Katja Petrowskaja über den Ukrainekrieg: „Ich bin keine geborene Kämpferin“

Ein Gespräch mit der Schriftstellerin Katja Petrowskaja über die Kraft der Bilder und warum sie das Russische nicht Putin überlassen will.

Katja Petrowskaja, ukrainisch-deutsche Schriftstellerin, Literaturwissenschaftlerin und Journalistin

Katja Petrowskaja, ukrainisch-deutsche Schriftstellerin, Literaturwissenschaftlerin und Journalistin Foto: Stefanie Loos

taz am wochenende: Frau Petrowskaja, „Das Foto schaute mich an“ heißt Ihr neues Buch. Für Sie ist ein Foto offenbar mehr als etwas Passives, das man betrachten kann.

Katja Petrowskaja: Betrachtung ist eine Tat, eine Haltung, ein Dialog. Die Fotos werfen Fragen auf. Viele Fotos sind Zeugnisse oder legen Zeugnis ab. Als solche geben sie immer Anlass für eine Frage, eine Erinnerung oder eine Geschichte.

wurde 1970 in Kiew geboren und lebt seit 1999 in Berlin. Mit ihrem Roman „Vielleicht Esther“ wurde sie 2014 sehr bekannt. Für die Frankfurter Allgemeine Sonntags­zeitung schreibt sie eine Fotokolumne, deren Texte nun gesammelt als Buch bei Suhrkamp erschienen sind (256 Seiten, 25 Euro). Sie selbst, verriet sie unserem Autor, wird eigentlich ungern fotografiert. Mit Balzac teile sie die Angst, „dass beim Fotografieren nicht nur etwas festgehalten wird, sondern auch etwas verloren geht. Als wäre es ein Verlust der Unschuld und unserer flüchtigen Existenz.“

Momentan zeugen viele Bilder von unerträglichen Grausamkeiten – in Irpin, Butscha, Charkiw oder Mariupol. Wie nah gehen Ihnen diese Bilder?

Ich kann sie nicht vergessen. Sie stecken wie Bombensplitter in mir. Krieg ruiniert unsere Welt, auch unsere innere. Es fällt mir schwer, diese Bilder anzuschauen, aber es ist unmöglich, es nicht zu tun, selbst wenn sie mit einer Warnung vor verstörenden Inhalten versehen sind. Diese Fotos machen Zeugen aus uns, gnadenlos. Mit dem Anschauen nehmen wir dieses unfassbare Geschehen in unsere Realität auf. Ich darf und kann mich nicht abwenden.

Gibt es ein Bild, das für Sie diesen Krieg mit all seinen schrecklichen Folgen ikonisch abbildet?

Das, was gerade passiert, ist eine vielfältige Tragödie, sie ist unreduzierbar. Ich würde deshalb kein Bild zur Ikone erklären. Jedes einzelne Bild spricht für sich und bildet einen Teil der Kriegschronik und des Widerstands ab. Sei es eine Katze in einer Ruine oder ein Professor, der seine Vorlesungen im Schützengraben hält. Die Gesichter der Kämpfer in Asowstal, die Stadt Mariupol, die wie Stalingrad 1944 aussieht, oder der Friedhof in Irpin, der das ganze Bild bis zum Horizont einnimmt. Die Menschen auf den Bahnhöfen, Kinder in Schutzkellern oder U-Bahnen. Und ja, die Leichen mit auf dem Rücken gefesselten Händen in den Vororten meiner Heimatstadt Kiew.

Dieser Text stammt aus der taz am wochenende. Immer ab Samstag am Kiosk, im eKiosk oder gleich im Wochenendabo. Und bei Facebook und Twitter.

Wie sind Ihre Texte entstanden?

Es waren ganz unterschiedliche Begegnungen mit den Bildern, manchmal flüchtig und leicht. Die Bilder sind aus Zeitungen, Familienarchiven, Ausstellungen und von Flohmärkten, aus den Händen meiner Freunde oder aus dem Internet. Alle haben sich mir in irgendeiner Form aufgedrängt, Zufälle haben mich oft zu ihnen geführt. Und Zufall schmeckt nach Freiheit.

Ihr Buch beginnt mit dem Bild eines rauchenden Bergmanns aus der Ostukraine.

Es war tatsächlich das erste Bild, über das ich geschrieben habe. Mein Buch handelt nicht vom Krieg, aber es ist von ihm gezeugt. Als ich vor acht Jahren meinen Roman „Vielleicht Esther“ beendete, der mit Kiew stark verbunden ist, waren bereits die Maidan-Proteste im Gange. Im Februar 2014 wurden in der Straße, in der ich geboren bin und in der der Roman endet, über einhundert Menschen getötet. Die Geschichte hatte mich eingeholt.

Dann folgte die Annexion der Krim durch Russland, der Krieg in der Ostukraine und ein abgeschossenes Passagierflugzeug. Der Westen tat nichts und ich hatte das Gefühl, wir werden ganz alleingelassen. Ich war damals völlig sprachlos, und dann habe ich dieses Bild gesehen. Es wurde von Yevgenia Belorusets gemacht, eine meiner engsten Freundinnen. Es hat mich gepackt und nicht mehr losgelassen.

Warum?

Das Bild war ein Rätsel. Ich habe es nicht verstanden. Es zeigt einen rauchenden Bergarbeiter in der Grenzregion, der nicht weiß, wem er eigentlich begegnet, wenn er aus der Grube nach oben kommt. Nun begegnet er einer Fotografin. Er schaut auf sie, auf uns. Seine Augen sind mit Rauch bedeckt. Ist es Vorwurf? Verzweiflung? Wut?

Ich konnte das Bild nicht deuten. Wie auch diesen Krieg und unsere Ohnmacht nicht, den Tod der zahlreichen jungen Soldaten. Ich wusste nicht, wie ich mit diesem Krieg und der verlorenen Krim meiner Kindheit umgehen sollte, mit diesen Schmerzen. So sind diese Foto-Kolumnen entstanden, aus Unwissen und Unruhe.

Inwiefern unterscheidet sich der Blick auf private Fotografien vom Betrachten anderer Bilder?

Durch Schreiben macht man viele Fotos zu eigenen. Man adoptiert Bilder von anderen, konstruiert eigene Geschichten. Im Band gibt es Foto einer fremden Babuschka und ein Foto von den Menschen an der Berliner Mauer. Ich adoptiere die Babuschka und „erlebe“ die Geschichte an die Mauer. Das erste Foto im Band aus meinem Familienarchiv ist der zerstörte Maidan in Kiew aus dem Jahr 1943. Dieser Platz gehört zur Topografie meiner Kindheit.

Ich habe dann das Foto nach den Protesten im Winter 2013/2014 gesehen. Es war wie eine doppelte Belichtung der Geschichte. Das Zusammenspiel aus allem wirkte wie eine Art Rückkopplung. Ein anderes Bild war das Foto meiner Mutter als junge Frau im Bikini, die an einer Rauchwolke entlang läuft, ein Antonioni-Look. Ich hatte das Bild vorher noch nie gesehen. Ich war noch nicht geboren. Irgendwie war sie plötzlich ganz da auf dem Bild, so wie sie ist.

Ist das Bild am Ende stärker als die Sprache?

Nein, aber aus der Psychologie ist bekannt, dass wir mit Bildern viel einfacher zu beeinflussen sind als durch Worte. Bilder sind schneller und direkter. Wir leben in einer hektischen Gesellschaft und in ideologischen Zeiten. Auch deswegen nehmen sie viel mehr Platz ein.

Wie verändert sich durch diesen Krieg Ihr Bezug zur russischen Sprache?

Ich bin, wie viele Ukrainer, russischsprachig. Ich spreche zwar Ukrainisch, aber nicht so gut, wie ich möchte. Die Geschichte der ukrainischen Sprache ist mehr als tragisch. Sie wurde unterdrückt und erniedrigt, eine ganze Generation von Schriftstellern und Künstlern ist in den 30er Jahren getötet worden. Ukrainisch bekommt nun zu Recht mehr Raum. Ich lese viel mehr auf Ukrainisch als sonst, nicht nur Nachrichten. Ich habe dadurch das Gefühl, mehr bei meinen Freunden und Landsleuten in der Ukraine zu sein.

Aber wenn wir Russisch jetzt nur als Sprache des Imperiums betrachten, begehen wir einen bedauerlichen Fehler. Es ist auch die Sprache der Angegriffenen, die Sprache der Emigranten, die Sprache von Wassili Grossman und Warlam Schalamow. Diese Unterscheidung zu bewahren, ist mir wichtig. Denn ich bin nicht bereit, meine Muttersprache an Putin abzugeben.

Sie schreiben auch über den russischen Künstler Petr Pawlenski und seine Solidaritätsaktion für einen ukrainischen Regisseur. Sind Sie enttäuscht, dass heute solche Zeichen aus Russland fehlen?

In Russland fehlt unsere Erfahrung vom Maidan, als Menschen durch gemeinsame Anstrengungen die Macht errungen haben. Seit Jahren erleben Russen, dass Putin immer gewinnt. Ich weiß von Menschen, denen die Sicherheitskräfte bei den wenigen Protesten gegen den Krieg die Beine gebrochen haben oder die wegen ein paar Antikriegszetteln zu zehn Jahren Haft verurteilt wurden. Wem soll ich es also verübeln, nicht auf die Straße zu gehen? Hätte ich das selbst gewagt? Ich weiß es nicht.

Wie stehen Sie Aufforderungen, russische Kultur zu boykottieren, gegenüber?

Diese Forderungen sind eine Folge des Krieges und der Jahrzehnte, in denen die Ukraine kaum als eigenständiges Subjekt wahrgenommen wurde. Deshalb finde ich es richtig, der Ukraine und der ukrainischen Kultur mehr Raum zu geben. Ich lebe aber seit 20 Jahren im Ausland, wie viele andere Emigranten aus der Sowjetunion und Menschen, die Russland bewusst verlassen haben; Andersdenkende, Menschenrechtler und Künstler. Gemeinsam haben wir gegen den Krieg in der Ostukraine und die Annexion der Krim protestiert, deswegen gehe ich mit diesen Forderungen anders um. Warum sollte ich jetzt einen Kollegen boykottieren, der seit 20 Jahren schreibt, was von Putin zu erwarten war, nur weil er aus Russland kommt?

Was können Kunst, Kultur und Literatur heute denn beitragen außer offenen Briefen?

Alles! Kulturschaffende sind erst einmal ganz normale Menschen. Sie können helfen wie alle anderen auch. Sie können Flüchtlinge aufnehmen, Solidaritätsveranstaltungen machen oder Hilfsmittel organisieren. Sie können aber auch ihre Stimme nutzen und aufklären. Man muss allerdings die richtigen Worte finden. Ich habe gewagt, nach Butscha an den Bundespräsidenten einen Brief zu schreiben, um meiner Ohnmacht Ausdruck zu verleihen.

Katja Petrowskaja, „Das Foto schaute mich an“, Suhrkamp Verlag, Berlin 2022, 25 Euro

Fühlen Sie sich in eine Rolle gedrängt, die Sie sich nie ausgesucht haben?

Es ist ein sehr ambivalenter Zustand. Ich bin keine geborene Kämpferin. Aber ich konnte nicht anders, ich musste mich zu Wort melden. Aber es ist wirklich nicht einfach, im Krieg den eigenen Platz zu finden. Das ­Schreiben fällt mir schwer, ich finde oft die Worte nicht. Deshalb bin ich auch im Hintergrund aktiv. Das ist das Einzige, was ich gegen diese Ohnmacht tun kann: helfen, da, wo ich kann.

Haben Sie eine Idee, wie das künftige Verhältnis zwischen der Ukraine und Russland aussehen kann?

Es scheint mir heute zu luxuriös, darüber nachzudenken. Jetzt ist wichtig, Putins Regime zu bändigen und diesen schrecklichen Krieg zu beenden. Erst dann können wir über die Zukunft nachdenken. Was jetzt passiert, wird Generationen prägen.

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