Politologe zu Putins Kriegszielen: „Er will den russischen Volksstaat“

Putins Kriegsziel ist ein ethnisch einheitliches Russland. Das ist die These des Politologen Ivan Krastev, der den russischen Präsidenten kennt.

Ein Wagen fährt durch eine im Krieg vollkommen zerstörte Straße

Russische Zerstörungswut, hier in der Region Donezk, Juni 2022 Foto: Gleb Garanich/reuters

taz: Herr Krastev, Putin hat den Krieg anfangs als Strafaktion gegen Nazis und Völkermörder verkauft. Jetzt bringt er die Eroberungsfeldzüge von Peter dem Großen ins Spiel. Ist das ein neues Narrativ, geht es um Territo­rial­gewinn?

Ivan Krastev: Ich denke, wenn die russischen Truppen volle Kontrolle über Luhansk und Donezk gewonnen haben, sollen diese Gebiete von der Russischen Föderation annektiert werden. Darauf bereitet Putin die Welt vor. Gleichzeitig wird sich wohl auch Südossetien der Föderation anschließen. Dann kann Putin einen Sieg reklamieren.

Was ist ein Sieg?

Der Krieg begann mit einem Angriff auf Kiew und Charkiw. Jetzt geht es um den Donbass und im Süden einen Korridor zur Krim. Es war viel davon die Rede, dass Putin die Sowjet­union wiederherstellen will. Das glaube ich nicht. Wenn man sich Putins Rede vom 22. Februar über die Anerkennung der „unabhängigen Republiken“ anhört, dann klingt er wie ein General der Weißen Garden aus dem Bürgerkrieg.

geboren 1965 im bulgarischen Lukovit, ist Politologe und Vorsitzender des Centre for Liberal Strategies in Sofia und Permanent Fellow am Institutfür die Wissenschaften vom Menschen in Wien. Seit 2015 schreibt er Analysen für die internationale Ausgabe der „New York Times“. Er ist Co-Autor des 2019 erschie­nenen Buchs „Das Licht, das erlosch“, in dem untersucht wird, warum die liberale Demokratie westlichen Zuschnitts in vielen osteuro­päischen Staaten nicht angekommen ist.

Es ging um einen ethnisch russischen Staat. Er sprach von Russen als den zahlreichsten Opfern des Sowjet­regimes und dass die Ukrai­ne von Lenin besetzt wurde. Hier geht es nicht um die Restauration eines Imperiums, sondern um die Umwandlung der Russischen Föderation in einen klassischen Nationalstaat.

Was bedeutet das für die asia­tischen Völker?

Die Ironie dabei ist, dass diese Völker, Tschetschenen und andere, in Donezk und Luhansk für Russland gegen die Ukrai­ner kämpfen, die sich laut Putin als Russen bekennen sollten. Das ist kein sowjetischer Diskurs. Wenn Putin über die russische Welt spricht, dann meint er auch Russischsprachige außerhalb der Föderation.

Dieses Denken wird sich auf den Stellenwert der russischen Sprache in der Zukunft auswirken. In der Ukrai­ne gab es viele Menschen, die Russisch sprechen. Vor ein paar Jahren habe ich in Buchgeschäften in Kiew mehr russische als ukrainische Literatur gefunden. Das wird sich dramatisch ändern, denn der Gebrauch der russischen Sprache ist heute ein politisches Statement.

Die Auswirkungen werden aber weit größer sein. Nach der bolschewistischen Revolution hat die Linke in aller Welt Russisch als die Sprache der Revolution gesehen. Das war ein Motiv für viele, Russisch zu lernen. Wer jetzt sieht, was Putin der Ukrai­ne antut, wird diese Motivation nicht haben.

Was wird sich noch ändern?

Die sowjetische Identität basierte nicht auf der kommunistischen Ideologie, sondern auf der gemeinsamen Erfahrung des Zweiten Weltkriegs. Deswegen hat Putin als Kriegsgrund die Entnazifizierung bemüht. Wenn er aber gleichzeitig ukrai­ni­sche Städte zerstört, wie sie im Zweiten Weltkrieg zerstört wurden, wird kein russischer Anführer mehr so wie bisher den sowjetischen Sieg über Nazideutschland in Erinnerung rufen können.

Kann die Russifizierung der eroberten Gebiete dann überhaupt erfolgreich sein?

Im letzten Monat haben wir in den besetzten Gebieten einen beginnenden Guerillakrieg gesehen. Am 13. Juni berichteten russische Medien über einen Bombenanschlag im russisch kontrollierten Melitopol. Noch interessanter ist aber, dass große Teile der russischsprachigen Bevölkerung aus der Ukraine ins Innere Russlands verschleppt werden. Es gibt Berichte über Transporte von 150.000 Kindern, mehrheitlich Waisen. Die russische Regierung hat es für russische Paare einfacher gemacht, Kinder aus der Ukraine zu adoptieren.

Was ist die Strategie dahinter?

Putin war immer empfindlich, was demografische Entwicklungen betrifft. Russlands Bevölkerung schrumpft. Das begann in den 1990er Jahren, als die Lebenserwartung – vor allem der Männer mit 64 Jahren – afrikanisches Niveau erreichte. Verschärft wird das durch Alkoholismus und Probleme im Gesundheitssystem. Covid hat für 1 Million zusätzliche Sterbefälle gesorgt, und die Geburtenrate sinkt. Es ist die Rede von 1 Million Menschen, die zum Teil tief in den russischen Osten, selbst nach Sibirien verschleppt wurden.

Es geht also auch um demografische Fragen.

Putin machte sich Sorgen über die abnehmende slawische Bevölkerung. Das ist auch der Grund für die De-facto-Annexion von Belarus. Es geht also nicht nur um Territorium. Nicht vergessen sollte man auch, dass der Wiederaufbau im Donbass unter einem von Sanktionen betroffenen Russland extrem mühsam sein wird.

Am 12. Juni hat der stellvertretende Chef der Präsidialverwaltung Sergei Kirijenko gesagt, dass der Wiederaufbau des Donbass notwendig ist, auch wenn dadurch der Lebensstandard in Russland sinken sollte. Diese Aussage wurde dann sehr schnell aus allen Medien entfernt. Ich glaube also, dass die demografische Frage von entscheidender Bedeutung ist.

Sprechen wir von einem russischen Projekt oder von Putins Projekt?

Präsident Putin hat kein Vertrauen in seine möglichen Nachfolger, ohne dass ich jetzt sagen könnte, wer das ist. Das verwundert nicht, wenn man die russische und sowjetische Geschichte der letzten 100 Jahre betrachtet.

Warum nicht?

Das Vermächtnis der großen Zaren und Sowjet-Generalsekretäre wurde jeweils von den Nachfolgern konterkariert. Nach Stalin war das besonders extrem – und natürlich mit Gorbatschow nach Breschnew. Auch Putin hat mit Jelzins Erbe radikal aufgeräumt. Die Angst, dass ihm das auch passieren kann, ist meiner Meinung nach einer der Gründe, warum er in seiner Lebenszeit alles erledigen will. Die Neupositionierung gegenüber dem Westen ist etwas, was sehr, sehr schwer rückgängig zu machen sein wird. Kürzlich habe ich einen sehr hohen russischen Funktionär gefragt, wer die Berater sind, auf die Putin hört. Er hat gesagt: Iwan der Schreckliche, Katharina die Große und Peter der Große.

Was müssen wir mehr fürchten: einen Sieg oder eine Niederlage Putins?

Russland ist eine Atommacht. Deswegen wissen wir nicht so genau, was Niederlage heißt. Eine Siegesparade im eroberten Moskau sicher nicht.

Ein kompletter Rückzug aus den besetzten Gebieten.

Für die Ukrainer ist das eine wichtige Frage, denn Putin war immer ein Experte für Demütigungen. Dabei hat er etwas übersehen. Der heftige Widerstand der Ukraine gegen die Invasion ist gewissermaßen eine Reaktion auf die Demütigung, die die Ukraine erfahren hat, weil sie sich 2014 gegen die Invasion der Krim nicht gewehrt hat. Es waren rund 20.000 ukrai­ni­sche Soldaten dort stationiert, aber die Armee war total demoralisiert. Russland konnte also die Krim annektieren, ohne einen einzigen Soldaten zu verlieren.

Deswegen ist es heute so wichtig für die Ukraine, die Rückeroberung aller verlorenen Gebiete als Ziel zu definieren. Für den Westen bedeutet eine Niederlage Russlands, dass Putin oder das autoritäre Russland keinen weiteren Krieg auf europäischem Boden mehr führen kann. Wir sprechen von einem konventionellen Krieg, keinem Atomkrieg.

Für Putin ist es schwieriger, einen Sieg zu definieren. Die Annexion des Donbass um den Preis von mehr als 30.000 russischen Leben und Wirtschaftssanktionen, die das Land weiter isolieren?

Wie wird Russland nach dem Krieg aussehen?

Schwierig zu sagen, weil Post-War-Russland noch immer von Putin regiert werden wird. Die Hinwendung zum asiatischen Raum wird stärker werden. In den letzten 20 Jahren hat sich Russland von einem prowestlichen Staat in einen antiwestlichen verwandelt, aber die russische Gesellschaft ist stark verwestlicht. 10 Millionen Russen reisen jedes Jahr nach Europa. Das sind nicht nur die Oligarchen, sondern das ist der Mittelstand. Deren Leben ist jetzt aus den Fugen.

Es gibt da diesen russischen Rockstar, der in einem seiner neuesten Lieder singt: „Wir beginnen gerade zu verstehen, wie gut wir doch gelebt haben, als wir vor dem Krieg dachten, wir leben schlecht.“

Die russische Armee besteht dagegen zu einem guten Teil aus Soldaten aus dem Inneren des Landes, aus ethnischen Minderheiten, die höhere Geburtenraten haben. Viele sind verschuldet und wollen die Schulden mit dem Kriegsdienst tilgen. Diese Leute beginnen jetzt plötzlich, ihre eigene Identität zu entdecken, Tataren, Menschen aus dem Altai und andere.

Dann ist da noch der generationelle Aspekt. Die Leute, die jetzt an der Macht sind, gehören zur letzten sowjetischen Generation. Sie haben den Zusammenbruch der Sowjetunion noch bewusst miterlebt und akzeptieren ihn nicht. Aber für die Generation der 25- bis 30-Jährigen war die Ukrai­ne immer schon Ausland. Sie reisen eher nach Istanbul als nach Kiew.

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