Die Skyline von Moskau

Die Skyline von Moskau Foto: Yuri Kochetkov/epa

Alltag in Moskau nach fünf Monaten Krieg:Zwei Welten

Die meisten Russinnen und Russen stimmen dem Krieg zu. Aber längst nicht alle. Familien und Freunde sind zerstritten. Die Gesellschaft ist verstört.

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21.7.2022, 08:18  Uhr

Die Sonne ist untergegangen, über der Moskwa scheint der Mond. Boote schippern auf dem Fluss, auf den Radwegen sausen E-Roller hinter­einanderher. Eine kleine Holzbühne unter den Bäumen, unweit ein Spielplatz. Aus den Boxen ertönen Salsaklänge. Zwei Frauen bewegen sich über die Bretter, der Tanzlehrer spricht etwas, seine Worte verhallen in der abendlichen Luft. Noch mehr Menschen kommen, sie tanzen, sie genießen. Beobachtet werden sie von den zu Denkmälern erstarrten Helden der Sowjetunion, Helden, die gestürzt wurden, niedergerissen, verdammt. Und wiederaufgebaut.

Hier im Moskauer Museon-Park, einer Art Ab­lageplatz für die abgetragenen sowjetischen Monumente, stehen sie auf dem Rasen, stehen entlang der steinernen Wege. Der Elf-Tonnen-Dzierżyński, die Stalin-Büste, Lenin, Lenin, ­Lenin. Eine 50er-Jahre-Skulptur findet sich zwischen den Bäumen mit sechs Figuren aus Bronze, darunter eine Frau mit Kind auf dem Arm und einer Taube in der Hand. „Wir fordern Frieden“, steht auf dem Sockel.

Frieden ist ein gefährliches Wort im Russland dieser Tage.

Keine tausend Kilometer von der ausgelassenen Stimmung im Museon-Park entfernt führt Russland Krieg gegen seine Nachbarn. Führt Krieg, den es nicht so nennt. Tötet, zerstört, vergewaltigt, weil es den Verlust der imperialen Größe, für die die Helden hier stehen – in Stein gemeißelt und in Bronze gegossen –, nicht verkraftet und die Ideologie dieser Helden unter veränderten Vorzeichen wieder einzuführen versucht.

Die Menschen tanzen im Mondlicht. Salsa, Tango, Walzer. Sie fahren Inliner um bunte Plastikhütchen herum an der Neuen Tretjakow-­Galerie im Park. „Anja, noch mal, in die Knie gehen, Gewicht verlagern!“, ruft der Profiskater. Die Silikonräder unter seinen Schü­le­r*in­nen leuchten rosa, grün, blau. Es ist Sommer in Moskau. Laues Lüftchen.

Mariupol wird zur russischen Stadt erklärt

Im Fernsehen zeigen sie die Bomben. „Mariupol. Russische Stadt.“ Schüsse aus Panzern, Explosionen, „befreite“ Kinder, Spritzen von „drogenabhängigen Nazis“. Immer wieder, in veränderter Montage. Eintönig fast. Russische Trikolore über eingestürztem Beton, Einschusslöcher in den Wänden, zerborstene Fensterscheiben. Ein Kriegsporno. Eine Art Rausch. Voller Menschenhass. Ohne Empathie.

„Meine Nichte Dascha ist vier, sie lebt unter sauberem Himmel. In Russland“, schreibt einer namens Alexander in seinem Telegram-Kanal. In Winnyzja in der Ukraine, weit abseits der Frontlinien, liegt derweil die vierjährige Lisa tot neben ihrem schwarz-rosa Kinderwagen, ein abgerissener Fuß eines Erwachsenen daneben, weil drei russische Raketen unweit im Zentrum eingeschlagen sind, in ein Bürohaus samt Klinik neben dem sogenannten Haus der Offiziere, einer Kultureinrichtung. Das russische Fernsehen erwähnt den Beschuss mit keinem Wort.

Menschen an einer Bushaltestelle in Moskau

„Für Russland. Für die Kinder des Donbas“: Propagandaplakat an einer Moskauer Bushaltestelle Foto: Yuri Kochetkov/epa

Einen Tag später schreibt das russische Verteidigungsministerium: „Zum Zeitpunkt des Raketenangriffs fand in dem Gebäude ein Treffen statt, an dem das Kommando der ukrainischen Luftwaffe und ausländische Waffenlieferanten teilnahmen. Sie besprachen die Übergabe der nächsten Charge von Flugzeugen, Waffen an die Streitkräfte der Ukraine sowie die Organisation der Reparatur der ukrainischen Flieger. Infolge des Schlags wurden die Teilnehmer des Treffens liquidiert.“ Das ist der staatliche Zynismus, Tag für Tag verbreitet.

„Die Ukraine muss sich ergeben, wenn sie solche Schläge auf Schulen, Geburtskliniken, Wohnhäuser vermeiden will“, schreibt Telegram-User Alexander und bekommt Worte der Zustimmung dafür. – „Mein Land ist ein schwarzes Loch. Ein Abgrund statt Heimat“, sagt Nastja Krasilnikowa, eine russische Feministin, die Moskau im März den Rücken gekehrt hat und nun, wie so viele Russinnen und Russen, die den Krieg verurteilen, im lettischen Riga lebt. „Leid, nur noch Leid, kein anderes Gefühl mehr“, sagt sie und sammelt Geschichten ukrainischer Frauen über ihren Alltag, ihr Leben. Will damit die russische Bevölkerung aufrütteln, die sich in großen Teilen gar nicht aufrütteln lassen mag, weil sie sich abwendet, nichts Bestürzendes hören will. „Ein Schutzmechanismus“, sagen Psy­cho­log*in­nen.

Es sind zwei Welten, die sich in Moskau finden. Welten, die sich so weit voneinander entfernt haben, dass kaum ein Wort sie mehr verbindet. Realitäten, die gegensätzlich sind und doch Hand in Hand gehen. Sommerliches Lachen, Freude, Jauchzen. Tote, Särge, verzweifeltes Weinen. Schweigen. Schweigen überall. Herumlavieren aus Angst, ausweichen aus Angst, Themawechsel aus Angst.

„Ausländische Zeitung? Gott bewahre!“

Kaum einer will frei sprechen, will seinen vollen Namen nennen, seine Geschichte erzählen lassen. „Ausländische Zeitung? Gott bewahre! Ich will nicht in den Knast.“ Die neuen Gesetze – zur Tätigkeit als „ausländischer Agent“, zum Staatsverrat, zum „Einfluss“ aus dem Ausland, zur „Diskreditierung der russischen Streitkräfte“ –, sie sind so schwammig formuliert, dass sie die Gewalt durch die Staatsmacht noch weiter verstärken. Es gibt keine freien Wahlen, keine funktionierende Justiz, keine Kanäle, um Einfluss auf den Staat zu nehmen.

Ein Straßenmusiker sitzt vor einem Laden, eine alte Frau geht an ihm vorbei

Dieser Laden bitet T-Shirts mit dem „Z“-Symbol an Foto: Yuri Kochetkov/epa

Die Menschen sind verstört, sie sind hilflos. „Die Gesellschaft hat keine Orientierung, keine Zukunft, keinen Idealismus, sie ist, noch aus So­wjet­zei­ten, stark an Gewalt gewöhnt und passt sich an diese an“, sagt der Meinungsforscher Lew Gudkow vom Moskauer Lewada-Zentrum.

Der Staat kann jeden treffen. Niemand will sich treffen lassen. Also Mund halten. Und leiden. „Kommst du auf einen Tee vorbei? Mit irgendjemandem muss ich doch reden“, sagen die Menschen und treffen sich in ihren Küchen. Die Straße ist tabu, Straßenprotest ist vernichtet. Gudkow wie auch andere So­zio­lo­g*in­nen inner- und außerhalb des Landes schreiben von einer „atomisierten Gesellschaft“. Die Menschen fühlen sich allein, einsam, halten den Nächsten für einen „Zombie“.

Manche Eheleute haben die Wohnung aufgeteilt. Sie halten sich gegenseitig für „Monster“ oder „Verräter“

Manche Eheleute haben die Wohnung aufgeteilt, begegnen sich lediglich auf dem Flur oder in der Küche. Manche Kinder haben den Kontakt zu ihren Eltern abgebrochen. Sie halten sich gegenseitig für „Monster“ oder „Verräter“. Es kommt vor, dass zwei Lehrerinnen aus derselben Schule jeweils erzählen, dass alle anderen den Verstand verloren hätten und den Krieg unterstützten. Dass sie bereits zwei sind, die diese Unterstützung an ihrer Schule nicht leisten, wissen sie nicht.

Was denkt der Nachbar, was die Verkäuferin? Es ist ein vorsichtiges Herantasten geworden, ein Tapsen im unsichtbaren Krieg voller Minen in Form willkürlich angewandter Gesetze.

„Ich kann nichts machen“

Zu Kriegsbeginn im Februar waren die Menschen in Moskau wie erstarrt. Im März verließen die einen das Land, die anderen griffen verbal an. Jetzt setzt Gewöhnung ein, auf unterschiedliche Weise. Oberflächlich ist Moskau wie eh und je im Sommer, grün, die Menschen kaufen für die Datscha ein, setzen Blumen, sitzen auf den Terrassen der hübschen Cafés, schlürfen die kalten, fruchtigen Cocktails. Die Kinder entdecken ihre künstlerischen und sportlichen Fähigkeiten während der zahlreichen Ferienbetreuungsangebote in den Parks. Sie malen („Aber bloß keine hellblau-gelbe Kombination, mein Kind“), sie basteln („Panzer sind erlaubt, ja“), sie rennen hintereinanderher („Sieg! Du bist der Feind!“).

Doch so manche Erwachsenen machen sich mehrmals täglich Gedanken, ob sie noch in der Stadt, im Land bleiben wollen. Können. Wohin gehen? Was tun? Sie lassen die Arme baumeln. „Wie, wie kann ich etwas ändern? Ich kann nichts machen.“ Manche bangen schlicht um ihre Jobs. Die Autoindustrie ist praktisch zusammengebrochen. Im Mai wurden im Vergleich zum Vorjahr lediglich 3 Prozent Personenwagen produziert. Die Menschen sind allerdings nicht arbeitslos gemeldet, sie sind in Betriebsferien, haben Kurzarbeit. Vorerst.

Viele warten besorgt auf den Herbst. Die Unberechenbarkeit macht mürbe. „Pläne mache ich nur bis morgen, die weitere Zukunft ist vollkommen ungewiss“, sagen viele, Frauen wie Männer, wie aus einem Mund.

Das allgegenwärtige „Z“

An der Bushaltestelle gegenüber dem russischen Außenministerium prangt das Z, eine Art neue Swastika, die die Un­ter­stüt­ze­r*in­nen der sogenannten militärischen Spezialoperation sich aufs Auto kleben, aufs T-Shirt bügeln, als Reklame auf ihre Produkte drucken lassen. „Für Russland“, steht da, „für die Kinder des Donbass“. Die Reklametafeln quer durch die Stadt zeigen die Köpfe derer, die in der Ukraine im Einsatz sind, die gefallen sind. „Ehre den Helden Russlands“, steht es weiß auf hellblau. „Uns gelingt alles“, heißt es auf anderen Plakaten, darauf ein Militärflugzeug und ein Z in Schwarz-Orange. In den Souvenirshops finden sich neben bunten ­Matrjoschkas auch dunkle T-Shirts mit hellem Z, 699 Rubel das Stück, umgerechnet etwa 12 Euro. „Sie gehen nicht besonders gut“, sagt die Verkäuferin auf der Straße ­Alter ­Arbat und dreht sich weg.

Auf manchen Bäumen oder Bauzäunen in der ganzen Stadt hängen grüne Bändchen. Als Zeichen gegen den Krieg. Im Setun-Park im Westen Moskaus, einer naturbelassenen Gegend, in der die vielen Biber die Bäume anfressen, hat jemand Friedenszeichen auf den Weg gemalt und in vielen Sprachen das Wort Frieden geschrieben: mir, peace, pace, paix, schalom.

Auf einer Bank in einer Grünanlage, nicht weit von der Prachtmeile Neuer Arbat entfernt, liegt ein postkartengroßer Zettel in Blau-Gelb, den Farben der Ukraine. „Ich habe Verwandte dort“, steht darauf. Irgendjemand sprüht Friedenstauben auf den Asphalt, irgendjemand schreibt mit einem schwarzen Edding „Nein zum Krieg“ auf ein Geländer. „Passt auf die Kameras in der Nähe auf“, rät die Demokratiebewegung Wesna (Frühling) in ihrer „Anleitung zum Widerstand“ und sammelt mittels eines Telegram-Bots Bilder solchen kaum sichtbaren Protests, der zeigen soll, dass nicht alle im Land damit einverstanden sind, was ihr Präsident tut, auch wenn die Umfragewerte eine Zustimmung von fast 60 Prozent sehen, manche auch von 75 Prozent.

Den sicht- und hörbaren Protest erstickt der Staat. Der Moskauer Kommunalpolitiker Alexei Gorinow muss für das Wort Krieg für sieben Jahre ins Gefängnis. Auf einer Ratssitzung seines Stadtteils Krasnoselski im Nordosten Moskaus hatte er sich skeptisch gezeigt: Ein Kindermalwettbewerb, während in der Ukraine Menschen sterben? Die Sitzung wurde wie so viele andere Sitzungen russischer Po­li­ti­ke­r*in­nen im Netz übertragen. Die Richterin bezeichnete seine Aussagen als „Irreführung der Russinnen und Russen“, Gorinow habe seinen Landsleuten „Angst und Schrecken“ eingejagt.

Auch Ilja Jaschin, einem der letzten russischen Oppositionspolitiker, die noch im Land geblieben waren, drohen mehrere Jahre Haft. Der 39-Jährige, der einst Schulter an Schulter mit Alexei ­Nawalny, dem Vergifteten, und Boris Nemzow, dem Ermordeten, für ein anderes Russland auf die Straße gegangen war, ließ es sich auch nach dem 24. Februar nicht nehmen, seine Meinung zu sagen. Er verurteilte den Krieg, er informierte über die Verbrechen in dem Kiewer Vorort Butscha. Er sagte es laut, und er sagte es immer wieder. Bei einem abendlichen Spaziergang mit seiner Freundin hatten ihn Polizisten schließlich abgeführt. Nach 15 Tagen Arrest behielt ihn die Justiz in der Zelle. Für wie lange? Das weiß niemand im Land.

Ilja Jaschin, Oppositionspolitiker

„Ich wusste genau, dass ich verhaftet werden würde. Das wussten alle. Ich will nicht weglaufen und mich vor denen verstecken, die ich verachte“

„Ich wusste genau, dass ich verhaftet werden würde. Das wussten alle. Ich will nicht weglaufen und mich vor denen verstecken, die ich verachte. Um aus der Finsternis auszubrechen, müssen wir einen Preis bezahlen. Manche mit dem Tod, viele mit persönlicher Freiheit. Als der Krieg begann, versprach ich, nicht wegzulaufen. Ich habe mein Wort gehalten“, sagte der Moskauer vor Gericht. Er lässt sich nicht einschüchtern, er zahlt diesen Preis. Er gehört zu den ganz wenigen im Land, die die staatlichen Schikanen auf sich nehmen. Seit Jahren. Die meisten halten sich aus Passivität an die Position der Machtelite, stimmen ihr still und leise zu. Sprechen, hinterfragen, Kritik üben – das alles ist nicht gefragt in einem Land, in dem mit allen Mitteln die Meinungen gleichgeschaltet werden.

Dass die Sanktionen ihr Leben trüben, dass sie die Menschen aus dem geschlossenen Kreis nicht einmal mehr ausbrechen lassen, weil ein Flug ins Ausland – selbst ohne Visum – horrend viel kostet, das stört die wenigsten. Es sorgt vielmehr für die Konsolidierung des Kremls. „Soll doch dieser Westen! Wir lassen uns nicht in die Knie zwingen!“, schreien die Hetzköpfe im Staatsfernsehen, wiederholen die Menschen auf der Straße. Das Papier fehlt? Die Helligkeit der weißen Farbe sei ohnehin schädlich für die Augen, ließ der Minister für Industrie und Handel verlautbaren. In den Ex-McDonald’s-Filialen – der neue Name „Lecker und Punkt“ will den Rus­s*in­nen nicht über die Lippen gehen, auch die Beschilderung über den Schnellrestaurants ist seit Wochen nicht angebracht – fehlen bald Kartoffeln für die Pommes frites? Die Kartoffelernte sei dieses Jahr eben schlecht ausgefallen, sagen die neuen Betreiber; das Essen sei ohnehin ungesund, meldet sich das Gesundheitsamt prompt.

Artjom, der seinen Nachnamen nicht nennen will, sitzt derweil am Fenster der einstigen US-Fastfoodkette in der Nähe des Kiewer Bahnhofs am westlichen Zentrumsrand Moskaus und ­frühstückt. Zu Hause sei es nicht auszuhalten, die Eltern stritten sich ständig „wegen der Ereignisse“, wie er sagt. Viele in Russland sprechen so, um das Wort Krieg nicht verwenden zu müssen. „Wir sind alle so aggressiv geworden, lassen niemanden mehr zu Wort kommen, hören uns den Standpunkt des anderen kaum mehr an. Keine ­Ahnung, wohin das alles führt. Zu nichts Gutem“, sagt der Student und nippt an seinem Kaffee.

Eigentlich wollte er mal ins Ausland, nach Tschechien oder Polen, ein Semester studieren. Oder zwei. „Alles verschlossen. Man ist verdammt hierzubleiben. Man ist verdammt, sich anzupassen, wenn man überleben will.“ Die Autos an der achtspurigen Straße hupen, die Menschen eilen zur Metro. Aus dem Brunnen um die Ecke erklingt klassische Musik.

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