den vergangenen 70 Jahren eine so geringe Inflation wie die Bundesrepublik. Es heißt zwar immer: Wir Deutsche hätten Angst davor. Aber niemand, der heute noch lebt, hat die Hyperinflation von 1923 selbst erlebt. In der Nachkriegszeit war die DM stabiler als jede andere Währung der Welt. Und auch seit der Einführung des Euro hatten wir kaum Inflation.

Die Deutschen haben zu wenig Angst?

Wir sind ein sehr reiches Land, die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt. Die Deutschen sparen viel – aber die Ungleichheit bei der Sparquote ist mit die höchste in Europa. Das reichste Prozent vereinigt 35 Prozent des privaten Vermögens auf sich. Die unteren 40 Prozent haben aber fast gar kein Vermögen – als Vorsorge fürs Alter, für die Kinder, oder um sich gegen Krisen abzusichern. Es macht sie stark abhängig vom Sozialstaat und begrenzt ihre eigene Autonomie und Freiheit.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Aber ist das nicht der Grundgedanke des Sozialstaats? Der Staat hilft in Notlagen.

Dieses Verständnis ist meiner Ansicht nach der Grundfehler, den auch die Politik begeht. Ein guter Sozialstaat darf aber nicht erst warten, bis der Schaden eingetreten ist, sondern muss vorbeugend handeln und Notlagen vermeiden helfen. Und hier liegt das Scheitern des Sozialstaats. Deutschland hat unter den Industrieländern mit die größte private Vorsorgelücke fürs Alter, da viele zu wenig eigene Ersparnisse während ihres Arbeitslebens aufbauen können. Die Menschen sollten imstande sein, nach 45 Arbeitsjahren so viele Rücklagen gebildet zu haben, dass sie nicht hilfsbedürftig sind.

Sind wir vielleicht einfach schlechte Anleger?

Dass einige Deutsche wenig Vermögen bilden, mag am konservativen Anlageverhalten liegen. Aber ungewöhnlich viele Menschen können nicht sparen, weil sie jeden Euro ihres Einkommens für den täglichen Lebensunterhalt benötigen. 20 Prozent der arbeitenden Bevölkerung gehören dem Niedriglohnsektor an, einer der höchsten Werte unter den Industrieländern. Ökonomisch und sozial schädlich ist aber auch das Steuersystem. Es gibt fast kein anderes Industrieland, das Vermögen so gering und Einkommen aus Arbeit so hoch besteuert wie Deutschland. Hinzu kommen explodierende Mieten in den Großstädten. Das heißt: Von der Arbeit bleibt auch für Menschen mit mittlerem Einkommen nur wenig zum Sparen.

Was muss konkret geschehen?

Wir brauchend dringend eine Entlastung von Menschen, die von den höheren Energie- und Nahrungsmittelpreisen besonders heftig betroffen sind. Mein Vorschlag ist ein Energiegeld von 100 Euro pro Kopf im Monat für alle mittleren und geringen Einkommen, also beispielsweise einen Vierpersonenhaushalt mit weniger als 6.000 Euro Bruttoeinkommen. Für Singles, Paare oder größere Familien wird das entsprechend angepasst. Ich empfehle eine Dauer von 18 Monaten, um über die nächsten zwei Winter zu kommen. Das wäre zielgenau und könnte rasch umgesetzt werden. Diese Maßnahme würde 35 Milliarden Euro im Jahr kosten. Das ist ungefähr so viel wie die ersten beiden Pakete zusammen. Nur zum Vergleich: In der Coronakrise hat der Staat 350 Milliarden Euro an Entlastungen für Unternehmen ausgegeben.

Trotzdem: Wie soll das finanziert werden?

Der Staat profitiert von der hohen Inflation. Wenn die Menschen 20 Prozent mehr für Lebensmittel zahlen, erhält der Staat darauf noch mal 19 oder 7 Prozent an Mehrwertsteuer. Mit einer Übergewinnsteuer bei Unternehmen kämen noch mal rund 15 bis 20 Milliarden Euro zusammen.

Zusätzlichen Ausgaben steht die Schuldenbremse entgegen. Sie soll 2023 wieder gelten.

Die Schuldenbremse sollte in einer so tiefen Krise die geringste Priorität haben. Bei ihrer Verabschiedung wurde explizit reingeschrieben, dass der Bundestag in einer Notsituation die Schuldenbremse aussetzen kann. Wir haben das Pech, dass wir nach einer Pandemie nun so einen Krieg haben. Nur hat sich das niemand hier so ausgesucht. Deshalb sehe ich keinen Weg daran vorbei, sie auch 2023 auszusetzen.

Bundesfinanzminister Christian Lindner sieht das anders.

Das ärgert mich. Der Bundesfinanzminister sagt, die Schuldenbremse ist 2023 gesetzt. Zugleich will er 10 Milliarden Euro für den Ausgleich der kalten Progression ausgeben, wovon 70 Prozent den oberen Einkommensgruppen zugutekommt, während die unteren 40 Prozent so gut wie nichts bekommen. 10 Milliarden Euro so auszugeben, anstelle des Ziels, Entlastung genau an Menschen mit mittleren und geringen Einkommen zu geben, ist ökonomisch wie sozial unsinnig und schädlich. Denn die Konsumeffekte sind massiv. Mit jedem Euro mehr für Energie können Menschen mit geringen und mittleren Einkommen weniger beim Friseur oder im Supermarkt ausgeben. Das belastet die Gesamtwirtschaft. Wenn ich hingegen Menschen mit 200.000 Euro Jahreseinkommen um ein paar Hundert Euro entlaste, legen sie das zusätzliche Geld aufs Bankkonto. Es hat null Auswirkung auf die laufende Wirtschaft. Das ist für mich in jeglicher Hinsicht schlechte Wirtschafts- und Sozialpolitik.

Ist denn die Gasumlage des grünen Wirtschaftsministers sozial?

Nein, ich halte die Gasumlage für einen riesigen Fehler. Uniper gibt an, ein Teil der Verluste sei durch Abschreibungen auf die gescheiterte Pipeline Nord Stream II zustande gekommen. Wieso sollen Konsumenten für diesen politischen Fehler haften und nicht der Staat direkt? Was für mich die noch größere Sünde ist: Auf der einen Seite werden die Bürgerinnen und Bürger gezwungen, sich an den außerordentlichen Verlusten der Energieunternehmen zu beteiligen. Aber an den außergewöhnlichen Gewinne der gleichen Unternehmen sind sie nicht beteiligt. Die Regierung kann nicht die Verluste sozialisieren, die Gewinne aber privatisieren. Das ist mit einer funktionierenden Marktwirtschaft nicht vereinbar.

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