Debatten mit Stimmen aus Russland: Jenseits von Hitler

Erinnern braucht Dialog mit den Russen, nicht mit Putins Propagandisten. Dafür muss sich der deutsche Blick weiten.

Hammer und Sichel und ein anderes Abzeichen sitzen an einem Tisch

Am Tisch mit Hammer und Sichel Illustration: Katja Gendikova

Der Anlass für diesen Text ist die Replik des taz-Autors Stefan Reinecke auf einen Beitrag von Julia Latynina – „Vom Kult des Sieges zum Kult des Krieges: Putin ist der zweite Stalin“. Reineckes Beitrag wurde unter dem Titel „9. Mai – Erinnerungskultur in Russland. Erinnern braucht Dialog“ veröffentlicht. In gewisser Weise ist dieser Titel bezeichnend. Denn allzu oft wurde in Deutschland in den vergangenen zwei Jahrzehnten der Begriff „russische Erinnerungskultur“ oft im Sinne von „Putins Erinnerungspolitik“ verwendet – also der quasi historischen Propaganda des Kremls. Ergo konzentrierte sich die Debatte auf eine Auseinandersetzung mit dieser staatlichen Position, die es zu verstehen, zu debattieren und zu berücksichtigen galt. Außen vor dabei bleibt oft, worum es Putin wirklich geht: um einen neostalinistischen Revisionismus der Geschichte des Zweiten Weltkriegs.

Dabei hätte der deutsch-russische Dialog auf diesem Gebiet seit 1999 in einer planvollen und systematischen Entlarvung einer neosowjetischen Ideologie, eines Sowjetchauvinismus, einer kompromisslosen Abwehr des Obskurantismus und der Relativierung kommunistischer Verbrechen bestehen sollen sowie einer breitest möglichen Beteiligung an der Debatte und Zusammenarbeit aller derjenigen, die dies in Russland oder auf Russisch tun.

In Wirklichkeit geschah das Gegenteil. Die Stimmen kritischer, liberaler und vom Staat unabhängiger Historiker wurden von dem Moskauer Regime nach und nach aus dem medialen Raum verdrängt, sie fanden jedoch auch keinen stärkeren Widerhall in Berlin. In allen möglichen russisch-deutschen Kommissionen, Organisationskomitees, auf Foren und Konferenzen sprachen im Namen des russischen Volks meist Politoffiziere, die sich mit akademischen Titeln schmücken.

Viele von ihnen sind in die Jahre gekommen – das heißt, sie haben das eine unter Breschnew und Andropow gesagt, das andere unter Gorba­tschow, das dritte unter Jelzin. Und jetzt berichten sie etwas Viertes, wobei die aktuelle Version ihrer Meinung der Position ähnelt, die sie in der ersten Hälfte der 1980er Jahre vertreten haben.

Zu wenig Aufmerksamkeit für Aleksandrow

2016 verteidigte der hoch angesehene und in Russland bekannte Historiker Kirill Aleksandrow, ein führender Experte für Andrei Wlassow (der General hatte mit Hitler gegen Stalin kollaboriert), seine Habilitation in St. Petersburg. Dies geschah unter heftigem und lautstarkem Druck, begleitet von Angriffen Putin’scher Medien sowie unterwürfiger „gesellschaftlicher“ Organisationen.

Ein Jahr später lehnte die höchste Prüfungskommission Russlands es ab, Aleksandrow den akademischen Grad zu verleihen. Informationen darüber gelangten auch in westliche, darunter deutsche Medien und verbreiteten sich darüber hinaus in der Fachwelt. Aleksandrow wurde dennoch in den vergangenen zwanzig Jahren zu keiner Konferenz, keinem Kolloquium oder Treffen in Deutschland eingeladen. Kein einziges deutsches Medium bat ihn, sich zu äußern – obwohl seine Forschung sich direkt auf die deutsche Geschichte bezieht.

Der Beitrag von Julia Latynina geht vor allem der Frage nach Stalins Expansionismus sowie seinen Kriegsabsichten nach. Diese herauszuarbeiten ist nicht nur von wissenschaftlichem Interesse, sondern dient auch dazu, einige Parallelen zu Putin zu erkennen und seine wahren Absichten auch in Deutschland besser zu verstehen. Das Ziel hierbei ist vor allem, den ideologischen Übergriffen des Kremls entgegenzutreten und so zu einer russischen Wende beizutragen.

Vielleicht könnte ein Teil der deutschen Fachwelt über folgende Frage nachdenken: Wenn das neosowjetische Regime so aggressiv ist, dass wegen seines Kriegs in der Ukraine jetzt der ganze Planet fiebert, könnte es dann vielleicht sein, dass auch die Sowjetunion kein Friedensstifter war und nicht von einem ängstlichen Paranoiker regiert wurde, sondern von einem kaltblütigen und listigen Zyniker, der nach der Weltmacht strebte?

Obwohl diese Tatsache in Russland und der Ukrai­ne bereits bekannt ist, weiß beispielsweise in Deutschland kaum jemand, dass Stalin 1942 bis 1953 auch einen Dritten Weltkrieg vorbereitete, um das zu Ende zu bringen, was ihm während des Zweiten Weltkriegs nicht gelungen war. Davon zeugen seine veröffentlichten Äußerungen, der Aufbau der sowjetischen Streitkräfte, Prioritäten bei der Waffenproduktion sowie weitere außenpolitische Schritte – darunter der Krieg in Korea.

In Polen, Tschechien, Litauen und Rumänien habe ich mittlerweile Beträge über die Vorbereitung der „roten Apokalypse“ in den dortigen führenden Zeitungen veröffentlichen können, im Westen jedoch – trotz etlicher Versuche – noch nicht. Die zentraleuropäischen Staaten werden von Putins Propagandisten als „russophob“ und von einem Teil der deutschen Fachwelt arrogant als „nationalistisch“ bezeichnet. Doch gerade sie geben liberalen russischen Historikern eine Stimme und der russischen Opposition eine Plattform – viel häufiger als Deutschland.

Beide von Russland angezettelten Kriege mit der Ukraine – 2014 und 2022 – haben zu einer Intensivierung der Debatten zwischen Ukrainern und Russen geführt. Zum Beispiel wurde ich zum ersten Mal in meinem Leben vom ukrainischen Fernsehen zu Liveauftritten eingeladen. Dabei ging es nicht um nichtssagende, warmherzige Erklärungen, sondern um aktuelle und knallharte Fragen: Sind die Gräueltaten in Butscha ein Völkermord? Warum tritt Deutschland manchmal als Anwalt von Wladimir Putin in der EU auf?

Am dritten Tag des Kriegs teilten ukrainische Behörden den Videobloggern im Land mit: „Eine Kehrtwende Richtung Russland! Wir unterstützen euch mit Informationen“. Mittlerweile kommen ukrainische Politiker, Staatsmänner und Experten gar nicht mehr aus den Youtube-­Kanälen russischer Kremlgegner heraus. Russische Oppositionelle, darunter auch Emigranten, sind in den vergangenen dreieinhalb Monaten bei wichtigen ukrainischen Medien Stammgäste.

Zweifellos hat Stefan Reineke recht: Putin ist nicht Stalin. Der jetzige Hausherr im Kreml kann und will nicht die Nato angreifen. Er beißt sich ja schon an der Ukraine die Zähne aus.

Doch am dritten Tag des Kriegs bewilligte die Bundesregierung für die Bundeswehr 100 Mil­liar­den Euro, worüber ich als Steuerzahler zutiefst empört bin. Wenn uns die deutsche Sicherheit in dieser Richtung am Herzen liegt, dann hätte dieses Geld vielleicht besser für Informations- und Aufklärungsaktivitäten ausgegeben werden sollen, die sich an Russland und auch an die in Deutschland lebenden russischen Auswanderer richten. Ein kremlunabhängiger russischer Fernsehsender, eine Zeitung, ein Magazin, ein Verlag, ein Forschungsinstitut und eine freie russische Universität – all das hätte in Deutschland schon vor mehr als zwanzig Jahren entstehen sollen, doch besser spät als nie.

Dialog mit der russischen Gesellschaft

Jetzt ist in Deutschland der Vorschlag eines akademischen Boykotts Russlands zu hören, obwohl die Kleptokratie in Moskau genau das will. Ihr Regime basiert auf einer schrittweisen Isolierung der Russen von der freien Welt. Deshalb muss ein Abbruch der Zusammenarbeit mit Putins Beamtenschaft – auch im historischen Bereich – gerade mit einer vielfachen Ausweitung und Intensivierung der Kontakte zur russischen Gesellschaft, auch zur Diaspora, einhergehen. In Zeiten des Internets hören auch immer mehr Menschen in Russland russischen Emigranten zu und werden das auch weiter tun.

Die deutsche Seite sollte auch diejenigen russischen Autorinnen und Autoren zum Dialog einladen, die sich mit der Beteiligung von Sowjetbürgern, einschließlich Russen, an sowjetischen Verbrechen, insbesondere Verbrechen gegen den Frieden, Angriffstaten sowie Kriegsverbrechen während des Zweiten Weltkriegs auseinandersetzen. Wenn der russisch-deutsche Dialog auf diese Art und Weise ausgebaut wird, dann löst sich die Voraussage, die Herr Reinecke geäußert hat, die Wahrheit über den Stalinismus könne zu einer Art „Relativierungsversuch“ Hitlers, zur Wiederbelebung „revisionistischer Legenden“ und überhaupt zu „NS-Parolen“ führen, in Luft auf.

Mit der brauen Messlatte

Es würde keinem klardenkenden russischen Autor in den Sinn kommen, Hitler auch nur indirekt zu verharmlosen. Noch nie habe ich von solchen russischen Spezialisten gehört, wahrscheinlich weil es sie nicht gibt. Die Erkenntnisse über die deutsche Schuld nehmen russische kritische beziehungsweise liberale Historiker genauso ernst wie Putins Propagandisten. Vielleicht sind Ausländer in deutschen Debatten eine Art natürliches Gegengewicht zu Versuchen der deutschen Rechten, die braunen Seiten der Vergangenheit weniger braun zu machen.

Erinnern wir uns daran, dass die übermäßige Fokussierung ausschließlich auf den Nationalsozialismus und die Bewertung aller Politiker der Welt der 1930er und 1940er Jahre mit einer braunen Messlatte eine der Manifestationen des Germano- und Eurozentrismus ist, zu dessen Anhängern übrigens auch Hitler gehörte – er war ein Versager.

Herr Reinecke liegt richtig, wenn er sagt, dass „die deutsche Erinnerungskultur manchmal auf selbstbezügliche Art auf den Holocaust zentriert ist“, was manchmal, wenn nicht zu einer Provinzialisierung, so doch zu einer Regionalisierung der deutschen Forschung führt. Das 21. Jahrhundert birgt die Chance, deutsche historische und öffentliche Debatten von regionalen – hitlerischen – hin auf globale und damit auch auf stalinsche Horizonte zu verschieben.

Aus dem Russischen: Barbara Oertel

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ist Militärhistoriker und lebt in Berlin. Website: gogun.org/de.

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