Hartes Urteil gegen Kreml-Kritiker: Achteinhalb Jahre für Ilja Jaschin

Weil er über die russischen Gräueltaten im ukrainischen Butscha berichtete, verurteilt ein Moskauer Gericht den Oppositionellen Ilja Jaschin.

Der Oppositionelle Ilja Jaschin vor Gericht

Der Oppositionelle Ilja Jaschin vor Gericht in Moskau am 9. Dezember Foto: Yuri Kochetkov/reuters

MOSKAU taz | Der Prozess zum angeblichen Vergehen des russischen Oppositionspolitikers Ilja Jaschin verläuft so, wie das russische Justizsystem ist. Chaotisch und völlig undurchsichtig. Immer wieder verschieben sich die Sitzungen. Die Verhandlungsräume werden geändert. Es gibt Bombendrohungen, das Gerichtsgebäude wird evakuiert. Jaschin wird gebracht und wieder abgeführt, seine Un­ter­stüt­ze­r*in­nen harren im Schnee im Moskauer Norden aus.

Schließlich liest die Richterin eine Stunde lang gehetzt aus dem Protokoll und sagt: „Die Schuld Jaschins ist gänzlich bewiesen.“ Wegen „Falschaussagen“ über Butscha, die ukrainische Stadt, in der nach Abzug der russischen Armee Massengräber, hingerichtete Zivilisten und Folterkammern gefunden worden waren, muss der 39-jährige Moskauer Ex-Kommunalabgeordnete für achteineinhalb Jahre in die Strafkolonie, ein halbes Jahr weniger, als die Staatsanwaltschaft gefordert hatte.

Das Urteil gegen Jaschin ist auch ein Urteil darüber, wie in Russland über die Kriegsgräuel der russischen Armee in der Ukraine gedacht und berichtet werden darf: Gar nicht. „Russland führt in der Ukraine keinen Krieg“, sagt die Richterin Oxana Gorjunowa und bestätigt die Aussagen der Staatsanwaltschaft, Jaschin habe aus „politischem Abscheu“ eine „reale Gefahr für die Verbreitung eines negativen Bildes über die russische Armee“ geschaffen. Der Moskauer steht derweil im hellen Strickpulli im Glaskäfig des Gerichts und macht lächelnd Victory-Zeichen. Auch nach diesem Schuldspruch gibt sich der Politiker unverdrossen optimistisch. Russland werde frei und glücklich sein.

Ilja Jaschin hatte im April in seinem YouTube-Kanal über die Morde an Zivilisten in Butscha informiert, die kurz zuvor bekannt geworden waren. In journalistischer Manier berichtete er über die Gräueltaten, legte die Versionen der Uno dar, der Ukraine, auch die des russischen Verteidigungsministeriums, das bis heute davon spricht, es seien Schauspieler gewesen, die entlang der Straßen von Butscha Tote gespielt hätten. Verbrechen der eigenen Armee will Russland nicht akzeptieren und verbreitet weiterhin die Mär, Russland „befreie“ die Ukraine von „Nazis“.

Jaschin hatte schon lang mit der Inhaftierung gerechnet

Jaschin hatte bereits 2012 immer wieder gemahnt, Putins Unmut der Ukraine gegenüber werde zu nichts Gutem führen. Damals hatte er, an Seite von Alexei Nawalny und Boris Nemzow, wochenlang Straßenproteste in Moskau angeführt. Hunderttausende Menschen waren immer wieder gekommen, um gegen die offensichtlich manipulierte Parlamentswahl von 2011 zu demonstrieren. „Russland ohne Putin“, hatten sie laut skandiert. Putin trat im Mai 2012 erneut den Posten des Präsidenten an, die Repressionen gegen Unzufriedene wurden direkt danach härter.

Nemzow wurde 2015 an einer Brücke in Sichtnähe des Kremls ermordet, Nawalny 2020 mit dem Nervenstoff Nowitschok vergiftet. Er überlebte den Anschlag und kehrte 2021 nach Russland zurück, wo er seitdem in Strafkolonien einsitzt. Mittlerweile darf er nicht einmal mehr Briefe an seine Familie schreiben. Auch Jaschin ist ein Ungebrochener.

„Gleich nach dem 24. Februar, als Russland die Ukraine überfiel, ging ich zum Zahnarzt. Im Gefängnis kümmert sich niemand um deine Zähne“, erzählte er in einem Interview kurz vor seiner Festnahme im Sommer dieses Jahres. Er lebe seit Jahren in Wartestellung, seit Februar nur noch mehr, sagte er. Einer Art Erwartung, dass jeder Tag sein letzter in Freiheit sein könnte. „Ich habe Angst vorm Gefängnis, natürlich, aber ich wollte nie aus meinem Land weg.“

Viele oppositionell eingestellte Rus­s*in­nen haben spätestens seit Februar Russland verlassen. Auch Jaschin sei mehrfach angedeutet worden, er solle verschwinden. Eine „Einladung zur Emigration“, nennt er die Festnahmen seiner Mitstreiter*innen, die Gefängnisstrafe seines Abgeordnetenkollegen Alexei Gorinow, der ebenfalls wegen „Diskreditierung der russischen Armee“ im Juli für sieben Jahre Haft verurteilt worden war.

Er, so betonte Jaschin bereits Jahre zuvor, so sagt er es auch heute, handle nach dem Motto: „Mach, was nötig ist, und komme, was kommt.“ Die Haft werde zu Ende gehen, seine Selbstachtung aber bleiben, sagte Jaschin immer wieder. Durch das kafkaeske Urteil vom Freitag verlieren Russlands Andersdenkende einen Standhaften, der seine Mission stets darin sah, die Wahrheit zu sagen.

Einmal zahlen
.

Fehler auf taz.de entdeckt?

Wir freuen uns über eine Mail an fehlerhinweis@taz.de!

Inhaltliches Feedback?

Gerne als Leser*innenkommentar unter dem Text auf taz.de oder über das Kontaktformular.

Wir alle wollen angesichts dessen, was mit der Ukraine derzeit geschieht, nicht tatenlos zusehen. Doch wie soll mensch von Deutschland aus helfen? Unsere Ukraine-Soli-Liste bietet Ihnen einige Ansätze fürs eigene Aktivwerden.

▶ Die Liste finden Sie unter taz.de/ukrainesoli

Bitte registrieren Sie sich und halten Sie sich an unsere Netiquette.

Haben Sie Probleme beim Kommentieren oder Registrieren?

Dann mailen Sie uns bitte an kommune@taz.de.