Ziviler Widerstand: Klimaaktivismus versus Querdenken

Das Wohl aller ist entscheidend für den zivilen Widerstand. Der Schaden muss überschaubar bleiben und Erfolg nicht völlig unwahrscheinlich.

Illustration - Sitzstreik mit drei Demonstranten vor einem Bus mit Paragraphensymbol

Die Gruppe „Letzte Generation“ meidet die Konfrontation mit dem Rechtsstaat nicht Illustration: Katja Gendikova

Die Organisation „Letzte Generation“ fordert den demokratischen Rechtsstaat heraus, indem sie Autobahnen sperrt, um auf Klimaschutz und Lebensmittelverschwendung aufmerksam zu machen. Gegen „normale“ Protestaktionen spricht, wie Mitglied Tobias März in der taz erklärt: „Damit bekommen wir nicht die nötige Aufmerksamkeit.“

Die Reaktionen sind vielfältig. Justizminister Marco Buschmann (FDP) schrieb bei Twitter: „Ziviler Ungehorsam ist im deutschen Recht weder Rechtfertigungs- noch Entschuldigungsgrund. Unangemeldete Demos auf Autobahnen sind und bleiben rechtswidrig.“

Was ist „ziviler Ungehorsam“ genau und wie weit ist er zu rechtfertigen? In der Philosophie wird spätestens seit der Zeit von John Locke (1632–1704) darüber nachgedacht. Locke war der Meinung, ungerechter und ungesetzlicher Gewalt dürfe man mit Gewalt begegnen. Aber ungesetzlich ist die Gewalt durch unseren Rechtsstaat nicht. Lockes Kriterium verweist auf den Konflikt Bürger versus Unrechtsstaat, also auf die Rechtfertigung von Bürgerkrieg und Revolution.

Das ist eine neue Frage, die sich etwa in Belarus stellt. Locke bringt uns aber auch bei der Frage nach gerechtfertigtem zivilem Ungehorsam voran, indem er zwei Punkte formuliert: Erstens wenn ich zur Vermeidung der Ungerechtigkeit das Gesetz nicht anrufen konnte, bin ich zum Widerstand ermächtigt. Zudem erkennt Locke zweitens, dass ziviler Ungehorsam als Motor für den Wandel des Rechts unerlässlich ist.

Ungehorsam als Motor für Wandel

Nur so kann das Recht sich gesellschaftlichen Erfordernissen anpassen, indem es durch Aktionen, die seine Grenzen, aber nicht seinen Geist verletzen, herausgefordert wird. Also ist ziviler Ungehorsam per se gesetzeswidrig, aber erwünscht, anders als Buschmann meint. Damit wissen wir schon mal: Ziviler Ungehorsam unterscheidet sich von Revolution. Es müssen ihm, pragmatisch abgewandelt, mindestens andere wirkungslose legale Versuche vorausgegangen sein, um das Recht fortzuentwickeln.

Ein zusätzliches Element, das in sehr vielen Definitionen des Begriffs eine Rolle spielt, ist das Folgende: Es muss eine Situation gegeben sein, in der der Rechtsstaat ein grundlegendes moralisches Prinzip wie die Wahrung der Menschenrechte, der Gerechtigkeit oder des Allgemeinwohls verletzt. Das wiederherzustellen, ist das Motiv des gerechtfertigten zivilen Ungehorsams.

Auch Hannah Arendt betonte, dass gerechtfertigter ziviler Ungehorsam nicht Ausnahmen aus den Gesetzen für Einzelne (zum Beispiel Kriminelle) bezweckt, sondern auf das Wohl aller zielt und deshalb auch öffentlich stattfindet. Die Aktionen der „Ungehorsamen“ sollen die Öffentlichkeit aufrütteln, werden nicht verheimlicht und sind prinzipiell von jedermann und nicht nur von einigen Cliquen ausführbar.

Damit wissen wir erneut mehr. Elementar ist, dass hier Stoff ist, um Klimaaktivismus von einigen Arten des Querdenkens und Trumpismus zu unterscheiden. Die Bewegungen haben vieles gemeinsam, etwa die Öffentlichkeit, sodass der Verdacht aufkommt, beides könnte gerechtfertigter ziviler Ungehorsam sein: Wenn Klimaaktivisten Recht verletzen dürfen, dürfen Querdenker das auch?

Querdenker zielen nicht auf das Allgemeinwohl

Nein, denn weder Rechtsradikalismus noch Trumpismus haben einen glaubwürdigen Bezug auf das Allgemeinwohl beziehungsweise die Menge des Wohlergehens in der Gesellschaft. Es geht ihnen darum, eine kleine Teilgruppe gegenüber anderen Gruppen der Gesellschaft zu bevorteilen und damit andere Teilgruppen zu benachteiligen. So gehen Proteste auf das Konto der Teile der Gesellschaft, die sich nicht gegen Ansteckung durch das Coronavirus schützen können.

Auch wenn die Rhetorik solcher Gruppen auf „Grundrechten für alle“ basiert und daher einen Allgemeinwohlbezug vortäuscht, muss man sich immer fragen: Wer wird durch die Proteste in welchem Maße geschädigt? Durch Klimaschutz niemand, durch ein Querdenken, das bewirkt, dass Schutzmaßnahmen vorzeitig enden, einige erheblich. Gleiches gilt für den Trumpismus und die AfD.

Es gilt, das Wohl einer kleinen Teilgruppe gegen andere Teilgruppen auszuspielen: „America first“, gemeint ist damit nicht die ganze Nation, sondern das „weiße“ Amerika. Zwar gibt es auch legitimen zivilen Ungehorsam von Minderheiten, die auf gleiche Anerkennung zielen, man denke nur an die Behindertenbewegung. Aber bei diesen Bewegungen gilt: Wenn ihre Ziele erreicht sind, wird deshalb niemand nennenswert schlechter gestellt sein.

Wie steht es nun mit dem etwa von dem amerikanischen Vordenker des Liberalismus John Rawls beschworenen Kriterium, dass gerechtfertigter ziviler Ungehorsam gewaltfrei sein muss und niemandem schaden darf? Gewalt ist durch die WHO definiert als „schädigende Ausübung von Macht“. Gewalt und Schädigung hängen also zusammen. Kein Protest ist ohne Schädigung möglich. Schaden entsteht immer, auch durch Worte, die psychische Lasten für andere bedeuten. Zudem ist Gewalt für manche Proteste unumgänglich.

Schaden entsteht immer

Hungerstreiks beinhalten Gewalt gegen sich selbst. „Containern“, also die Rettung von Lebensmitteln, die in Müllcontainern von Lebensmittelhändlern entsorgt werden, funktioniert nur, wenn man auf das Gelände der Händler vordringt und damit Hausfriedensbruch begeht. Dabei muss man sich im Normalfall gewaltsam Zutritt verschaffen, indem man Schlösser aufbricht. Nicht genehmigte Demonstrationen schaden dem Staat, denn sie zwingen ihn, sie zu beobachten oder aufzulösen.

Völlige Gewaltfreiheit von „Ungehorsamen“ ist etwas Unmögliches

Polizeikontingente müssen bereitstehen. Auch das ist eine Form von Schädigung, denn man zwingt den Staat dazu, Kosten zu tragen, die zulasten von irgendjemand oder irgendetwas gehen. Fordert man also völlige Gewaltfreiheit von „Ungehorsamen“, fordert man eigentlich etwas genau genommen Unmögliches. Besser sollte man fragen, welche Form und welches Maß von Gewalt und Schaden zulässig sind.

Schnell kommt einem die gängige Formel „Gewalt gegen Sachen ja, Gewalt gegen Personen nein“ in den Sinn, um hier zu differenzieren. Auch dieser Slogan ist jedoch nicht zu Ende gedacht. Gewalt gegen Sachen verursacht Kosten und Kosten müssen vom Staat oder vom Lebensmittelhändler oder von wem auch immer kompensiert werden. Wenn Millionenschäden im Lebensmittelhandel entstehen, wird dieser auch über Entlassung von Personal nachdenken.

Gewalt gegen Sachen und Schädigung von Personen hängen zusammen. Daher kann man nur fordern, dass Gewalt in ihrem Ausmaß minimiert wird: so wenig Gewalt wie möglich und keine Gewalt, die über eine gewisse Schadenssumme hinausgeht. Die tolerierbare Schadenssumme ist natürlich relativ zum Vermögen des Geschädigten. Schlösser bei Lebensmittelhändlern aufzubrechen, schädigt diese nicht nennenswert.

Polizeikontingente für Demonstrationen bereitzustellen, schädigt den Staat nicht nennenswert. Millionenschäden für einen Lebensmittelhändler bedeuten jedoch schon eine andere Dimension. Bleibt ein letztes Kriterium, um die Aktionen der „Letzten Generation“ zu bewerten. Ziviler Ungehorsam ist nur gerechtfertigt, wenn sein Erfolg nicht völlig unwahrscheinlich ist. Er kostet jedenfalls viel, sei es finanziell oder an Verunsicherung des Rechtsbewusstseins.

Deshalb muss er auch wahrscheinlich etwas bringen. Eine von manchen Aktivisten erwogene Revolution gegen unseren Staat, die ihn durch eine „Ökodiktatur“ ersetzen sollte, hätte keine Chance auf Erfolg. Es droht ineffektiver und zudem blutiger Widerstand wie zu Zeiten der Baader-Meinhof-Bande. Allein deshalb wäre der Versuch, eine Ökodiktatur zu errichten, nicht zu rechtfertigen.

Nun können wir die fraglichen Aktionen der Klimaaktivisten bewerten. Grundsätzlich handelt es sich dann um gerechtfertigten zivilen Ungehorsam, der auch Gesetze bricht, wenn er (anders als bei gerechtfertigten Revolutionen) gewaltarm ist. Er muss öffentlich geschehen, sein Ziel muss nachvollziehbar im Sinne des Wohls aller Menschen sein, ihm müssen rechtlich zulässige Aktionen erfolglos vorausgegangen sein und sein Ziel darf nicht wahrscheinlich unerreichbar sein.

Wenn man all diese Kriterien anwendet, sind gewaltarme Autobahnsperrungen prinzipiell zu rechtfertigen. Gewaltarm sind sie insbesondere, wenn sie zum Beispiel Rettungsgassen für Notfälle garantieren und sonstige nennenswerte Schädigungen von Personen ausschließen. Ob das gegeben ist, darüber streiten Veranstalter und Kritiker. Außerdem sind Schäden von betroffenen Autofahrern zwar verglichen mit dem Ziel „Klimaschutz“ im Einzelnen unbedeutend, sie häufen sich aber durch wiederholte Aktionen an.

Irgendwann wird die ohnehin eingeschränkte Erfolgswahrscheinlichkeit des Protests durch die vielen kleinen Schäden überwogen, die er verursacht. Einzelne gewaltarme Sperrungen halte ich also für zu rechtfertigen, gehäufte Sperrungen, wie wir sie derzeit erleben, verursachen zu viele Schäden. Sie erschöpfen das Medieninteresse und haben deshalb immer geringere Chancen, etwas zu verändern.

Aufseiten des Staates würde man erwarten, dass er bei gerechtfertigtem zivilem Ungehorsam seine Gesetze ständig überprüft. Und dass er sich beim Strafmaß für die Ahndung zurückhält. Der Umgang mit gerechtfertigtem zivilem Ungehorsam ist der Lackmustest für gereifte Demokratien und muss als notwendiges Element ihrer politischen Kultur angesehen werden.

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ist Professor für ­Philosophie und Wirtschafts­ethik und Autor. Zuletzt erschien „Mit kühlem Kopf. Über den Nutzen der Philo­sophie für die Klimadebatte“.

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